Die Mosaiklinke

Zeichnung: Klaus Stuttmann

Die  Balkanroute ist geschlossen. In Afrika werden die Grenzen gesichert mit deutscher Sicherheitstechnologie. In der Sahara sterben mittlerweile mehr Geflüchtete als im Mittelmeer. Die große Koalition in Berlin streitet sich wochenlang über einige wenige Flüchtlinge an den deutschen Grenzen und über die Frage, wie diese zurückgeschickt werden können in die Länder, die sie zuerst aufgenommen und registriert haben. Dabei ist eines klar: die Abschottung hat noch nie auch nur ein kleines Problem gelöst. Während sich die regierenden C- und S-Parteien den Rechstpopulisten nähern, ist die Linke zerstritten. Sie hat kein schlüssiges Migrationskonzept, das sie den Rechten entgegenstellen könnte.

Hans-Jürgen Urban, deutscher Gewerkschaftler und Mitglied des Vorstands der IG Metall, nennt seinen Beitrag in den Blättern, in der Ausgabe 09/2018 “Epochenthema Migration: Die Mosaiklinke in der Zerreißprobe“.

Einig ist sich die Linke über die Ursachen der Migration: Kriege, politische Diktaturen, ethnische und religiöse Auseinandersetzungen.

Aber die Tiefenstruktur der meisten Konflikte ist in weltgesellschaftlichen Verhältnissen zu suchen, die durch eine obszöne und sich weiter verschärfende Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und allgemeinen Lebenschancen geprägt sind.

Nicht einig ist sich die Linke in der Beantwortung der Migrationsfrage. Eine mosaiklinke Verständigung muss daher von zwei konträren Positionen ausgehen:

Die Einen sagen: Es gibt ein Menschenrecht auf ein gutes Leben an einem selbst gewählten Ort. Daraus leitet sich ab ein Recht auf uneingeschränkte Migration und eine Welt ohne Grenzen (“Open Border”). In diesen politischen Forderungen dominieren somit die Interessen der Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, ihre Heimat verlassen haben. Ein bedingungsloser Antirassismus unterstützt diese Position. Es wird verzichtet auf die Frage, welche ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen in den Zielländern herrschen und ob deren Aufnahmemöglichkeiten begrenzt sind.

Die Anderen: Sie haben im Fokus die Verhältnisse in den Zielländern. Sie sehen den nationalen Wohlfahrtsstaat, fragen nach der sozialen Demokratie und sozialstaatlicher Solidarität. Sie sehen die Folgen der Migration für Arbeitsmärkte und vor allem für soziale Sicherungssysteme. Wichtig ist: Asyl-  und Fluchtgründe werden nicht eingeschränkt, eine freie Arbeitsmigration wird aber abgelehnt.

Gewarnt wird vor verschärfter Dumpingkonkurrenz und forcierter Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse sowie vor überforderten sozialstaatlichen Institutionen.

Hinzu kommt: Es gibt verstärkt Initiativen und Plädoyers für lokale Patriotismen und die Aufforderung, lokale Identitäten zu bewahren. Unterstützt wird diese “migrationssskeptische Positionierung” eindeutig von der neuen linken Sammlungsbewegung #Aufstehen.

Zur Kritik an beiden Positionen: Die Open-Border-Position steht für Empathie und das Zugeständnis, dass die Zuwanderung ein Epochenproblem ist.

Doch die Indifferenz gegenüber den ökonomischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen dieser universalistischen Solidarität verblüfft.

Es scheint so, als habe es hier einen Zugriff auf rechte Argumente gegeben: Aber eine “Migrationsflut” gibt es nicht und die Migration bedroht Europa nicht durch soziales Elend, durch politischen Terrorismus und durch kulturelle Entfremdung.

Befremdlich ist dann aber der “Gestus der moralischen Unfehlbarkeit”, mit der die No-Border-Fraktion ihre Argumente vorträgt. Wer die Fragen stellt, welche Anstrengungen für Geflüchtete und eben auch für einheimische Bedürftige geleistet werden, sieht sich schnell dem Rassismus-Vorwurf ausgesetzt.

Auf der anderen Seite: Menschen sind lokal verwurzelt und regionale Identitäten sind zu berücksichtigen. Doch sie dürfen nicht im Gegensatz zu universellen Wertorientierungen stehen. Aber es ist die strikte Unterscheidung zwischen Asyl, Flucht und Arbeitsmigration, die die Gefahr mit sich bringt, die bedrohte Situation derer zu unterschätzen, die “nur” aus sozialen Gründen nach Europa fliehen. Der wohl schwer wiegende Vorwurf an die Verfechter einer funktionalen Flüchtlingspolitik liegt aber darin, dass der Eindruck nicht vermieden wird, man habe Überschneidungen mit den rechtspopulistischen  Narrativen, um abtrünnige Wählerinnen und Wähler zurückzuholen.

Urban versucht nun, soziale Klassenpolitik und linken Internationalismus auf einen Nenner zu bringen, also eine gemeinsame mosaiklinke Perspektive zu entwickeln, eben weil die Linke hier blank und die Bedrohung von rechts zu groß ist. Er formuliert sieben Kernpunkte, die Bausteine eines linken Migrationskonzeptes sein müssten.

Ohne prinzipielle Opposition gegen rechts keine linke Glaubwürdigkeit, und ohne Empathie für die Geflüchteten keine linke Solidarität.

Zunächst fordert er unbedingte Solidarität. Es ist ein Privileg, in dieser Weltregion zu leben. Sich abschotten würde bedeuten, den Rechten nachzugeben. Diese sehen unseren Status durch die Migration gefährdet. Doch die in der Wohlstandsgesellschaft lebenden haben ihren Beitrag zu leisten.

Zur Bewertung der Thematik gehört, zweitens, dass “kapitalistische Realanalysen” die Grundlage der Diskussion bilden. Die internationale Solidarität muss basieren auf ökonomischen, sozialen und kulturellen Grundlagen, sonst ist sie nicht glaubwürdig.

Drittens: Die sozialen Sicherungssysteme sind umzustellen und zu öffnen für diejenigen, die nicht als inländische Beitrags- und Steuerzahler den Sozialstaat finanzieren konnten. Urban fordert die Ausweitung der sog. versicherungsfremden Leistungen und eine bedarfsorientierte Mindestsicherung.

Viertens: Es gibt ein Spannungsverhätnis zwischen offenen Grenzen und der Finanzierbarkeit des Sozialstaates.

“Sozial geht nur national”, lautet die mitgelieferte Botschaft eines neoliberalen Nationalismus, der aus einer humanen Migrationspolitik und finanzierbaren Sozialsystemen einen Antagonismus konstruiert.

Die Fixierung des Sozialen allein auf das Nationale lehnt Urban ab, weil diese zwangsläufig zur Forderung nach geschlossenen Grenzen führen muss.

“Grenzen zu” lautet die rechte Antwort, Arbeitsmarktintegration und eine Verteilungspolitik, die die erforderlichen Ressourcen an der richtigen Stelle holt, sollten Essentials der linken sein.

Eine höhere Besteuerung von Profiten, Vermögen und großen Einkommen ist also zwingend geboten.

Essentials linker Politik sind aber auch die Stärkung der Emanzipation von Frauen, von Immigranten, Farbigen und Angehörigen der LGBTQ-Gemeinschaften einschließlich eines unbedingten Antirassismus. Es sind aber auch immer die gesellschaftlichen Verhältnisse, so verstehe ich Urban, die Menschen zu Rassisten machen. Das bedeutet, dass die Konzentration linker Politik auf die Emanzipationsaufgaben ohne Berücksichtigung der kapitalistischen Ursachen nicht ausreicht.

Menschen werden nicht als Rassisten geboren, sie werden zu solchen (gemacht). Und wer das ändern will, muss sich um das “Emsemble der gesellschaftlichen Verhältnisse” (Karl Marx) kümmern, das sie prägt.

Sechstens: Also, die Spaltungslinien zwischen Geschlechtern, sexueller Orientierung oder ethnischer Herkunft vermengen sich mit sozialen Diskriminierungen. Da Geflüchtete mehrheitlich abhängig Beschäftigte sind, liegt hier die Aufgabe der Gewerkschaften, die oft vorhandenen sozialen und kulturellen Spannungen zwischen Lohnabhängigen und Flüchtlingen zu überbrücken.

Letzter Punkt: Wer die Grenzen dicht machen will, muss sich nicht um die Fluchtursachen kümmern. Das ist rechter Alibismus. Linke Politik muss aber auch die Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern ändern wollen. Diese Forderung ist internationalistisch, weil sie die Verantwortung der reichen Länder, der Zielländer in den Mittelpunkt stellt.

Oder ist es für linke Politik wirklich ohne Belang, dass die Lebensgrundlagen vieler in den Herkunftsländern durch Interventionen aus den Zentren zerstört werden: durch geostrategische Machtpolitik, durch die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den aufgezwungenen Fossilismus und durch die Befeuerung religiös oder ethnisch definierter Machtkonflikte?

Wie kann ein Fazit aussehen? Die Aufnahmegesellschaften müssen Anstrengungen erbringen. Es gibt aber auch sog. Tipping Points dort, wo der gesellschaftliche Konsens zerbricht. Über Rassismus sollte in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden.

Ein sehr kritischer Einwand kommt allerdings aus Frankreich: Sahra Wagenknecht, die Vertreterin des nationalen Kurses spiele mit dem Feuer, so heißt es in einem Beitrag des französischen Politikers und Publizisten Francis Wurtz.

Aber wie kann man als Vertreterin der Linken die Vorstellung gelten lassen, die Führungsmacht der Europäischen Union, die jährliche Handelsüberschüsse in Höhe von 250 Milliarden Euro anhäuft, – habe aufgrund von Migranten … – nicht die „ausreichenden Mittel“, um seine öffentlichen Dienste zu finanzieren und seinen „bedürftigsten Bürgern“ Hilfe zu leisten! Auf diese Weise – im Widerspruch zu den richtigen Kämpfen, die sie im Übrigen mit ihrer Partei führt – dazu beizutragen, den äußerst berechtigten Unmut der Millionen Menschen, die durch das Schröder-Merkel-Modell an den Rand gedrängt wurden, auf die Migranten zu lenken, ist das Letzte, was man von einer Vertreterin der Linken wie Sahra Wagenknecht erwartet.

Klare Worte! Urban verweist auf die erforderliche Transformationsperspektive des Kapitalismus und glaubt, dass ein gutes Leben von Flüchtlingen und Einheimischen in den Strukturen des Gegenwartskapitalismus nicht zu realisieren sei. Bis zu einer Überwindung des Kapitalismus möchte ich allerdings nicht warten. Ein schlüssiges Migrationskonzept  sollte schon bald ein Baustein der Bewegung #Aufstehen werden.

Bildquelle: Klaus Stuttmann

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13 Gedanken zu „Die Mosaiklinke

  1. Ludger Elmer Beitragsautor

    Widerspruch gegen Sahra Wagenknechts Migrationsvorstellungen gibt es ausgerechnet vom französischen Soziologen Didier Eribon (“Die Rückkehr nach Reims”). Im Interview mit der FAZ sagt er:

    (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/franzoesischer-bestseller-autor-didier-eribon-im-interview-15813024.html

    “Aber indem die demokratischen Parteien die Ängste dieser Leute bestätigen, spielen sie den Rechten in die Hände. Sahra Wagenknecht ist mitverantwortlich für das, was in Chemnitz geschehen ist, weil sie die sogenannte Migrantenproblematik zum Bestandteil der linken Agenda gemacht hat. Sie ermuntert die Rechten, ihre eigene Agenda noch radikaler zu formulieren. Wagenknechts Aussage, sie sei gegen das Konzept offener Grenzen, ist sinnlos, denn die Leute kommen ja nicht hierher, weil es keine Grenzen gibt, sondern weil sie keine andere Wahl haben. Aber der Satz suggeriert, dass man mit ihr auch über Grenzzäune, Hunde und Internierungslager reden kann. …
    … Ich fühle mich in gewisser Weise verantwortlich für das, was sie jetzt tut. Vor zwei Jahren hat sie in einer Rede vor dem Bundestag aus „Rückkehr nach Reims“ zitiert. Wenn sie jetzt das Thema der verratenen Arbeiterklasse wieder auf den Tisch bringen will, hat sie völlig recht. Aber wenn Sie mein Buch richtig lesen, stellen Sie fest, dass ich keinen Gegensatz zwischen den Interessen der Arbeiterklasse und denen des Feminismus, Antirassismus, der LGBT-Bewegung und der Ökologie aufmache. Eine wirklich linke Partei kann nur all diese Themen gemeinsam angehen. Alles ist miteinander verknüpft. Menschen kommen aus fernen Ländern zu uns, weil der Klimawandel ihre Lebensgrundlagen zerstört. “

  2. Stefan Frischauf

    Tut mir leid, aber Didier Eribons Argumentationslinie ist sehr kurzsichtig und einseitig und zeugt nicht davon, dass er wirklich die Problematik in ihrer Vielschichtigkeit durchblickt.
    1. Zu allererst das einzige von ihm eingebrachte Stichwort Klimawandel:
    derzeitig steht Europa auf der Bremse:
    “Der Weltklimarat schlägt Alarm: Alle Staaten müssten sofort handeln, um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen und schlimmere Katastrophen zu verhindern, fordern die Experten. Die EU begrüßt den Alarmruf – und tut: nichts.
    Derzeit sei keine Erhöhung der Klimaziele geplant, heißt es in Brüssel. Erst im November will die EU einen neuen Plan vorlegen – doch dabei geht es um Klimaschutz nach 2030, nicht um kurzfristige neue Aktionen. …
    Um das 1,5-Prozent-Ziel zu erreichen, müsse sich die EU auf eine Null-Emissionspolitik bis zum Jahr 2040 verpflichten. Beim Treffen der Umweltminister am Dienstag müsse EUropa “Führung” im Kampf gegen den Klimawandel zeigen.
    Doch das ist nicht zu erwarten – im Gegenteil. Die Umweltminister stehen auf der Bremse. Zuletzt hat ausgerechnet Deutschland verhindert, dass das Emissionsziel von 40 auf 45 Prozent erhöht wird.
    Das hatte Energiekommissar Canete im Sommer angekündigt – doch dann war er von Berlin zurückgepfiffen worden…
    https://lostineu.eu/klimaschutz-so-wird-die-eu-zur-lame-duck/?source=push_monkey
    Andere Faktoren und Fluchtursachen nennt Didier Eribon nicht. Das sind aber: Postkoloniales Erbe, “Land- und Warlordismus und damit begründete Korruption im Krieg “Reich gegen Arm”.
    Inosofern zeigt er deutlich die Angst einmal mehr vieler Linken, das Themenspektrum zu erweitern und die Ursachen in ihrer breiten Fächerung wahrzunehmen. Und die Stagnation der “Lame Duck” EU können wir nur mit breiten Bündnissen vor Ort – bei uns überwinden. Nicht aber mit diesen Scheuklappen.
    Ich habe Didier Eribons “Rückkehr aus Rheims” mit großer Spannung bei meinem letzten Krankenhausaufenthalt gelesen. Spannung und Zustimmung. Zweifelsohne hat er mit diesem Buch viel für die “Linke” in Europa getan. Aber wie sollen wir die Stagnation in EUropa überwinden, wenn nicht mit einer die Vielfalt auch der dunklen Seite der Stagnation angehenden Strategie?
    Das können wir nur, indem wir mit gesamteuropäischen Bündnissen #aufstehen.
    Nicht aber, indem wir vor den ersten Schritten verzagen, weil wir eben auch Themen der Rechten aufgreifen und an weitere Ursachen unmittelbar vor unserer Haustür herangehen. Was nicht heißt, dass wir “rechte Rattenfänger” hofieren. Sondern, dass wir Ihnen entgegentreten und die Kräfte links der Mitte lokalisieren und bündeln. Je m’excuse, cher Didier. Mais comme ca il’ny’aura rien avec les gauches en Europe!
    https://nachdenken-in-muenchen.de/?p=4490

  3. Ludger Elmer Beitragsautor

    Was soll es helfen, Didier Eribon die Versäumnisse der EU-Klimapolitik vorzuwerfen? Sein Verdienst ist es doch gerade, die Linke auf deren Defizite in einer nationalen und internationalen Sozialpolitik aufmerksam gemacht zu haben.
    Wenn es eine ideale Welt gäbe, hätten wir keine Flüchtlinge. Jeder Mensch würde dort, wo er geboren ist, ein würdevolles Leben führen können oder sich freiwillig, ohne dass Hunger, Not und Kriege ihn zwingen, eine andere Heimstatt suchen. Die Welt ist nicht ideal und wird es auf absehbare Zeit auch nicht sein.
    Auch unser Sozialstaat ist nicht ideal. Aber er ist – verglichen mit vielen anderen Staaten dieser Erde – recht fortschrittlich. Allerdings, er hat auch Defizite, die schon da waren, bevor es überhaupt Flüchtlinge zu uns geschafft hatten. Dürfen wir deswegen, weil wir hier an Grenzen der Belastbarkeit stoßen, Solidarität verweigern? Müssten wir nicht zunächst und mit höchster Priorität die Ausweitung der sozialen Leistungen für alle, für Wohnungssuchende, für Obdachlose, für Tafelgänger, für Aufstocker und für Geflüchtete fordern? Und klar machen, dass das dafür erforderliche Geld massenhaft vorhanden ist.
    Aber der Sozialstaat ist heute nicht ideal und wird es auf absehbare Zeit auch wohl nicht sein. Diese Sicht ist nur realistisch.
    Hätten die Helferkreise ähnlich argumentiert, sie hätten ihr Engagement verweigert, weil der Staat offenbar seine Pflicht nicht erfüllen konnte oder wollte. Nein, die Helfer haben gerade deswegen, weil die Defizite vorhanden waren und sind, angepackt.
    Wie viele Wohnungen stehen leer oder halbleer – obendrein noch diejenigen, die sündhaft teuer sind und aus Spekulationssucht und Geldwäsche-Gründen begehrt werden. Meine Eltern mussten nach dem zweiten Weltkrieg Flüchtlinge aufnehmen, bei eigenen fünf Kindern. Ihnen wurden die Bedürftigen zugewiesen.
    Es ist die Angst vor den einschneidenden Maßnahmen und vor den Rechten, die der Linken die Feder führt.
    Soll ich meine Nachhilfestunden für Vedad, den bosnischen Jungen, der im Familiennachzug nach Deutschland gekommen ist und sprachliche Probleme hat, einstellen? Nur weil Schule und Familie an den Grenzen der Belastbarkeit sind?
    Politiker, zumal Mitglieder einer Partei, die nicht in der Lage sind, in einer zentralen gesellschaftlichen Frage ein stimmiges Migrationskonzept zu entwerfen und zu verfolgen, auch und weil es gerade Kompromisse beinhalten muss, haben ihren Führungsanspruch verwirkt.

  4. Stefan Frischauf

    Lieber Ludger,

    mit allem d’accord. Nur nicht mit dem ersten Satz: Ich habe in keinster Weise hier Didier Eribon die Versäumnisse der EU-Klimapolitik vorgeworfen.
    Ich frage mich als jemand, der seine Nase auch in Geschützlärm gehalten und von dort berichtet hat, warum in Deutschland die meisten Diskurse sich im Kreis um einen sehr zweifelhaften Status Quo drehen. Wichtig ist es, die Kräfte zu bündeln und gemeinsam #aufzustehen. Auch, wenn man nicht immer sofort alles nachvollzieht oder unterstützt, was der oder die andere sagt, denkt, schreibt. Nicht sofort dichtmachen wie eine Mimose. Und sich dann wundern, dass nichts vorangeht.
    Ich weise auf eine grobe Vereinfachung von Seiten Didier Eribons hin. Das heißt nicht, dass ich ihm die Verantwortung für Versäumnisse der von der Ökonomie völlig verdrängten Politik anlaste.
    Dies jedoch zu behaupten heißt, den Botschafter anzuschießen. Und dagegen wehre ich mich.
    Weil es keinem weiter hilft.

    Herzliche Grüße. Und einen schönen Tag. Stefan

  5. Andreas Schlutter

    Ich denke, wir sind uns schnell einig, dass unser Sozialstaat schon deshalb nicht ideal ist, weil seit 40 Jahren das Niveau heruntergefahren wird. Stück für Stück sind Errungenschaften der Nachkriegszeit aus ihm herausgeschlagen worden. Durch massive Steuersenkungen wurde der Handlungsspielraum der öffentlichen Hand bewusst eingeschränkt, viele Kommunen haben den Wohnraum, der sich in ihrem Besitz fand, an Investoren verkauft, um begrenzte Handlungsspielräume zu erhalten. Die Zeit jubelte 2006:

    “Ein Milliardengeschäft macht Dresdens Stadträte zur Avantgarde der deutschen Kommunalpolitik. Am Donnerstagabend stimmten 40 von ihnen dafür, sämtliche Wohnungen der sächsischen Hauptstadt an den amerikanischen Investor Fortress zu verkaufen. “

    Die Agenda 2010 tat ihr Übriges, um die Menschenzu verunsichern. Wie habe ich schon damals gesagt, im Zweifel trennt mich von Hartz IV gerade mal ein Jahr. Was macht das mit den Menschen, die im (Irr-)Glauben groß geworden sind, dass es den nachfolgenden Generationen immer besser als der eigenen Elterngeneration gehen wird?
    Bisher hat die Linke darauf keine schlüssige Antwort gefunden. Wobei, was ist die Linke? Im parteipolitischen Spektrum sind SPD und Grüne ja kaum noch dazuzuzählen (anders als 1998 von vielen gehofft). Verbleiben die Partei Die Linke und die an unterschiedlichen Orten verstreuten tätigen Crossworker*innen, die immer wieder an Brücken zwischen den drei Parteien bauen. Hans Jürgen Urban gehört z.B. dem Kuratorium des Institus Solidarische Moderne an, das sich aber gegen #Aufstehen positioniert hat. Ausstrahlungskraft des ISM – gering. Überzeugende Antworten, die bei der hoch komplexen Frage Flucht und Migration Wirkung entfalten, bleiben weitgehend aus. Den Aufruf “Solidarität statt Heimat”, der ja auch vom ISM mitentwickelt wurde, hat Urban ja ganz bewusst nicht unterzeichnet. Ihm ist unbedingt beizupflichten, wenn er im diesem Beitrag zugrundeliegenden Text schreibt:

    “Kann es dennoch gelingen, durch die Zusammenführung der rationalen und progressiven Elemente aus den widerstreitenden Positionen eine gemeinsame, mosaiklinke Perspektive zu formulieren? Es nicht zu versuchen, wäre verantwortungslos. Der gesellschaftliche Rechtsruck ist von einer historischen Dimension. Und historisch wäre auch das Versagen einer Linken, die an der Einigung auf einen migrationspolitischen Konsens scheitern würde.”

    Und Eribon ist beizupflichten, wenn er sagt:

    “Aber wenn Sie mein Buch richtig lesen, stellen Sie fest, dass ich keinen Gegensatz zwischen den Interessen der Arbeiterklasse und denen des Feminismus, Antirassismus, der LGBT-Bewegung und der Ökologie aufmache. Eine wirklich linke Partei kann nur all diese Themen gemeinsam angehen. Alles ist miteinander verknüpft.”

    Wie bekommen wir menschenrechtlichen Universalismus und sozialstaatliche Solidarität zusammen? Derzeitiges Haupthandlungsfeld für politische Weichenstellungen ist dabei nach wie vor der Nationalstaat, auch wenn die EU-Politik durch ihre neoliberale Ausrichtung zuweil Grenzen setzt. Aber Erhöhung des Spitzensteuersatz, Reaktivierung der Vermögenssteuer, Anhebung des Mindestlohns, all das verstößt ja nicht gegen EU-Recht und kann bzw. muss hier ausgehandelt werden. Auch der Bau von Sozialwohnungen, der Nicht-Verkauf von kommunalem Grund verstößt nicht gegen EU-Recht.
    Vor dem Hintergrund des dramatischen Klimawandels müssen wir zudem viele Fragen neu stellen und anders beantworten, als es die Koalition unter Willy Brandt getan hat. Wachstum – in welchen Bereichen brauchen wir es noch? Bei der Bildung, beim Öko-Landbau, aber insgesamt leben wir als Gesellschaft auf Kosten der Menschen im Globalen Süden und auf Kosten unserer Kinder und Enkelkinder.
    Sich von Liebgewonnenem und von vermeintlichen Sicherheiten zu trennen ist allerdings nicht nur eine gewalige gesellschaftliche Aufgabe, sondern eine psychologische Herausforderung. Veränderungen machen Angst, und das in einer Gesellschaft, die im Westen seit bald 15 Jahren und im Osten vielleicht seit der Abwicklung der DDR durch Kohl und die Treuhand von Ängsten geprägt ist.
    Wenn die gesellschaftliche Linke irgendwie wieder an Bedeutung gewinnen will, brauchen die Protagonisten viel Geduld – miteinander und im Hinblick auf die Durchbrechung der nach wie vor weitgehend herrschenden neoliberalen Erzählung. Urban beschreibt dazu zumindest einen Teil der inhaltlichen Herausforderung:

    “Eine mosaiklinke Strategie der globalen Klassensolidarität teilt mit der No-Border-Position den menschenrechtsbasierten Universalismus und eine darauf beruhende Solidarität mit den Geflüchteten. Sie verwirft aber die Attitüde moralischer Unanfechtbarkeit und leugnet die Anstrengungen nicht, vor denen die Aufnahmegesellschaften stehen. An der Position
    sozialstaatlicher Solidarität akzeptiert sie die Hinweise auf die ökonomischen, sozialen und alltagskulturellen Voraussetzungen der normativ begründeten Solidarität, kritisiert aber deren analytische Engführung, politische Uneindeutigkeiten und emotionale Kälte gegenüber Fluchtursachen und Schicksalen. Und sie verbindet dies mit dem Anspruch auf eine umfassende Sozialreform, die die traditionellen, auf dem Staatsbürgerstatus beruhenden Sozialstaatsstrukturen öffnet. Auf diese Weise stellt sie die universelle Moral auf ein politökonomisches Fundament.”

    Dieses wäre zu ergänzen durch die Herausforderungen, die sich aus dem Klimawandel ergeben. Vielleicht leben die Hartz-IV-Empfänger*innen ja tendenziell auf einem verträglichen Niveau – und allen, denen es besser geht, wäre zu sagen, dass sie über ihre Verhältnisse leben. Mehr Zeit zum Leben wäre doch besser als die heikle Kombination aus hoch verdichteter und krank machender Arbeit und Konsum, Konsum, Konsum als Ausgleich.

  6. Ludger Elmer Beitragsautor

    Lieber Stefan,
    natürlich kann Didier Eribon nichts für den Klimawandel. Ich hatte mich gestört an deinem ersten Satz bezueglich der Einwände von Eribon zur Rolle der Nationalstaaten und zu Sahra Wagenknecht. Mir gefällt wirklich der Aufruf von #Unteilbar (https://www.unteilbar.org/), weil er eben auch die sozialen Probleme anspricht:

    “Während der Staat sogenannte Sicherheitsgesetze verschärft, die Überwachung ausbaut und so Stärke markiert, ist das Sozialsystem von Schwäche gekennzeichnet: Millionen leiden darunter, dass viel zu wenig investiert wird, etwa in Pflege, Gesundheit, Kinderbetreuung und Bildung. Unzählige Menschen werden jährlich aus ihren Wohnungen vertrieben. Die Umverteilung von unten nach oben wurde seit der Agenda 2010 massiv vorangetrieben. Steuerlich begünstigte Milliardengewinne der Wirtschaft stehen einem der größten Niedriglohnsektoren Europas und der Verarmung benachteiligter Menschen gegenüber.”

    Sahra Wagenknecht lehnt nun eine Teilname an der Unteilbar-Demo ab. Ich bin ja immer einer ihrer Fans gewesen, aber wenn sie jetzt diesen Schulterschluss mit den OffeneGrenzen-Befürwortern nicht hinbekommt, dann sind auch die Bewegungen #Aufstehen und #Unteilbar gespalten. Genauso wie die linke Partei. Siehe auch Kommentar im FREITAG: (https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/bleibt-aufstehen-sitzen)

    “Die Migrationsfrage hat viel zu lange im Mittelpunkt der Politik gestanden, sagte Wagenknecht bei der Gründung der Sammlungsinitiative – sie wolle die soziale Frage in den Mittelpunkt stellen. Wenn sie dann jedoch nicht in der Lage ist, einen Aufruf zu unterstützen, in dem es durchaus um die soziale Frage geht – in all ihren Ausprägungen – und zwar nur deswegen nicht, weil er sich unter anderem auch gegen die Abschottung Europas wendet, dann könnte man Aufstehen – ähnlich wie Wagenknecht dies mit #unteilbar tut – vorwerfen, die „bestimmende Position“ sei die Ablehnung offener Grenzen. Könnte man. Aber mit diesem Vorwurf sollte man so lange warten, bis die Inhalte der Initiative tatsächlich von ihren Unterstützer*innen bestimmt wurden.”

    Es muß doch wirklich möglich sein, zur Migrationsfrage eine gemeinsame Position zu formulieren, wenn man die billigen Slogans “Sozial gleich National” oder “Wir können nicht allen helfen” mal weglässt. Die Betonung der eigenen Argumente lässt auch hier darauf schliessen, dass beide Seiten nicht in der Lage sind, die Perspektive der Gegenseite einzunehmen. Das nennt man dann Machtpolitik. Die potentiellen Wähler verstehen es nicht und wenden sich ab.

    1. Stefan Frischauf

      Lieber Ludger,
      zu #Unteilbar existiert auch ein von Tom Ogg initierter Aufruf auf Facebook, in dem diese Themen natürlich auch erörtert und debattiert werden.
      Werner Steiner: “”Gemeinsam treten wir antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Antifeminismus und LGBTIQ*- Feindlichkeit entschieden entgegen.”………es ist eine Demo gegen rechts mit der gängigen Leugnung aller anderen Formen von Gewalt, ……jeder sieht, dass das Credo wieder einmal heißt “außer den Rechten gibt es kein Problem”. Also. Das hat bislang zu 18% AfD geführt und wird absehbar zu 25% führen, die konsequente Verweigerung der Hälfte der Realität. Wer sich in seiner Halb-Welt einrichtet, kann damit leben. Der “Kontrahent” das sind für mich diese beiden Pole: die, die so tun, als seien die Flüchtlinge von Himmel gefallen (AfD) und die die so tun, als seien sie vom Himmel geschenkt……, beide zusammen ein Januskopf der Spaltung.”
      Tom Ogg: “Auch Deine Einschätzung ist nicht von der Hand zu weisen. Deshalb schrieb ich fragend im Eingangspost: “Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob man sich wirklich #unteilbar unter einem Aufruf wiederfinden kann, in dem zwar der beklagenswerte Ist-Zustand ziemlich treffend formuliert ist, die Ursachen dafür, daß die Gesellschaft immer unfreier und unsolidarischer geworden ist, jedoch in keiner Weise benannt werden, bzw. auch nicht der Versuch dazu erfolgt.” <–Dennoch, überlege und finde ich, kann man doch aber die Initiative nicht allein den Rechtskonservativen überlassen und zu mindest in der Weise mit den Zielen von #unteilbar konform gehen, indem man demonstriert, daß man mit den Rechten "Lösungen" keinesfalls einverstanden ist?!"
      Stefan Frischauf: "Wir sollten bald von der "Unverbindlichkeit" wegkommen und Lösungen ausarbeiten. Da gebe ich Werner Steiner hier vollkommen recht, Tom. Denn das Thema der Janusköpfigkeit der "open borders Forderungen" ist auf Dauer nur einem sehr bequemen mitteleuropäischen Standpunkt geschuldet. Auf diese Art jedoch wird es uns vor die Füße fallen. Und – auch da gebe ich Werner Steiner Recht: das beflügelt die AFD und schlägt jegliche links-/ Mitte-links-Alternativen weit zurück."
      Dafür bedarf es weitergehender programmatischer Entwürfe. Und einer Debattenkultur, die genau dies fördert. Nur in "Alternativ-" oder "sozialen Medien" erreichen wir aber viel zu wenig diejenigen, die "gefangen im Maschinenraum" oder eben ohnmächtig dem Geschehen zusehend irgendwo anders sitzen. "Lost in Europe", der "unabhängige EU-Blog aus Brüssel" aka Eric Bonse beschreibt das auch täglich sehr gut.
      https://lostineu.eu/
      insofern – Dir und Andreas Schlutter erst einmal einen schönen Tag!
      http://www.stefanfrischauf.com/

  7. Andreas Schlutter

    An #unteilbar wird das Dilemma deutlich. Bülow als Teil von #aufstehen unterschreibt, Wagenknecht nicht. Vielleicht auch deshalb, weil es aus der gleichen Ecke kommt wie “Solidarität statt Heimat”. Lessenich hat, glaube ich auf der Attac-Winterschule 2017 in München Wagenknecht als seine Lieblingsfeindin bezeichnet.
    Unsere Aufgabe ist es, die Protagonist*innen und Unterstützer*innen beider Gruppen ins Gespräch zu zwingen, um eine gemeinsame Position zu erarbeiten. Andernfalls wird die Linke wieder einmal versagen.
    Und da gehören auch die Gewerkschaften mit an den Tisch, die beim Aufruf zu #unteilbar ebenfalls schwächeln, weil unser Wohlstandsbegriff nicht mit der notwendigen internationalen Solidarität im Zeichen des Klimawandels in Einklang zu bringen ist.

  8. Willi

    Ich beziehe mich auf diesen Satz aus dem Beitrag von Ludger:
    „Es gibt ein Menschenrecht auf ein gutes Leben an einem selbst gewählten Ort. Daraus leitet sich ab ein Recht auf uneingeschränkte Migration und eine Welt ohne Grenzen (“Open Border”).“
    Das ist doch wohl die strittige Position, um die es in der Diskussion geht.

    Eine Frage an Euch alle: Kennt Ihr ein Land,
    – das alle Ausländer ohne Ansehen der Person ins eigene Land einreisen lässt,
    – das diese Personen bedingungslos ins eigene Sozialsystem aufnimmt,
    – und das diesen Personen automatisch eine Arbeitserlaubnis gibt?

    Ich kenne keines, und das hat ja auch seine Gründe. Eine planlose, unkontrollierte Migration würde das bestehende Gesellschaftssystem zumindest deutlich stören oder sogar zerstören, je nach dem Ausmaß der Migration. Ich nenne nur als Stichworte dazu: Sicherheit, Sozialsystem, verfügbare Ressourcen, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Identifikation mit dem eigenen Staat, der eigenen Region.

    Das Thema Asyl und berechtigte Fluchtgründe klammere ich aus. Dazu gibt es internationale Regeln, die sollten eingehalten werden. Basta! Aber nicht einmal das wird von allen Ländern der EU eingehalten. Das wäre ein Punkt, dafür zu kämpfen! Aber offene Grenzen für alle werden von keiner internationalen Vereinbarung gefordert. Das kann – vielleicht – eine Zukunftsvision sein, aber ich glaube nicht daran. Aktuell sollte die Energie auf die Durchsetzung bestehender Regeln gerichtet werden. Das ist schon schwer genug. Würden die bestehenden Regeln von Allen eingehalten hätten wir weltweit viel weniger Probleme!

    Probleme – egal in welchen Bereichen – haben Ursachen und sie haben Auswirkungen. Bei unserem Thema gibt es diverse Fluchtursachen, und als Auswirkung haben wir dann die Flüchtlingsströme. Eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen kann zwar einem Teil der Menschen helfen, also manche Auswirkungen mildern, aber die Ursachen bleiben bestehen! Das ist als Therapie also ungeeignet, und schafft zudem neue Probleme. Eine maßvolle Aufnahme von Flüchtlingen durch alle Länder kann allenfalls vorübergehend das Leid mildern, behebt aber keine einzige Ursache.

    Am Anfang seines Beitrags schreibt Ludger: „Einig ist sich die Linke über die Ursachen der Migration: Kriege, politische Diktaturen, ethnische und religiöse Auseinandersetzungen.“ Dazu möchte ich noch „wirtschaftliche Ausbeutung und Bevormundung“ ergänzen. Für alle diese Ursachen gibt es Verantwortliche, und es gibt Profiteure. Das sind eigentlich diejenigen, die zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Es gäbe ja auch die UNO und die internationalen Gerichte, die eingreifen könnten. Leider scheren sich insbesondere die Hauptverantwortlichen einen Dreck um das internationale Regelwerk und internationale Gerichte. Da wäre internationaler Druck notwendig.

    Kriege: Die meisten – wenn nicht alle – aktuellen Kriege sind völkerrechtswidrig! Meistens haben die USA mehr als die Finger drin. Das können wir (Deutschland) nicht verhindern. Aber dass die Bundeswehr (laut GG eine reine Verteidigungsarmee!) z. Zt. in ca. 13 Kriegen mitmischt hätte ich mir in meiner Zeit als freiwilliger Soldat nicht vorstellen können. Auch wenn die Bundeswehr angeblich keine Kampfeinsätze hat: sie leistet auf alle Fälle Unterstützung, also Beihilfe dazu! In dieser Situation Flüchtlinge nach Afghanistan, Libyen und Syrien? abzuschieben ist aus meiner Sicht unerträglich und menschenverachtend. Dagegen sollten wir uns engagieren!

    Diktaturen: Kann ich nichts dazu beitragen.

    Ethnische und religiöse Auseinandersetzungen: Immer wieder kann man lesen, dass viele dieser Auseinandersetzungen erst durch die Kriege angestachelt wurden! Sowohl von Jugoslawien als auch von Irak und Syrien weiß ich, dass die unterschiedlichen Ethnien und Religionen vorher relativ friedlich miteinander gelebt haben. Aber es ist ja das Standardrezept der USA, bestimmte Gruppen gegeneinander aufzuhetzen, zu bewaffnen und das dann Bürgerkrieg zu nennen. Diese Auseinandersetzungen sind also meist Folgen der völkerrechtswidrigen Kriege und nicht die Ursachen.

    Wirtschaftliche Ausbeutung und Bevormundung:
    Das Thema ist wohl vor Allem in Afrika akut. Da geht es um immense Bodenschätze, die mit brutaler Ausbeutung der einheimischen Arbeiter und mit rücksichtsloser Zerstörung der Umwelt durch ausländische Konzerne ausgebeutet werden. In großem Stil werden auch riesige landwirtschaftliche Flächen durch ausländische Konzerne okkupiert und die einheimischen Bauern vertrieben (Landgrabbing). Darüber hinaus haben Deutschland und die EU afrikanischen Staaten eine Art Freihandelsverträge aufgenötigt, die deren einheimische Wirtschaft der Zerstörung durch subventionierte EU-Produkte überlässt. Diese Verträge sind keine Hilfe für die afrikanischen Länder, ganz im Gegenteil.
    Weiterhin hat die EU sich Fischereilizenzen vor Westafrika gekauft, wo jetzt große europäische Fischtrawler das Meer leer fischen und die einheimischen Fischer ihre Familien nicht mehr ernähren können.
    Auch dagegen sollten wir uns engagieren!

    Die meisten Menschen verlassen ihre Heimat nicht, wenn sie dort menschenwürdig leben können. Ohne die aufgezählten Fluchtursachen wären Afghanen, Syrer und Afrikaner nie auf die Idee gekommen, nach Europa zu fliehen. Insbesondere Syrer würden auch gerne zurück gehen. Ohne die beschriebenen – teils völkerrechtswidrigen – Ursachen gäbe es diese Diskussionen nicht!

    Würden offene Grenzen für alle die Probleme lösen?

    Nein!
    Die Anstifter und die Profiteure der ganzen Misere könnten sich freuen: Sie können ja weiter machen, denn um die Lateralschäden kümmern sich ja andere. Und dass andere Gesellschaften evtl. an den Problemen zerbrechen, das kümmert weder die geopolitischen Machtpolitiker, noch die Waffenindustrie oder die profitierenden Konzerne. Und an den angerichteten Schäden kann man ja wieder verdienen. Auch Deutschland ist ganz scharf darauf, am Wiederaufbau in Syrien beteiligt zu werden. Natürlich nicht in Form von kostenloser Entwicklungshilfe….

    Für „offene Grenzen für alle“ zu streiten halte ich für illusorisch, für eine Utopie, die in einer Welt der Ungleichheit nicht funktionieren kann. Dafür zu kämpfen ist eine Vergeudung von Energie, die an anderer Stelle viel notwendiger wäre. Die Profiteure reiben sich die Hände und freuen sich, dass ihre Spaltungsstrategie funktioniert.

    Willi

    PS: Wählerstimmen für Parteien, die den deutschen Kriegseinsätzen zustimmen, sind Stimmen für ein „Weiter so“. Und Grün ist nur noch eine Tarnfarbe.

    PS2: Dass die derzeitigen Regelungen, die an einen Mauerbau in Afrika erinnern, furchtbar sind ist mir auch klar. (Man sieht: unsere Kanzlerin hat Erfahrung!) Aber die Forderung nach offenen Grenzen für alle ist da eher kontraproduktiv, wenn es um die Akzeptanz in der Bevölkerung geht.

    PS3: Das jetzt geplante Einwanderungsgesetz zur Arbeitsmigration ist eine Rosinenpickerei zu Lasten von deutschen Arbeitnehmern, zum Lohndrücken, und zum Schaden der Herkunftsländer, deren Entwicklungschancen dadurch verschlechtert werden. Das ist die „arbeitgeberoptimierte“ Version von „offenen Grenzen“, löst aber keines der angesprochen Probleme.

    PS4: Was genau soll eigentlich „unteilbar“ sein? Dem Beitrag von Albrecht Müller: https://www.nachdenkseiten.de/?p=46491 bzw. dem dort zitierten Gründungsaufruf von „unteilbar“ entnehme ich, dass die Menschenrechte unteilbar sind. Das ist mir nicht neu. Aber neu ist mir, dass offene Grenzen für alle (bezogen auf Einwanderung) zu den Menschenrechten gehören sollen.

    1. Andreas Schlutter

      Der Beitrag von Albrecht Müller ist gut: “Im Aufruf „unteilbar“ sucht man vergebens nach einem Hinweis auf oder gar Protest gegen die Kriege des Westens und antidemokratische Regierungswechsel.” Der Aufruf ist schon sehr auf die Zielgruppe der links-intellektuellen, toleranten Bildungs- und Weltbürger zugeschnitten. Die Armut der hier lebenden kommt kaum vor, lediglich im Satz “Steuerlich begünstigte Milliardengewinne der Wirtschaft stehen einem der größten Niedriglohnsektoren Europas und der Verarmung benachteiligter Menschen gegenüber.” Die damit verbundene Verunsicherung oder Angst auch derer, denen es noch halbwegs gut geht, taucht gar nicht auf. Wie schreibt Urban:

      Doch die Indifferenz gegenüber den ökonomischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen dieser universalistischen Solidarität verblüfft.

      Stefan hat ja oben in einer Antwort schon diese “Halb-Welten” angesprochen, in denen sich viele einrichten. Das, was im Gründungsaufruf von #aufstehen steht, beschreibt zu Recht, wie die innere Solidarität in unserem Land durch unverantwortliche Politik zerstört wird. Solidarität im Inneren und internationale Solidarität, Wahrung und Durchsetzung der Menschenrechte für alle stehen auch meines Erachtens im Widerspruch zu der Position der offenen Grenzen.
      Wie hieß es doch stattdessen so passend im München auf zwei Demos im Juli und am 3. Oktober: #ausgehetzt – Gemeinsam gegen die Politik der Angst!
      Die Flüchtlinge, die Deutschland erreichen (in diesem Jahr bisher wohl nur ca. 100.000 Menschen), brauchen die notwendige Unterstützung, um hier ein sicheres und eigenständiges Leben zu führen. Wenn es gelingt, mit einer aktiven Friedenspolitik, Bundeswehreinsätzen nur zur Waffenstillstands- und Friedenssicherung unter UN-Mandat sowie einem selbstverständlichen Ende der Rüstungsexporte Syrien, Afghanistan, Jemen und Irak zu helfen, dann wird ein großer Teil der Flüchtlinge auch zurückehren und das hier erworbene Wissen, die hier gelernten Fähigkeiten gerne in ihrer Heimat einsetzen.
      Wenn Afrikaner*innen nicht in den Gemüseplantagen Italiens und Spaniens unter z.T. menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssten, sondern sich die Landwirtschaft in ihrer Heimat wieder lohnen würde, weil die Verträge zwischen der EU und den Afrikanischen Staaten heimische Märkte schützen und Entwicklung fördern würden, dann wäre der Wanderungsdruck viel geringer.
      Und wir stellen unsere Lebensweise derart um, dass die Umwelt, das Klima überhaupt noch so viel Wachstum im Globalen Süden ertragen können, dass die heißen Zonen überhaupt noch bewohnbar bleiben können.
      Meine Phantasie: wir setzen Stephan Lessenich und Sahra Wagenknecht auf ein Podium – und die Veranstaltung endet erst, wenn sie einen gemeinsamen, durchsetzungsstarken Entwurf für eine einende linke Position in der Flüchtlingspolitik erarbeitet haben.

  9. Andreas Schlutter

    Willi, noch etwas zu den Grünen, wissend, was sie mit der SPD unter Schröder alles mitverbrochen haben:

    Die Grünen profitieren davon, dass sie in der aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzung klar verortet sind. Sortiert man Parteien entlang der Achse liberal versus autoritär, stehen die Grünen eindeutig für das Liberale. Die Partei tritt für eine offene und freiheitliche Gesellschaft ein, für eine humane Flüchtlingspolitik und ein klares Bekenntnis zu Europa. (…) Nur die rechtspopulistische AfD hat ein ähnlich klares Profil wie die Grünen – die beiden Parteien sind Gegenpole.

    Aus Sicht des Rechtswissenschaftlers Christoph Möllers ist es für die Grünen „Fluch und Segen“ zugleich, dass keine andere Partei in der Wählersicht so weit von der AfD entfernt ist wie sie.

    Quelle: Fünf Gründe für den Höhenflug der Grünen
    Das ist in den heutigen Zeiten nicht nichts…

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