Eurokrise (4) – Deutschland ist kein Vorbild

Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, behandelt im Teil 4 die Frage, ob das Verhalten Deutschlands in der Eurokrise ein Vorbild für die anderen europäischen Staaten sein könne.

Zunächst ist es allerdings ein anderer Mythos, mit dem Bofinger aufräumt: Deutschlands wirtschaftliche Stärke sei vorwiegend auf die Agenda 2010 zurückzuführen.

Die geringe Arbeitslosigkeit und die Exportstärke des Landes lassen sich wohl nicht wirklich begründen durch die sog. „Sozialreformen“, durch den Wegfall der Arbeitslosenhilfe, durch den Abbau von Lohnnebenkosten. Deutschland sei immer schon stark gewesen, sagt Bofinger, es habe allerdings die Kosten der Wiedervereinigung verkraften müssen. Dadurch sei die Staatsverschuldung gestiegen und die Rentenkassen belastet worden, das Wachstum habe darunter gelitten.

Die starke Stellung Deutschlands auf den Weltmärkten begründet Bofinger mit der überwiegend familiären Struktur der deutschen Unternehmen, die ihnen eine große Unabhängigkeit von den Finanzmärkten und deren kurzfristigen Renditeerwartungen verschaffe.

Die Hartz-Reformen haben die Langzeitarbeitslosigkeit reduziert aber die Ungleichheit der Einkommensverteilung beschleunigt. Auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft hätten sie allerdings keinen entscheidenden Einfluss gehabt.

Bofinger spricht nicht davon, dass die Arbeitslosigkeit zu Lasten der Beschäftigten im neu geschaffenen Niedriglohnsektor (“prekäre Beschäftigung”) gesunken ist. Auch die reale Lohnentwicklung unterhalb der Produktivitätsentwicklung, die uns gerade gegenüber Frankreich  große Handelsbilanzvorteile beschert hat, davon will Bofinger nichts wissen.

Hier war es doch der Niedriglohnsektor, der verbunden mit der geringeren Tarifbindung der Arbeitgeber die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften so stark beeinträchtigt hat, dass die volkswirtschaftlich erforderlichen Reallohnerhöhungen (entsprechend Produktivitätssteigerungen plus Inflationsrate) nicht mehr durchzusetzen waren.

Nein – Bofinger verweist in seinem Beitrag “Mythos-4: Deutschland ist ein Vorbild für Europa“ im IMK-Buch „Die 10 Mythen der Eurokrise“  auf die „ausgeprägte Lohnmoderation“ (Lohnzurückhaltung), die in Deutschland in der Zeit zwischen 2000 und 2007 ein Sinken der Lohnquote von 72% auf 63% bewirkte sowie die preisliche Wettbewerbsfähigkeit und die Gewinnsituation der deutschen Wirtschaft verbesserte. Die Hartz-Reformen traten erst zum Januar 2005 in Kraft, sie waren hier sicherlich noch nicht ausschlaggebend, aber die andauernde Diskussion über den „kranken Mann Europas“ und über die hohen Lohnnebenkosten nach der Regierungserklärung zur Agenda 2010 von Gerhard Schröder im März 2003 hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Lohnquote ist dann wieder gestiegen dank der Kurzarbeit 2008, weil in der Wirtschaftskrise, in der das BIP um 5% eingebrochen war, das Lohnniveau nicht in gleichem Ausmaß zurückging.

Entscheidend aber in der Frage, ist Deutschland mit dieser Lohnmoderation ein Vorbild für Europa und hätten die anderen Länder auch so handeln sollen, ist das Fazit, dass Deutschlands Exporterfolge nur deshalb zu erzielen waren, weil die anderen Länder eben keine Lohnmoderation übten. Sie haben sich in dieser Phase verschuldet, wir haben davon profitiert. Wenn wir nun fordern, sie sollten ihre Defizite verringern, dann wirkt sich das auch auf unsere Exportbilanz und auf unsere Beschäftigung aus – die aktuellen wirtschaftlichen Daten belegen dies.

Aber was Bofinger so interessant macht, ist die Frage, die er anschließend diskutiert: Welche Rolle spielen diese sog. „Reformen“ überhaupt für die wirtschaftliche Stärke eines Landes? Bofinger sagt, im Falle Deutschland lasse sich ein Zusammenhang nicht belegen! Deutschlands Arbeitsmarkt sei – im Vergleich zu anderen – noch stark reguliert, heißt also, dass die Flexibilisierung bei uns noch nicht so weit fortgeschritten sei wie in den angelsächsischen Ländern.

Und es sei den in einem höherem Ausmaß deregulierten Wirtschaften Großbritanniens oder der USA nur durch fiskalpolitische Maßnahmen, also durch höhere Verschuldung und expansivere Geldpolitik (niedrige Zinsen) – verglichen mit der Politik der EZB im Euroraum – gelungen, die Wirtschaftskrise zu verhindern.

Die Lohnmoderation bringt quasi als „interne Abwertung“ Vorteile für diejenigen, die sie isoliert praktizieren. Sie ist so etwas wie die alte „beggar-my-neighbour-policy“ („Mach-meinen-Nachbarn-zum-Bettler-Politik“) durch die Abwertung der eigenen Währung. Da dieses Instrument in der Währungsunion nicht mehr zur Verfügung steht, hat Deutschland seine Strategie auf den Arbeitsmarkt verlegt und damit auf das Preisniveau seiner Waren.

Wenn es in einer Währungsunion unterschiedliche Inflationsraten gibt, dann ergeben sich Handelsungleichgewichte. Die EZB hat eine Wirtschaftspolitik empfohlen, die eine einheitliche jährliche Inflationsrate von 1,9 % vorsieht. Deutschland hält sich nicht daran.

Bofingers Widersprüche, wenn er den Zusammenhang zwischen Deutschlands wirtschaftlicher Stärke und der Agenda 2010 verneint, lassen sich wie folgt festmachen:

Die deutsche Lohnmoderation hat eben auch zu Lohnsteigerungen unterhalb der Produktivitätssteigerungen (plus Inflationsrate) geführt und die Agenda 2010 hat nicht nur Rentenkürzungen und Einschnitte in sozialstaatliche Leistungen gebracht, sondern auch den Niedriglohnsektor geschaffen, manifestiert (Gerhard Schröder hat sich 2005 vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos gebrüstet, er hätte einen der besten Niedriglohnsektoren in Europa geschaffen) und damit die Lohnverhandlungen auch oberhalb des Niedriglohnsektors zuungunsten der Arbeitnehmerseite beeinträchtigt.  Zusätzlich zur Lohnmoderation sind mehr und mehr prekär Beschäftigte, z.B. Leiharbeiter (wie in Teilen der Automobilindustrie) eingesetzt worden. Somit haben beide Effekte, die Lohnmoderation – und nur diese führt Bofinger an – und der Niedriglohnsektor das Lohnniveau gedrückt und Deutschlands Exportstärke begünstigt.

Aber dann gibt es bei Bofinger doch einen Punkt, in dem Deutschland Vorbild ist. Es hat in Deutschland insgesamt eine beträchtliche Verkürzung der Arbeitszeit gegeben – das BIP ist gestiegen, die Zahl der Beschäftigten – 6,2% mehr seit der Jahrtausendwende – ebenso, die Anzahl der Arbeitsstunden insgesamt ist konstant geblieben, die Arbeitszeit der Erwerbstätigen hat sich im gleichen Zeitraum um 5,6% verringert.

Bofinger sagt: „Arbeitslosigkeit lässt sich am besten durch Arbeitszeitverkürzung bewältigen.“ In der Rezession, wenn Kurzarbeit und Ausgleich von Arbeitszeitkonten einen Beschäftigungseinbruch vermeiden, stimme ich ihm zu.

Allerdings: Gerade die „Working Poor“ tragen unfreiwillig zu dieser Arbeitszeitverkürzung bei: viele Teilzeit-Arbeitsverhältnisse dürfen nicht nur als Beschäftigung gewertet werden sondern sie sind versteckte, nicht registrierte Arbeitslosigkeit. Viele Betroffene wollen mehr arbeiten.

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4 Gedanken zu „Eurokrise (4) – Deutschland ist kein Vorbild

  1. Willi

    Das Erstaunliche an Bofingers Beitrag in dem oben verlinkten Buch “Die 10 Mythen der Eurokrise” ist, dass er in der Agenda 2010 keinen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sieht.

    Bofinger: “Es steht außer Zweifel, dass die Lohnmoderation wesentlich zu einer Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit und der Gewinnsituation der deutschen Industrie beigetragen hat.” Diese Lohnmoderation sieht Bofinger im Zeitraum 2000 – 2007. Dass Deutschland im Handel mit Ländern innerhalb und außerhalb der EU so gut da steht, liegt also ganz wesentlich daran, dass deutsche Arbeitnehmer über Jahre mit Nettolohnsteigerungen unterhalb der Produktivitätsentwicklung abgespeist wurden (und dass die Inflation in Deutschland weit unter den in der Eurozone verabredeten 2 Prozent liegt). Soweit einverstanden.

    Bofinger: “Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist also keine neue Errungenschaft, die auf die „Reformen“ der Regierung Schröder zurückzuführen wäre.” Die Hartz-IV-Reformen sind erst 2005 in Kraft getreten können deshalb die Lohnmoderation im Zeitraum 2000 -2007 nicht maßgeblich beeinflusst haben. Zudem habe sich die Lohnquote nach 2007 trotz Hartz-IV wieder auf 67 % erhöht (2013).

    Bezogen auf den Zeitraum bis 2007 ist Bofingers Analyse m.E. schlüssig.
    Dass die verwirklichten Teile der Agenda 2010 auch nach deren Inkrafttreten sich nur unwesentlich ausgewirkt haben, das kann ich nicht glauben. Immerhin räumt auch Bofinger ein, dass “Reformen eine Lohnmoderation befördern können, insbesondere wenn sie die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer schwächen.” ALG II-Empfänger haben überhaupt keine Verhandlungsposition, sie müssen jedes Jobangebot annehmen. Im unteren bis mittleren Einkommensbereich dürften diese “Reformen” deutliche Spuren hinterlassen haben. Zeitarbeit und Werksverträge tragen ebenfalls zur Lohndrückerei bei.

    Damit will ich nur sagen, dass auch die sogenannten (Struktur-)Reformen einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit leisten.
    Ich will damit nicht sagen, dass Deutschland damit eine Vorbildfunktion einnimmt! Der Niedriglohnbereich richtet (neben der Verarmung der Betroffen) auch ernste Schäden an: Schwächung des Binnenhandels, Reduzierung von Steueraufkommen und Sozialversicherungsbeiträgen, Altersarmut, Verlagerung von Kosten auf Sozialkassen und Staatskassen, usw.

    Ich würde deshalb die Wirkungen der “Reformen” durchaus dem Bereich der Lohnmoderation zurechnen. Sie können wirtschaftliche Erfolge für einzelne Staaten bringen, wie im Falle Deutschland zu sehen ist.
    Aber Bofinger schreibt ganz klar: “Wenn jedoch die Mehrzahl der Mitgliedsländer des Euroraums den Versuch unternimmt, über eine Politik der Lohnmoderation (interne Abwertung) wettbewerbsfähiger zu werden, und wenn zugleich in Deutschland keinerlei Bereitschaft besteht, Lohnerhöhungen vorzunehmen, die über den Produktivitätsfortschritt und eine Zielinflationsrate von knapp zwei Prozent hinausgehen, muss das Ganze in einer *Deflation* enden.”
    Und diese Gefahr wird mit jedem Tag größer, solange unsere Regierung nicht zum Umdenken bereit ist.
    Willi

  2. Andreas Schlutter

    Ich glaube, man muss hier differenzieren. Ab 1998 versuchte die Regierung Schröder, das “Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit” zu schmieden und daran DGB und BDA zu beteiligen. Auch wenn dieses Bündnis, das u.a. zum Ziel hatte, flexible Arbeitszeiten, eine Unternehmenssteuerreform, eine dauerhafte Senkung der Lohnnebenkosten, eine strukturelle Reform der Sozialversicherung, die zur Senkung des Faktors Arbeit führt, durchzusetzen, schließlich 2003 scheiterte, so muss man davon ausgehen, dass es den Weg – auch und gerade im öffentlichen politischen Diskurs – freimachte für die Agenda 2010.
    Die massive Ausweitung der Leiharbeit sowie die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften, die schon in den 90er Jahren begann, sind m.E. wesentlich für die Entwicklung. Bofinger hat vermutlich Recht, dass die Einführung des SGB II zum 01.01.2005 (“Hartz IV”) hier letztlich kaum von Bedeutung ist. Durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe konnte Geld gespart werden, es war und ist bis heute ein Instrument der Disziplinierung, ganz klar. Aber es betrifft vorrangig nicht die Industrien, die im internationalen Wettbewerb stehen. Da wirken andere Faktoren, neben der massiven Ausweitung der Leiharbeit nämlich auch die von dir, Willi, benannten Werkverträge – z.B. auf Schlachthöfen, sodass weder Griechenland noch Belgien so günstig schlachten können wie Deutschland.

    Wenn man darüber nachdenkt, warum die Gewerkschaften sich überhaupt auf die Lohnmoderation eingelassen haben, muss man sicher über die deutsche Einheit und das Scheitern der IG Metall beim Kampf um die Einführung der 35-Sunden-Woche in den neuen Bundesländern reden. Schließlich sind sie bis heute nicht aus der Defensive gekommen.

    1. Willi

      “Da wirken andere Faktoren, neben der massiven Ausweitung der Leiharbeit nämlich auch die von dir, Willi, benannten Werkverträge – z.B. auf Schlachthöfen, sodass weder Griechenland noch Belgien so günstig schlachten können wie Deutschland.”
      Da gebe ich Dir recht, Andreas.
      Bofinger spricht von “Agenda 2010”, “Harz-IV”, “Reformen”, “Struktur-Reformen”. Das gehört weitgehend in den selben Topf und ist dem Bemühen um Lohnsenkungen zuzurechnen. Ich meine auch nicht nur Hartz-IV (auch wenn Bofinger das explizit erwähnt) und habe deshalb von den “verwirklichten Teilen der Agenda 2010” geschrieben. Ich meine damit alle gesetzlichen Maßnahmen, die zum Drücken der Lohnkosten beschlossen wurden. Ähnlich meint es wohl auch die Bundesregierung, wenn sie die anderen EU-Länder zu Reformen nach dem deutschen “Modell” drängt.

      Bei Flassbeck gefunden: Die Reallöhne sinken im deutschen Aufschwung.
      Die Grafik bestätigt nicht unbedingt Bofingers Interpretation. Danach war 2004 bis 2008 die in Summe größte Delle bei den Reallöhnen, und diese könnte auch in zeitlicher Hinsicht sehr wohl durch die Agenda 2010 verstärkt worden sein. Danach auch Reallohnzuwächse, die aber (bis auf 2011 und 2012) unterhalb des Produktivitätsfortschritts liegen dürften. Und ab 2013 wieder Reallohnsenkungen! Die Reallohnentwicklung ist also weiterhin unzureichend und nicht geeignet, Bofingers Warnung vor einer Deflation zu vermeiden.

      Diese Statistik gibt keine Differenzierung nach Branchen her. Ich gebe Andreas recht, dass zwischen exportorientierten Branchen und anderen vermutlich Unterschiede bestehen.

  3. Andreas Schlutter

    Zur Ergänzung der Journalist Marc Neller:

    „Die Agenda 2010, (…) ,das sind gesenkte Lohnnebenkosten, liberalisierte Zeitarbeit, Minijobs, Privatrente. Das sind zehn Euro Praxisgebühr und das Herzstück der Reform: Hartz IV, die Verschmelzung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem niedrigen Niveau der Sozialhilfe. Die Grünen haben alles mitgetragen. Doch genau genommen war die Agenda die Sache einer Riege von Männern in der SPD, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurden und in der Wirtschaftswunderzeit der Adenauer-Ära aufgewachsen sind, Männern, die die Aufstiegsmöglichkeiten der sechziger und siebziger Jahre genutzt und sich nach ganz oben gearbeitet haben. Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Walter Riester, Wolfgang Clement, Hans Eichel, die Berater Bert Rürup und Peter Hartz und ein paar Vertraute Schröders, die im Hintergrund mitgedacht haben, vor allem sein Kanzleramtschef: Frank-Walter Steinmeier, die nächste Generation.“

    Marc Neller: Rot-Grün – Die Privatisierer, Die Zeit 26. Oktober 2010

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