„Populismus“ und der persönliche Mangel an Glück

Trump, Salvini, Seehofer: Post- / Neo-ismen 2

(Einleitung hier)

von Stefan Frischauf

Vicolo in Palermo

1990 sprach Heiner Müller von der „totalen Besetzung mit Gegenwart“, die jetzt, zu diesem Zeitpunkt eintreten würde. Der Dramaturg und spätere Leiter des Berliner Ensembles interpretierte so Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ auf seine eigene Art. Ein historischer Zeitpunkt. Eine Zeitenwende.
Vielleicht aber auch eine nicht abgeschlossene, eher „halbgare“ Zeitenwende?

Was geschieht also, wenn die Vergangenheit verschwindet?
Welche Perspektiven gewinnt oder verliert eine mögliche Zukunft dann?
Und wie verhält es sich mit der Hoffnung, der Schwester des Glücks?
Und was bedeutet das wiederum für das zarte Pflänzlein „Demokratie“?

Theodor W. Adorno sagte 1959: „Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Unterwanderung bezeichnet ein Objektives; nur darum machen zwielichtige Figuren ihr Comeback in Machtpositionen, weil die Verhältnisse sie begünstigen.“1

Welche Verhältnisse und welche „persönlichen Dinge“ begünstigen also den Aufstieg welcher „zwielichtigen Figuren“ aus der Masse der Menschen und wer oder was vermag sich ihnen wie in den Weg zu stellen?

Trumps „Unglück“ und das Unglück seiner Wähler

Donald Trump macht insofern als „Einzelkämpfer“ gegen das Establishment beider Parteien im US-System das offenkundig, was seine viel besser im politischen System vernetzten beiden Vorgänger im Weißen Haus, George W. Bush und Barack Obama deutlicher verschleiern konnten: einen gewissen Machtverlust von staatlicher Politik im Sinne einer funktionierenden, „demokratisch legitimierten“ Gewaltenteilung per se und damit einhergehend einen zunehmenden Kontrollverlust von staatlichen Organen. Staatliche Organe, die aber auch dazu dienen, den einzelnen Bürger zu schützen. Die ihm oder ihr, in Deutschland „dem einzelnen grundgesetzlichen Souverän“ denn auch zu einem würdevollen Leben verhelfen sollen.

Trumps eigenes „Unglück“: seine Casino-Pleiten in Las Vegas und das Unglück der unteren weißen Mittelschicht von Kalifornien bis zum „Rust-belt“ der ehemaligen US-Stahlindustrie, von den großen Seen bis an die Ostküste vereinen sich da in gemeinsamen Zielsetzungen und direkt darauf folgenden schnellen Schuldsprüchen: die illegale Immigration, der Fingerzeig auf die Latinos und den südlichen Nachbarn Mexico, die Chinesen und inzwischen auch Europäer, die mit billigen Waren den unglücklichen US-Bürgern die Jobs wegnehmen.

Dass es die obere weiße US-Mittelschicht ist, die durch das Einkaufen billiger Dienstleistungen „illegale Immigration“ fördert und US-Unternehmen über Jahrzehnte alle Produktivkräfte außer Landes geschafft haben, wird dabei verschwiegen. Lösungen und Schuldige müssen hier und jetzt gefunden werden. Und zwar außerhalb des Landes.

„Die Schornsteine müssen wieder rauchen“:
„Klimawandel? – das ist ja alles nur Wetter!“
Die „Globalisierung“ frisst ihre Kinder, weil sie den Folgen des beschleunigten Abflusses von Profitströmen nur noch Scheinidyllen entgegenstellen kann.
„Früher war alles besser!“ wird so zu einer anderen Teilwahrheit.
Es war ja auch alles besser. Weil man es überwunden glaubte.

Italiens Vorreiterrolle einmal mehr

Nach vielen verdeckten oder offenen, gleichwohl aber irgendwie „populistischen Regierungswechseln“ allerorten hat sich in Italien einmal mehr eine Sonderkonstellation herausgebildet, die hier auch einer eingehenderen Betrachtung gewürdigt werden soll.

Dem Wahlsieg der erst 2009 gegen „die Vorherrschaft der politischen Kaste“2 in Italien gegründeten breiten Bürgerbewegung der „5 Sterne (M5S)“ im März folgten erwartet zähe Verhandlungen zur Bildung eines Regierungsbündnisses.
Die fünf Sterne stehen für „Umweltschutz, Universelles Recht auf sauberes Wasser, technologischen Fortschritt, öffentliche Breitbandkonnektivität und nachhaltige Mobilität“3. Weiterhin speist sich die Bewegung auch aus der gerade in den frühen 1990er Jahren formierten Anti-Mafia-Bewegung.

Mehrheiten bei der Wahl der Abgeordnetenkammer in den Wahlkreisen

Die Karte zum Wahlausgang vom 5. März 2018 zeigt insofern deutlich den Kontrast zwischen Norden und Süden: Überwiegende Mehrheiten im Norden und der Mitte für „Centrodestra“– das Mitte-Rechts-Bündnis (blau) von Berlusconis Forza Italia, Lega und anderen weiter rechten Parteien, Mehrheiten für Renzis PD und „Centrosinistra“ – das Mitte-Links-Bündnis in Renzis Heimat, Toskana und Umbrien (rot) und die überwältigenden Mehrheiten für das „Movimento 5 Stelle“ (M5S) im  „südlichen Mezzogiorno (gelb) mit einigen Inseln für Mitterechts etwa im Bereich von Napoli, aber auch in Catanzaro und über den Sila hinaus angrenzenden kalabresischen Provinzen.4

Inzwischen hat sich die Karte zeitweise sehr verändert: Nachdem Wahlverlierer Berlusconi dem Ausscheren der „Lega“ aus seinem Mitte-Rechts-Bündnis eine Freigabe erteilte und zwischen M5S und dem zweiten Wahlverlierer Renzi und seiner Mitte-Links-Partei der PD kein Bündnis zustande kam, bildete sich ein  Regierungsbündnis zwischen Lega und M5S.

Matteo Salvini als Innenminister und starker Mann der Lega hat inzwischen seine rechtsnationale Bewegung auf 32 % Umfragewerte gebracht.5 Die Karte müsste also derzeit viel mehr blau aufweisen mit einigen gelben Inseln.

Das Flüchtlingsthema dient einmal mehr zum populistischen Stimmenfang. Salvini hat damit auch viele im Süden mobilisiert, wo man vorher überwiegend für M5S gewählt hat. Und wo über viele Jahre Flüchtlinge aufgenommen wurden in infrastrukturell äußerst schwache Regionen. Salvini thematisiert dies geschickt und lenkt denn auch erfolgreich von den Kernproblemen ganz Italiens ab.

Die gerade nach mehr als 40 Jahren Bau- und Planungszeit eröffnete Autobahn 2 zwischen Salerno und Reggio Calabria dokumentiert das sinnfällig: Francesco Emilio Borrelli, der Fraktionsvorsitzende der Grünen („Davvero Verdi“) im Regionalparlament von Kampanien sagt, an der A2 lasse sich „beispielhaft aufzeigen, was in Italien alles schieflaufe: „Bürokratie, Korruption, Infiltration durch die Mafia und das Desinteresse Roms am Süden“ (NZZ v. 19. 02. 2016, S. 7).6

Salvini zündet jedoch wie alle populistische Nebelkerzen: sein “Engagement für den italienischen Süden” zielt nicht wirklich auf eine Lösung der von Borrelli aufgezeigten Kernprobleme dort. Aber – wie immer in solchen Zeiten wirkt das erst einmal.

Kanzlerin Merkel und das Verwalten von schwindendem Vertrauen

Der Streit zwischen Merkel und Seehofer indes ist nur ein weiteres Symptom eines Zerfalls politischer Kultur und der gesamteuropäischen Möglichkeiten zur Konsensfindung. Die „deutsche Flüchtlingskrise“ 2015 folgte einem viel zu langen Aussitzen dieser Themen, mit denen gerade strukturschwache Regionen wie Griechenland und Süditalien alleine gelassen wurden.

Merkels Zerreißproben für Groko und EU erweisen sich als zunehmend schwieriger. Die Argumente ihrer Gegner werden schärfer. Und sie erhalten auch ihre Berechtigung im langjährigen Aussitzen essentieller gesamteuropäischer Probleme, für die es nun kaum noch solche Lösungsansätze gibt.

Auch die Attacken der deutschen Leitmedien gegen M5S und gegen Italien als Ganzes sprechen da eine deutliche Sprache und schwächen letztlich alle Möglichkeiten, vernünftige Entwicklungen auf den Weg zu bringen.7

Dies erfordert aber zweifelsohne viel Arbeit. Und den Willen zur Gestaltung.
Ein Wille, der die Flucht in die zunehmende Verantwortungslosigkeit von Politik als reiner Verwaltungstätigkeit überwindet. Einem reinen Verwaltungsstil, der zudem meist mit äußerst autokratischem Duktus einer vermeintlichen „Alternativlosigkeit“ daherkommt. Zumal das Lernen aus Erfahrung immer weiter eingeschränkt wird.

Stellen sich die vom grünen Abgeordneten in Kampanien genannten Gründe für „süditalienische Misswirtschaft“ im Musterland im Kern Europas etwa so dar:

„Bürokratie, die Verantwortung stetig nach unten „delegiert“ und somit für Korruption in Form von effizienz-gesteuerten Quotierungen sehr offen ist, Infiltration durch privatwirtschaftlich mächtige Interessen und das Desinteresse reicher Wirtschaftszentren an strukturschwachen Regionen insbesondere im Osten, in kleinerem Maßstab aber allerorten regional und kommunal sichtbar“?

Eine progressive gesamteuropäische Politik muss an der Lösung dieser Kernprobleme nicht nur des italienischen Südens ansetzen.

Dies soll hier denn auch bald weiter verfolgt werden.

 

Anmerkungen:

  1. https://signale.cornell.edu/text/was-bedeutet-aufarbeitung-der-vergangenheit
  2. Hier ein kurzes Interview in einer Ausgabe des „Stern“ von 2011 über “La Casta” – Italiens Bibel der Wutbürger“ mit den Autoren des 2007 erschienenen Bestsellers zweier Journalisten des Corriere della Sera:
    https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/-la-casta—-italiens-bibel-der-wutbuerger-haushaltsbuch-des-italienischen-kluengels-3440688.html
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/MoVimento_5_Stelle
  4. https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentswahlen_in_Italien_2018#/media/File:Italian_2018_elections_Chamber_of_Deputies_constituencies.svg
  5. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-06/asylstreit-angela-merkel-plan-fluechtlingspolitik-eu-sondertreffen
  6. https://de.wikipedia.org/wiki/Autostrada_A2_(Italien)
  7. Danke einmal mehr an Petra Reski für die Aufbereitung vieler Infos dort, wo deutsche „Qualitätsmedien“ mit haarsträubenden „populistischen Allgemeinplätzen“ Meinung machen und, wie Petra sagt, die Deutschen als „die besseren Italiener“ darstellen, bisweilen gar in völliger Ignoranz von allem, was Italien und seine Bürger ausmacht M5S in die „Europafeindliche rechtspopulistische Ecke“ schreiben:
    http://www.petrareski.com/2018/03/05/20809/

Foto © beim Verfasser selbst

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5 Gedanken zu „„Populismus“ und der persönliche Mangel an Glück

  1. Ludger Elmer Beitragsautor

    Lieber Stefan,
    in Ermangelung eigener Expertise kann ich nur auf das Special der Kulturzeit vom 27.6. über Italien verweisen: http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=74426
    Ganz besonders auf das Gespräch mit dem Philosophen und Publizisten Paolo Flores d’Arcais von Minute 2:00 bis 8:10.
    Wir müssen uns wohl damit beschäftigen, was Faschismus ist. Hätte ich nie für möglich gehalten, dass diese Gefahr auch für uns so real ist.

  2. Ludger Elmer Beitragsautor

    Einige Äusserungen von Paolo Flores sind so markant:
    “… der Stolz der Eliten auf die Ungleichheit … die nationale Herrschaft rassistischer Art … weil unmenschliche Entscheidungen getroffen sind … die Ungleichheit wächst auf explosive Art und Weise … die Linke hat sich selbst zerstört … sie ist eine Rechte geworden … wenn Veränderung links nicht möglich ist, sucht sie sich die Bevölkerung auf der rechten Seite … die 5-Sterne-Bewegung vereint alles, von den radikalen Linken bis zu den Faschisten … es ist ekelhaft zu sagen, Migranten seien mit Kreuzfahrtschiifen gekommen … es gibt Menschen, die ihre Privilegien verteidigen wollen und solche, die Privilegien angreifen, um ihre rassistische Herrschaft zu etablieren …”

    Und bei uns sprechen sie von Asyltourismus und wollen rechtlich gegen die Retter vorgehen. Wo ist da der Unterschied?

    1. Stefan Frischauf

      Danke Ludger.
      Habe einen anderen markanten Artikel von Paolo Flores d’Arcais von 2010 schon unzählige Male verlinkt.
      “Die Dummheit der Linken
      Silvio Berlusconi wäre längst Geschichte, wenn seine Gegner nicht so viele verheerende Fehler gemacht hätten”.
      Und in Deutschland hat man dann immer wohl gedacht: “Das geht ja nur um Italien! Die mit ihrem blöden Berlusconi.”
      Auch bei Linken, Grünen, Sozialdemokraten. Durch die Bank.
      Es ist aber zumindest – ich sage mal: 0,8 zu 1 übertragbar.
      Sag ich jetzt einfach mal so:
      https://www.zeit.de/2010/47/P-Berlusconi/komplettansicht

      1. Andreas Schlutter

        Ja, die Aussagen von Paolo Flores d’Arcais sowohl aus der Kulturzeit als auch aus dem Jahr 2010 sind richtig und wichtig. Und Söders Wortwahl unterscheidet sich wohl nur noch graduell von Salvini, wie Ludger schon richtig angemerkt hat.
        Die Linke nahezu in ganz Europa hat in den letzten 20 Jahren eklatante Fehler gemacht. Exemplarisch für Frankreich hat Didier Eribon dies hervorrragend herausgearbeitet in “Rückkehr nach Reims”, aber auch in der europäischen Frage hat sie versagt, wie der französiche Philosoph Étienne Balibar in einem Interview mit dem Freitag beschreibt:

        “Viele von uns haben ja geglaubt, dass die von oben betriebene Vereinigung Europas einen hinreichend starken Zwang ausüben würde, sodass die politische Debatte über die Grenzen hinweg reichen würde – wo doch so viele Hindernisse im Weg stehen: die Sprache, die unterschiedlichen politischen Kulturen, die Krise der politischen Organisationen, der Aufstieg der Technokraten zur Macht und das Monopol der nationalen politischen Klassen. All das zusammen hat nun aber bewirkt, dass sich die Menschen auf ihre angestammten Territorien zurückgezogen haben, welche ihnen doch geradezu beständig entgleiten. Und eben darauf beziehen sich die Diskurse, die sich auf demagogische Weise auf die nationale Vergangenheit berufen. Aber die Linke steht vor der Aufgabe, sich der wirklichen Welt zu stellen.

        Unser Irrtum als Linke hat auch darin bestanden, dass wir geglaubt haben, dass der Aufbau Europas die nationale Frage als veraltet erledigen oder auch nur relativieren würde. Die gegenwärtige Krise beweist das Gegenteil: der Nationalismus ist keineswegs das Privileg einer bestimmten Nation oder bestimmter Regionen. Die rein negative Auffassung der eigenen nationalen Interessen ist heute in Europa eben das, worin sich eigentlich alle einig sind. Es gibt einfach kein Land mehr in Europa, das nicht befürchten würde, von seinem Nachbarland ausgebeutet oder im Globalisierungsprozess aufgelöst zu werden – als dessen Instrument die EU dient.”

        Wie also das Thema Nation von Links besetzen und mit Internationalismus, der Solidatität der Völker ergänzen? In der Flüchtlingsfrage, in einer Neuerzählung, was “Europa” sein kann etc.

      2. Andreas Schlutter

        Ergänzen möchte ich noch, dass sich die Linke der sozialen Frage viel stärker zuwenden muss, wobei in Deutschland die SPD nahezu komplett ausfällt (Cansel Kiziltepe und Marco Bülow sind mit ihrer progressiven sozialen Plattform eine der wenigen Ausnahmen). Die AfD besetzt die Frage zunehmend völkisch-nationalistisch, die CSU lenkt mit der Fokussierung auf die sog “Flüchtlingsfrage” von der sozialen Frage ab und stärkt damit die AfD. Die Verteilungsfrage muss stärker in den Vordergrund, dabei brauchen wir aber auch eine Strategie, die klar macht, dass Deutschland insgesamt Nutznießer der Verwerfungen innerhalb der EU ist, was sich ebenfalls dringend ändern muss. Die soziale Frage ist also auch eine europäische Frage, an der die EU zu zerbrechen droht, wie Balibar zutreffend beschreibt.

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