Arbeitszeitverkürzung gehört wieder auf die Tagesordnung. Anders sind große gesellschaftliche Probleme wie Massenarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung nicht zu lösen. Wir brauchen einen neuen Arbeitszeitstandard von etwa 30 Stunden pro Woche. Diese „kurze Vollzeit“ ist nicht statisch, sondern nach persönlichen und beruflichen Situationen variierbar (Erziehungszeiten, Projektarbeit, Weiterbildung etc.), muss aber im Durchschnitt pro Jahr erreicht werden.
Nach volkswirtschaftlichen Berechnungen ist mit dieser neuen Normalarbeitszeit Vollbeschäftigung wieder herstellbar. Diese „Vollbeschäftigung neuen Typs“ ist möglich und nötig, weil die Arbeitsproduktivität kontinuierlich steigt. Wir benötigen heute für die Herstellung notwendiger Güter nur noch etwa die Hälfte der Zeit wie im Jahr 1960; demgemäß ist das Arbeitsvolumen gesunken, während die Erwerbsbevölkerung gewachsen ist. Da 1960 regelmäßig 48 Stunden pro Woche gearbeitet wurde, könnte die Arbeitszeit heute sogar Richtung 20-Stunden-Woche tendieren.
Für Arbeitszeitverkürzung setzen sich Attac (AG ArbeitFairTeilen), die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, kirchliche ArbeitnehmerInnenorganisationen, Jugend-, Frauen- und Umweltgruppen sowie soziale Bewegungen ein. In einigen Teilen unseres Landes gibt es regionale Initiativen, die für dieses Ziel eintreten. Die Gewerkschaftstage von EVG, ver.di und IG Metall haben einen Neustart für die Debatte um Arbeitszeitverkürzung beschlossen und erste Tarifabschlüsse dazu erkämpft.
Dieser Neustart ist umfassend notwendig, um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschenzu verbessern, sie fair und sicher zu gestalten. Die Initiatorinnen und Initiatoren wissen um die großen Herausforderungen bei der Wiederbelebung und Durchsetzung der Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung. Gleichwohl:Wir wollen sie angehen – weil sie notwendig und vernünftig sind! Die Diskussion gehört in die Betriebe, die Gewerkschaftenund die Gesellschaft – weil wir unsere Zukunft lebenswert gestalten wollen.
Warum Arbeitszeitverkürzung dringend geboten ist
Wir haben in Deutschland zurzeit eine Arbeitslosigkeit nicht von 3 Millionen, wie von der Bundesregierung behauptet, sondern von mindestens 5 bis 6 Millionen: Realistisch müssen Ein-Euro-JobberInnen, jugendliche und ältere Langzeitarbeitslose, Arbeitslose in Weiterbildung, kranke Arbeitslose, die „stille Reserve“ derer, die sich nicht mehr arbeitslos melden und die große Zahl unfreiwillig in Teilzeit und geringfügig Beschäftigter zur offiziellen Zahl dazugerechnetwerden. Arbeitszeitverkürzung ist für die allermeisten dieser Menschen die Voraussetzung dafür, (wieder) in (ausreichende) Erwerbsarbeit zu kommen. Insbesondere für junge Menschen schafft Arbeitszeitverkürzung die Voraussetzungdafür, nach der Ausbildung übernommen zu werden. Auch dem (angeblichen) Fachkräftemangel wäre durch Arbeitszeitverkürzung statt durch Arbeitszeitverlängerung, wie von interessierter Seite behauptet, beizukommen: insbesondere Frauen, die den Spagat zwischen beruflicher Tätigkeit und häuslicher Erziehungs- und Pflegearbeit besser bewältigen wollen, könnten mit kürzeren Arbeitszeiten entsprechend ihren vielfältigen Qualifikationen für die Betriebegewonnen werden, ältere Beschäftigte können mit kürzeren Arbeitszeiten länger und gesünder im Arbeitsleben bleiben.Eine kürzere Normalarbeitszeit würde außerdem den prekär Beschäftigten in Minijobs und unfreiwilliger Teilzeit ermöglichen, ihre Arbeitszeit zu erhöhen. Befristet und in Leiharbeit Beschäftigte könnten übernommen und gleichbezahltwerden.
Zuviel Arbeit macht krank. Immer mehr Vollzeitbeschäftigte arbeiten über das verträgliche Maß hinaus – 50- bis 60-Stunden-Wochen und mehr sind in vielen Bereichen keine Ausnahme. Psychische Erkrankungen aufgrund vonArbeitsüberlastung sind inzwischen der häufigste Krankschreibungsgrund. Ab der 8. Arbeitsstunde nehmen berufsbedingte Erkrankungen und Arbeitsunfälle dramatisch zu. Erkrankungen wegen langer Arbeitszeiten stellen für die Krankenkassenund damit für die Versicherten eine enorme und wachsende finanzielle Belastung dar. Auch die beängstigende Zunahme des Burnout-Syndroms weist in diese Richtung. Aber nicht nur zu viel Arbeit macht krank. Keine Arbeit zu haben, birgt einnoch höheres Krankheitsrisiko. Arbeitslose sind drei- bis viermal so häufig psychisch krank wie Erwerbstätige.
Arbeitzeitverkürzung brauchen wir für die Gleichstellung von Frauen und Männern und für die Familien. Nur eine „kurze Vollzeit“ für alle anstelle langer Vollzeit für Männer und kurzer Teilzeit für Frauen eröffnet beiden Geschlechtern die Chance auf existenzsichernde und gleichberechtigte Teilhabe und Entwicklungsmöglichkeiten in der Erwerbsarbeit.Frauen in Minijobs und unfreiwilliger Teilzeit können ihre Arbeitszeit aufstocken, Männer können ihre Erwerbsarbeit reduzieren und haben mehr Zeit für Haus- und Sorgearbeit. Die „kurze Vollzeit“ für alle ist Voraussetzung für die geschlechtergerechte Aufteilung jeglicher Arbeit: Erwerbsarbeit, Hausarbeit, Erziehungs- und Pflegearbeit. Nur mit solchen kurzen Arbeitszeiten haben wir außerdem genug Zeit, Familien zu gründen und uns um Kinder wie um pflegebedürftige Angehörige in angemessener und würdiger Form zu kümmern. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, nicht nur eine tarifliche oder gewerkschaftliche Forderung.
Neben der Pflege von Beziehungen, von Kindern und Alten, brauchen wir kürzere Arbeitszeiten auch zur Pflege und Schonung der Natur. Arbeitszeitverkürzung ist die einzige Beschäftigung sichernde und Beschäftigungschaffende Alternative zu Wachstum, welches unser Klima, unsere Gesundheit und so unsere Lebensgrundlagen ruiniert.
Nicht zuletzt brauchen wir Arbeitszeitverkürzung, um außer für Erwerbsarbeit auch genug Zeit für Sorgearbeit, gesellschaftliches und politisches Engagement und kreative Selbstentfaltung zu haben, wie es z. B. im Konzept der Vier-in-Einem-Perspektive entwickelt ist. Politische Beteiligung braucht Zeit, die Vollzeitbeschäftigte oft nicht haben, während Arbeitslose durch Verlust von Zeitstruktur, Isolation und Schamgefühle behindert werden, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. Arbeitszeitverkürzung ist ein gutes Mittel gegen den oft beklagten Rückgang der politischen Beteiligung und Voraussetzung für die demokratische Kontrolle politischer Prozesse auf allen Ebenen.
Die Massenarbeitslosigkeit hat zu einer strukturellen Schwächung von Gewerkschaften beigetragen mit dem Ergebnis gesunkener Löhne, verlängerter Arbeitszeiten und der Ausdehnung prekärer Beschäftigung. Die verbreiteteAngst vor Arbeitslosigkeit und vor dem Abrutschen in Hartz IV lähmt Beschäftigte und Gewerkschaften und erzwang Konzessionsbereitschaft für „Arbeit um jeden Preis“. Jede/r Arbeitslose weniger, die/der durch Arbeitszeitverkürzung wieder in Beschäftigung kommt, stärkt die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, welche wiederum höhere Löhne und mehr Kaufkraft ermöglicht.
Bedingungen erfolgreicher Arbeitszeitverkürzung
Trotz all dieser guten Gründe für Arbeitszeitverkürzung stehen viele Beschäftigte der Arbeitszeitverkürzung skeptisch gegenüber. Sie haben in den letzten Jahren die Erfahrung von Reallohnverlusten gemacht und fürchten beiArbeitszeitverkürzung weitere Einkommenseinbußen. Teilzeitarbeit nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, Arbeitszeitverkürzung (Kurzarbeit) in Krisenzeiten mit Lohnverlust bilden dafür den Erfahrungshintergrund. Reallohnverluste undder enorm gewachsene Niedriglohnsektor führen dazu, dass viele Beschäftigte nur mit Überstunden über die Runden kommen. Deshalb ist Arbeitszeitverkürzung nur mit Lohnausgleich machbar. Rein rechnerisch ist ein voller Lohnausgleichfür alle realisierbar und anzustreben, für die unteren Einkommensgruppen ist er unabdingbar. Gleichzeitig würden durch Arbeitszeitverkürzung und die dadurch möglichen Neueinstellungen die enormen Kosten der Arbeitslosigkeit drastisch gesenkt. Diese Kosten betragen jährlich ca. 58 Milliarden Euro nach Berechnungen des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Darin enthalten: Arbeitslosengeld I und II, Steuerausfälleund Ausfälle bei den Sozialbeiträgen. Noch nicht enthalten sind die Folgekosten von Arbeitslosigkeit durch Krankheit, soziale Isolation etc. Durch einen Bonus bei Steuern und/oder Sozialversicherungsbeiträgen für durchschnittlich kürzere Arbeitszeiten bzw. einen entsprechenden Malus bei längeren Arbeitszeiten/Überstunden könnte ein diese Folgekosten minimierender Anreiz für kürzere Arbeitszeiten gesetzt werden.
Ein weiterer Grund für die Skepsis vieler Beschäftigter ist die Befürchtung von weiterer Arbeitsverdichtung in Folge von Arbeitszeitverkürzung. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass Arbeitszeitverkürzung für sie bedeutet, die gleiche Arbeit in kürzerer Zeit zu erledigen bzw. Arbeit von Teilzeitbeschäftigten mitmachen zu müssen. Insbesondere im Angestelltenbereich bzw. Bereichen ohne definierte Personalbemessung (z. B. Forschung, Entwicklung, Sachbearbeitung)fand Arbeitszeitverkürzung häufig ohne Personalausgleich statt. Deswegen setzt Arbeitszeitverkürzung mit dem Effekt von mehr Beschäftigung Regelungen zum vollen Personalausgleich voraus. Das heißt: Neben Maschinenbesetzung,Stückzahlen, Akkordsätzen gehört auch die Definition realistischer Ziel- und Zeitvorgaben bei Projektarbeit und die Mitbestimmung von Betriebs- und Personalräten bei Personalbemessung und -ausgleich dazu. Nur so kann gewährleistet werden, dass Arbeitszeitverkürzung nicht zu Arbeitsverdichtung und Arbeitsüberlastung, sonderntatsächlich zu mehr Beschäftigung führt.
Viele Menschen in hoch qualifizierten Berufen arbeiten in bestimmten Lebens- und Projektphasen gerne lange, weil sie ihr Projekt fertig kriegen und den Job gut machen wollen. Gleichzeitig herrscht in Deutschland in vielen Betrieben eine Langzeitarbeitskultur, die die Karriere an die Bereitschaft bindet, zeitlich unbegrenzt verfügbar zu sein. Längere Arbeitszeiten aufgrund konzentrierter Arbeit an definierten Projekten können zulässig sein, wenn der Zeitausgleich dafür verbindlich geregelt und garantiert ist – z. B. in Phasen von Freizeit nach einer Phase überlangerArbeit, z. B. in Weiterbildungsblöcken, Ausstieg auf Zeit mit garantierter Rückkehr oder Sabbatjahren.
Trotz Skepsis: Der Wunsch der Mehrheit der Vollzeitbeschäftigten ist, kürzer zu arbeiten und während des gesamten Arbeitslebens ein gutes Leben führen zu können mit Zeit für sich, für die Familie, die Kinder, für Freunde und für kulturelle und politisch-gesellschaftliche Betätigung. Und wenn Teilzeitarbeit und Vollzeitarbeit durch die Anzahl der Beschäftigten geteilt wird, dann ist es tatsächlich so, dass die durchschnittliche Arbeitszeit fast genau 30 Stunden beträgt – nur eben sehr ungleich verteilt. Das kann und soll durch Arbeitszeitverkürzung zunächst in Richtung 30-Stunden-Woche verändert werden – mit vollem Lohn- und Personalausgleich. Der Reichtum unseres Landes, die steigende Produktivität und die Gewinne der Unternehmen erlauben einen solchen Schritt, das Elend der jahrelangen Massenarbeitslosigkeit und deren hohe gesellschaftliche Kosten erfordern diesen Weg ebenso wie die Grenzendes Wachstums.
Das Ziel einer Vollbeschäftigung neuen Typs durch kurze Vollzeit von ca. 30 Stunden kann nur im Verbund mit anderen Ländern Europas verfolgt werden. Wie bei den Löhnen darf es ein Niederkonkurrieren durch längere Arbeitszeiten nicht geben. In vielen Ländern Europas haben wir eine weit höhere Arbeitslosigkeit als in Deutschland, in manchen über 20 %. Die Jugendarbeitslosigkeit mit bis zu 50 % in Spanien und Griechenland muss dringend bekämpft werden. Schon jetzt kommen viele Arbeitslose aus diesen Ländern nach Deutschland, und das Schrumpfen der Wirtschaft in den europäischen Abnehmerländern deutscher Exporte wird bald zu einem Schrumpfen der Exportindustrie in Deutschland und einem entsprechenden Wiederanstieg der Arbeitslosigkeit auch bei uns führen. Deswegen brauchenwir die 30-Stundenwoche für Europa!
Arbeitszeitverkürzung als Richtschnur
Arbeitszeitverkürzung muss und kann wieder die Stoßrichtung der Arbeitszeitpolitik werden. Dazu müssen Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Kräfte sich verbünden. Nötig ist eine gesellschaftliche Bewegung, in deren Verlauf das Arbeitszeitgesetz verbessert wird, in der Tarifverträge in Richtung Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich vereinbart werden und eine erweiterte Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer Betriebsräte über denPersonalausgleich Leistungsverdichtung verhindert und Beschäftigung schafft. Dafür steht die Initiative „Arbeitszeitverkürzung jetzt!“ Wir laden alle ein und fordern auf zu Diskussionen darüber in Betrieben, Gewerkschaften und Hochschulen,in Kirchen und Krankenkassen, in Frauen-, Umwelt- und Wohlfahrtsverbänden, in den sozialen Bewegungen und Erwerbsloseninitiativen, in Parteien und Stiftungen.
Berlin, Bremen, Gelsenkirchen, Hannover
Heinz-Josef Bontrup, Stephan Krull, Mohssen Massarrat, Margareta Steinrücke
Weiterführende Daten, Fakten und Argumente zu Arbeitszeitverkürzung:
- Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit „Arbeitszeitverkürzung und Ausbau der öffentlichen Beschäftigung jetzt!“, Bontrup / Massarrat, Sonderdruck Ossietzky-Verlag 05/2011 sowie http://www.attac-netzwerk.de/ag-arbeitfairteilen/manifest/
- ABC der Arbeitszeitverkürzung, www.bremer-arbeitszeitinitiative.de
- „ArbeitFairTeilen. Massenarbeitslosigkeit überwinden!“, Heinz-Josef Bontrup / Jörg Melz / Lars Niggemeyer, attac Basistext, VSA 2007
- „Schritte aus der Krise. Arbeitszeitverkürzung, Mindestlohn, Grundeinkommen: Drei Projekte, die zusammengehören“, Stephan Krull / Mohssen Massarrat / Margareta Steinrücke, VSA 2009
- „Die Vier-in-Einem-Perspektive – Politik von Frauen für eine neue Linke“, Frigga Haug, Argument-Verlag 2008
- „Arbeiten wie noch nie? Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit“, Sabine Gruber / Frigga Haug / Stephan Krull (Hrsg.) Argument-Verlag 2010
- „Atmende Betriebe, atemlose Beschäftigte?“, Thomas Haipeter, Steffen Lehndorff, edition sigma 2004„Die Halbtagsgesellschaft“, Carsten Stahmer / A. Schaffer / S. Hartard (Hrsg.), Nomos 2006leben
Wir dokumentieren hier den Text der Initiative „Arbeitszeitverkürzung jetzt!“, weil die Frage der Länge der Normalarbeitszeit angesichts der vielen prekären Jobs, der unfreiwilligen Teilzeitbeschäftigung, der Aufstocker im Hartz-IV-System dringend einer Antwort bedarf – ganz im Sinne der hier von Stefan Frischauf hier im Dezember diskutierten Frage „Was zu tun ist“.
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf dem Blog von Stephan Krull.
Wer sich für die Initiative interessiert, hier sind die Kontaktdaten:
Initiative Arbeitszeitverkürzung jetzt!
Stephan Krull
stephan@krullonline.de
Wer sich in bzw. um München zu der Frage der Arbeitszeitverkürzung informieren oder engagieren will, dem empfehlen wir den Arbeitskreis ArbeitFairTeilen von Attac München, Kontakt per Mail unter arbeitfairteilen@attac-m.org
Ein Hinweis auf den Beitrag im OSSIETZKY:
Auszug: “Seit Jahren findet eine sozial und ökonomisch kontraproduktive Umverteilung von den Arbeits- zu den Besitzeinkommen (Gewinn, Zins, Miete, Pacht) statt. Dadurch wurde die Binnennachfrage eingeschränkt und das überschüssige Kapital – weg von der produzierenden Realwirtschaft – in den Finanzsektor umgeleitet. Gewaltige Finanzspekulationen und Finanzkrisen waren die Folge. Die Krisenbewältigung darf nicht denen überlassen werden, die aus den Krisen hohe Gewinne gezogen haben und jetzt erneut versuchen, mit Scheinalternativen und einer Therapie an Symptomen ausschließlich den Besitzstand der Vermögenden auf Kosten der großen Bevölkerungsmehrheit zu sichern. Fast vierzig Jahre neoliberaler Kapitalismus sind genug.
Dieser wirtschaftspolitische Irrweg hat nicht nur in Deutschland und Europa, sondern in der ganzen Welt zu unermesslichem sozialem Elend geführt. Eine Wirtschaftspolitik, die blind auf weiteres Wachstum setzt, verschärft auch die Gefahren des Klimawandels und der Naturzerstörung, sie hat die Spaltung innerhalb und zwischen den Gesellschaften vertieft, die Reichen noch reicher und die Armen ärmer gemacht.
Die neoliberale Umverteilung wäre ohne die lange bestehende Massenarbeitslosigkeit nicht möglich gewesen. Weder in Deutschland noch in einem anderen Land. Ein Überangebot an den Arbeitsmärkten führt zu Lohnverfall. Deshalb sind die Profiteure und ihre politischen UnterstützerInnen mit aller Kraft bestrebt, von der Tatsache der bestehenden Massenarbeitslosigkeit abzulenken. Besonders vehement treten hierbei die Neoliberalen in Deutschland auf. Ihre Propaganda, es gebe in Deutschland fast wieder Vollbeschäftigung, grenzt angesichts der Realität von Massenarbeitslosigkeit an Zynismus. Branchenspezifischer Fachkräftemangel, der künstlich aufgebauscht wird, ließe sich rasch durch bessere Vergütung und längerfristig durch bessere Fortbildung beseitigen. Auch die Behauptung der Neoliberalen, wir müssten wegen des demographischen Wandels und der Sicherung von Renten länger arbeiten, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage.
Richtig ist dagegen: In Deutschland sind gegenwärtig, wenn wir nur die nicht freiwilligen Teilzeitbeschäftigten und geringfügig Beschäftigten mitrechnen, circa 6 Millionen Menschen arbeitslos oder unterbeschäftigt. Während viele Menschen unter psychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit in Form von Depressionen, Minderwertigkeitsgefühlen etc. leiden, müssen Beschäftigte in den Betrieben die Folgen von Mehrarbeit auf sich nehmen. Wie etliche wissenschaftliche Studien belegen, nehmen Stress, Burnout, psychosomatische und chronische Erkrankungen dramatisch zu. Dieser Zustand ist einer modernen Gesellschaft im 21. Jahrhundert unwürdig. Das herrschende neoliberale Modell hat den Gewerkschaften unter Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit viel von ihrer Gestaltungsmacht geraubt und sie in die Defensive getrieben. Die Beschäftigten haben Angst, den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren. Dadurch wird ein an Unterwürfigkeit grenzendes Verhalten der Beschäftigten und Arbeitslosen heraufbeschworen. Hierauf beruhen die Bereitschaft zu beträchtlichen Zugeständnissen (weniger Lohn, längere Arbeitszeiten, steigende Arbeitsverdichtung, mehr Flexibilität etc.) und die weitere Schwächung der Gewerkschaften – nicht nur bei Tarifverhandlungen. Allein fast eine Million Geringverdiener schuften mittlerweile wöchentlich 50 Stunden und mehr, um überhaupt ein Einkommen zu erzielen, von dem man aber immer noch nicht leben kann. Immer mehr ArbeitnehmerInnen beziehen – trotz Arbeit – Hartz IV als sogenannte „Aufstocker“. Die, die heute schon nichts haben, werden zusätzlich in die Altersarmut geschickt. Ähnlich und noch schlimmer sind die Bedingungen in den meisten anderen Staaten der Europäischen Union.”
@Ludger: habe den Link in deinem Kommentar angepasst, weil das Ausrufezeichen am Ende zu einer leeren Seite geführt hat. Jetzt funktioniert er.
Der offene Brief von Heinz-J. Bontrup, Mohssen Massarrat und den vielen Erstunterzeichner*innen wie Gerd Bosbach, Friedhelm Hengsbach, Oskar Negt und Sahra Wagenknecht ist gut und wichtig. Und bei aller Kritik am Tarifabschuss der IG Metall vor einem Jahr (auch hier bei uns) zeigt sich, dass Vollzeitbeschäftigte – übrigens ähnlich wie bei der Bahn – Möglichkeiten der Arbeitszeitverkürzung nutzen. Das tun übrigens auch viele Menschen, die in der Pflege arbeiten, weil sie sonst den hohen Belastungen auf Dauer nicht standhalten. Sie nehmen dafür weniger Geld und die eigene Altersarmut in Kauf.
Interessant finde ich aber noch einen ganz anderen Punkt: die Bundesregierung wähnt Deutschland nahe an der Vollbeschäftigung – und das bei einer tatsächlichen Arbeitslosigkeit von 3,27 Millionen, wie Die Linke für den Januar 2019 berechnet hat. Im Sommer 1975 hat gerade mal eine Million Arbeitslose gereicht um offiziell von Massenarbeitslosigkeit zu reden. Mir fallen da unweigerlich Rainer Mausfelds Ausführungen zur “Soft Power” ein. Phänomene werden sprachlich anders besetzt, zur “Beweisführung” werden die Grundlagen für Statistiken immer wieder verändert. Es wird vom Fachkräftemangel gesprochen, der natürlich in einzelnen Branchen und Regionen herrscht. Dass aber der Fachkräftemangel in der Pflege durch die Bundesregierungen mit geschaffen worden ist, liest man so gut wie nirgends. Denn die Pflege musste schließlich für den Markt erschlossen werden, damit da private Anbieter Gewinne machen. Die traditionell aufgrund ihres Berufsethos schlechter organisierbaren Beschäftigten in der Pflege wurden dabei über Jahre nicht gehört, sodass mittlerweile der Handlungsdruck selbst von der Bundesregierung nicht mehr geleugnet werden kann.
Und wo bitte werden aus dem Fachkräftemangel und der Tatsache, dass immer noch jährlich fast 50.000 Schüler*innen die Schulen ohne Abschlus verlassen und dass wir 7,5 Millionen funktionale Analphabeten unter den Personen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland haben, die richtigen Schlüsse gezogen? Statt auf allen Ebenen breit in die Bildung zu investieren und die brach liegende Potenziale zu nutzen wird bewusste Irreführung betrieben, die ganz gezielt zu Lasten der Arbeitnehmer*innen und zu Gunsten der Unternehmer geht.
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