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Die Mosaiklinke

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Zeichnung: Klaus Stuttmann

Die  Balkanroute ist geschlossen. In Afrika werden die Grenzen gesichert mit deutscher Sicherheitstechnologie. In der Sahara sterben mittlerweile mehr Geflüchtete als im Mittelmeer. Die große Koalition in Berlin streitet sich wochenlang über einige wenige Flüchtlinge an den deutschen Grenzen und über die Frage, wie diese zurückgeschickt werden können in die Länder, die sie zuerst aufgenommen und registriert haben. Dabei ist eines klar: die Abschottung hat noch nie auch nur ein kleines Problem gelöst. Während sich die regierenden C- und S-Parteien den Rechstpopulisten nähern, ist die Linke zerstritten. Sie hat kein schlüssiges Migrationskonzept, das sie den Rechten entgegenstellen könnte.

Hans-Jürgen Urban, deutscher Gewerkschaftler und Mitglied des Vorstands der IG Metall, nennt seinen Beitrag in den Blättern, in der Ausgabe 09/2018 “Epochenthema Migration: Die Mosaiklinke in der Zerreißprobe [1]“.

Einig ist sich die Linke über die Ursachen der Migration: Kriege, politische Diktaturen, ethnische und religiöse Auseinandersetzungen.

Aber die Tiefenstruktur der meisten Konflikte ist in weltgesellschaftlichen Verhältnissen zu suchen, die durch eine obszöne und sich weiter verschärfende Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und allgemeinen Lebenschancen geprägt sind.

Nicht einig ist sich die Linke in der Beantwortung der Migrationsfrage. Eine mosaiklinke Verständigung muss daher von zwei konträren Positionen ausgehen:

Die Einen sagen: Es gibt ein Menschenrecht auf ein gutes Leben an einem selbst gewählten Ort. Daraus leitet sich ab ein Recht auf uneingeschränkte Migration und eine Welt ohne Grenzen (“Open Border”). In diesen politischen Forderungen dominieren somit die Interessen der Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, ihre Heimat verlassen haben. Ein bedingungsloser Antirassismus unterstützt diese Position. Es wird verzichtet auf die Frage, welche ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen in den Zielländern herrschen und ob deren Aufnahmemöglichkeiten begrenzt sind.

Die Anderen: Sie haben im Fokus die Verhältnisse in den Zielländern. Sie sehen den nationalen Wohlfahrtsstaat, fragen nach der sozialen Demokratie und sozialstaatlicher Solidarität. Sie sehen die Folgen der Migration für Arbeitsmärkte und vor allem für soziale Sicherungssysteme. Wichtig ist: Asyl-  und Fluchtgründe werden nicht eingeschränkt, eine freie Arbeitsmigration wird aber abgelehnt.

Gewarnt wird vor verschärfter Dumpingkonkurrenz und forcierter Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse sowie vor überforderten sozialstaatlichen Institutionen.

Hinzu kommt: Es gibt verstärkt Initiativen und Plädoyers für lokale Patriotismen und die Aufforderung, lokale Identitäten zu bewahren. Unterstützt wird diese “migrationssskeptische Positionierung” eindeutig von der neuen linken Sammlungsbewegung #Aufstehen.

Zur Kritik an beiden Positionen: Die Open-Border-Position steht für Empathie und das Zugeständnis, dass die Zuwanderung ein Epochenproblem ist.

Doch die Indifferenz gegenüber den ökonomischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen dieser universalistischen Solidarität verblüfft.

Es scheint so, als habe es hier einen Zugriff auf rechte Argumente gegeben: Aber eine “Migrationsflut” gibt es nicht und die Migration bedroht Europa nicht durch soziales Elend, durch politischen Terrorismus und durch kulturelle Entfremdung.

Befremdlich ist dann aber der “Gestus der moralischen Unfehlbarkeit”, mit der die No-Border-Fraktion ihre Argumente vorträgt. Wer die Fragen stellt, welche Anstrengungen für Geflüchtete und eben auch für einheimische Bedürftige geleistet werden, sieht sich schnell dem Rassismus-Vorwurf ausgesetzt.

Auf der anderen Seite: Menschen sind lokal verwurzelt und regionale Identitäten sind zu berücksichtigen. Doch sie dürfen nicht im Gegensatz zu universellen Wertorientierungen stehen. Aber es ist die strikte Unterscheidung zwischen Asyl, Flucht und Arbeitsmigration, die die Gefahr mit sich bringt, die bedrohte Situation derer zu unterschätzen, die “nur” aus sozialen Gründen nach Europa fliehen. Der wohl schwer wiegende Vorwurf an die Verfechter einer funktionalen Flüchtlingspolitik liegt aber darin, dass der Eindruck nicht vermieden wird, man habe Überschneidungen mit den rechtspopulistischen  Narrativen, um abtrünnige Wählerinnen und Wähler zurückzuholen.

Urban versucht nun, soziale Klassenpolitik und linken Internationalismus auf einen Nenner zu bringen, also eine gemeinsame mosaiklinke Perspektive zu entwickeln, eben weil die Linke hier blank und die Bedrohung von rechts zu groß ist. Er formuliert sieben Kernpunkte, die Bausteine eines linken Migrationskonzeptes sein müssten.

Ohne prinzipielle Opposition gegen rechts keine linke Glaubwürdigkeit, und ohne Empathie für die Geflüchteten keine linke Solidarität.

Zunächst fordert er unbedingte Solidarität. Es ist ein Privileg, in dieser Weltregion zu leben. Sich abschotten würde bedeuten, den Rechten nachzugeben. Diese sehen unseren Status durch die Migration gefährdet. Doch die in der Wohlstandsgesellschaft lebenden haben ihren Beitrag zu leisten.

Zur Bewertung der Thematik gehört, zweitens, dass “kapitalistische Realanalysen” die Grundlage der Diskussion bilden. Die internationale Solidarität muss basieren auf ökonomischen, sozialen und kulturellen Grundlagen, sonst ist sie nicht glaubwürdig.

Drittens: Die sozialen Sicherungssysteme sind umzustellen und zu öffnen für diejenigen, die nicht als inländische Beitrags- und Steuerzahler den Sozialstaat finanzieren konnten. Urban fordert die Ausweitung der sog. versicherungsfremden Leistungen und eine bedarfsorientierte Mindestsicherung.

Viertens: Es gibt ein Spannungsverhätnis zwischen offenen Grenzen und der Finanzierbarkeit des Sozialstaates.

“Sozial geht nur national”, lautet die mitgelieferte Botschaft eines neoliberalen Nationalismus, der aus einer humanen Migrationspolitik und finanzierbaren Sozialsystemen einen Antagonismus konstruiert.

Die Fixierung des Sozialen allein auf das Nationale lehnt Urban ab, weil diese zwangsläufig zur Forderung nach geschlossenen Grenzen führen muss.

“Grenzen zu” lautet die rechte Antwort, Arbeitsmarktintegration und eine Verteilungspolitik, die die erforderlichen Ressourcen an der richtigen Stelle holt, sollten Essentials der linken sein.

Eine höhere Besteuerung von Profiten, Vermögen und großen Einkommen ist also zwingend geboten.

Essentials linker Politik sind aber auch die Stärkung der Emanzipation von Frauen, von Immigranten, Farbigen und Angehörigen der LGBTQ-Gemeinschaften einschließlich eines unbedingten Antirassismus. Es sind aber auch immer die gesellschaftlichen Verhältnisse, so verstehe ich Urban, die Menschen zu Rassisten machen. Das bedeutet, dass die Konzentration linker Politik auf die Emanzipationsaufgaben ohne Berücksichtigung der kapitalistischen Ursachen nicht ausreicht.

Menschen werden nicht als Rassisten geboren, sie werden zu solchen (gemacht). Und wer das ändern will, muss sich um das “Emsemble der gesellschaftlichen Verhältnisse” (Karl Marx) kümmern, das sie prägt.

Sechstens: Also, die Spaltungslinien zwischen Geschlechtern, sexueller Orientierung oder ethnischer Herkunft vermengen sich mit sozialen Diskriminierungen. Da Geflüchtete mehrheitlich abhängig Beschäftigte sind, liegt hier die Aufgabe der Gewerkschaften, die oft vorhandenen sozialen und kulturellen Spannungen zwischen Lohnabhängigen und Flüchtlingen zu überbrücken.

Letzter Punkt: Wer die Grenzen dicht machen will, muss sich nicht um die Fluchtursachen kümmern. Das ist rechter Alibismus. Linke Politik muss aber auch die Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern ändern wollen. Diese Forderung ist internationalistisch, weil sie die Verantwortung der reichen Länder, der Zielländer in den Mittelpunkt stellt.

Oder ist es für linke Politik wirklich ohne Belang, dass die Lebensgrundlagen vieler in den Herkunftsländern durch Interventionen aus den Zentren zerstört werden: durch geostrategische Machtpolitik, durch die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den aufgezwungenen Fossilismus und durch die Befeuerung religiös oder ethnisch definierter Machtkonflikte?

Wie kann ein Fazit aussehen? Die Aufnahmegesellschaften müssen Anstrengungen erbringen. Es gibt aber auch sog. Tipping Points dort, wo der gesellschaftliche Konsens zerbricht. Über Rassismus sollte in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden.

Ein sehr kritischer Einwand kommt allerdings aus Frankreich: Sahra Wagenknecht, die Vertreterin des nationalen Kurses spiele mit dem Feuer, so heißt es in einem Beitrag des französischen Politikers und Publizisten Francis Wurtz [2].

Aber wie kann man als Vertreterin der Linken die Vorstellung gelten lassen, die Führungsmacht der Europäischen Union, die jährliche Handelsüberschüsse in Höhe von 250 Milliarden Euro anhäuft, – habe aufgrund von Migranten … – nicht die „ausreichenden Mittel“, um seine öffentlichen Dienste zu finanzieren und seinen „bedürftigsten Bürgern“ Hilfe zu leisten! Auf diese Weise – im Widerspruch zu den richtigen Kämpfen, die sie im Übrigen mit ihrer Partei führt – dazu beizutragen, den äußerst berechtigten Unmut der Millionen Menschen, die durch das Schröder-Merkel-Modell an den Rand gedrängt wurden, auf die Migranten zu lenken, ist das Letzte, was man von einer Vertreterin der Linken wie Sahra Wagenknecht erwartet.

Klare Worte! Urban verweist auf die erforderliche Transformationsperspektive des Kapitalismus und glaubt, dass ein gutes Leben von Flüchtlingen und Einheimischen in den Strukturen des Gegenwartskapitalismus nicht zu realisieren sei. Bis zu einer Überwindung des Kapitalismus möchte ich allerdings nicht warten. Ein schlüssiges Migrationskonzept  sollte schon bald ein Baustein der Bewegung #Aufstehen werden.

Bildquelle: Klaus Stuttmann[2]

Endnotes:
  1. [Image]: https://www.stuttmann-karikaturen.de/karikaturen/2010/Geschlossen2.jpg
  2. Klaus Stuttmann: http://www.stuttmann-karikaturen.de/