Die SPD hat bei der Bundestagswahl am 24.9. ein Desaster erlebt, ihr Anteil ist auf 20,5% gesunken. Sie hat damit seit 1998 prozentual die Hälfte der Wähler verloren, damals waren es noch 40,9%.
Die Aufzeichnung der Wählerbewegung zeigt ebenfalls ein dramatisches Bild: Nicht nur sind eine Million Wähler von CDU/CSU zur AfD übergelaufen, es sind ebenfalls eine Million zur AfD gewechselt aus dem Wählerbestand von SPD und Linken (zum großen Teil ehemalige und/oder potentielle SPD-Wähler), jeweils ca 500.000.
Da sollte es Anlass genug sein, eine schonungslose Analyse der Ursachen vorzunehmen. Es treffen sich so viele Ortsvereine und Unterbezirke in diesen Tagen. Martin Schulz, Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat, kündigt eine organisatorische, personelle und inhaltliche Erneuerung an.
Wie sieht so eine Aufarbeitung einer deftigen Wahlniederlage aus?
Zunächst zeigt der Vorsitzende des Unterbezirks eine Menge Folien, die alle das gleiche aussagen: In Bayern liegt die SPD traditionell noch mal 5 Prozentpunkte hinter dem Bundestagsergebnis. Die AfD liegt in einigen Orten und Wahlbezirken noch vor der SPD. Der SPD-Kandidat Michael Schrodi im Wahlkreis Dachau/Fürstenfeldbruck hat – mit Ausnahme der Münchner Kandidaten – das beste Erststimmenergebnis eines SPD-Kandidaten in Oberbayern errungen.
Dann folgen die einzelnen Diskussionsbeiträge und die geäußerten Meinungen lassen aufhorchen:
These Nr. 1: In diesem Ort haben so viele AfD gewählt, obwohl die Arbeitslosigkeit dort gar nicht hoch ist.
Es ist doch nicht die Arbeitslosigkeit sondern die Situation der Working Poor, der Leiharbeiter, der Aufstocker, der befristet Beschäftigten, der 1,5 Mio Tafelbesucher, der 40% abhängig Beschäftigten, die in den letzten 20 Jahren keine Reallohnsteigerung erfahren haben. Sie sind die Abgehängten, die in Scharen zur AfD übergelaufen sind.
These Nr. 2: Die Medien sind schuld.
Dass im TV-Duell – was ja ein TV-Duett war – vorwiegend über Flüchtlinge und Innere Sicherheit gesprochen wurde, liegt auch an der gekürzten Programmatik der SPD. Themen wie Klimapolitik, Friedenspolitik, Freihandel, Fluchtursachen und europäische Austeritätspolitik sind im Wahlprogramm der SPD überhaupt nicht behandelt worden.
Andererseits, ich würde mir wünschen, dass die Medien die SPD eines Tages von vorne bis hinten zerreißen. Wenn n-tv und Phönix, SZ und die Welt, TAZ und FAZ, ARD und ZDF die SPD eines Rückfalls in den Sozialismus verdächtigen, dann spricht viel dafür, dass eine inhaltliche Erneuerung stattgefunden hat.
These Nr. 3: Die große Koalition ist schuld.
Wie kann das richtig sein, wenn der Niedergang der SPD seit 1998 kontinuierlich verläuft? Es sind doch nur leichte Korrekturen an der Agenda 2010 in der letzten Legislaturperiode vorgenommen worden. Der Mindestlohn ist 10 Jahre zu spät gekommen, hat noch viel zu viele Ausnahmen und ist, um ein würdevolles Leben zu ermöglichen, viel zu niedrig. Wer glaubt, ein höherer Mindestlohn würde höhere Arbeitslosigkeit hervorrufen, der sei erinnert an die Einwände vor der Einführung. Sie sind alle nicht eingetreten. Heiner Geißler hat auf einer seiner letzten Auftritte im Münchner Literaturhaus gesagt, der Mindestlohn sei nicht dazu da, das Existenzminimum zu sichern, sondern habe lediglich den Sinn, Wettbewerbsgleichheit zwischen den Arbeitgebern herzustellen, also Lohndumping zu verhindern. Welche Konsequenzen ziehen wir daraus?
These Nr. 4: Wir müssen vorbereitet sein auf die Digitalisierung.
Die Digitalisierung ist doch nur eine Fortsetzung der andauernden Rationalisierung in der Wirtschaft und kostet Arbeitsplätze, ob wir sie Digitalisierung oder Automatisierung nennen. Warum setzen wir dem nicht massive Forderungen nach einer Lohnpolitik, die Produktivitätsfortschritte entweder als Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen – mit vollem Lohnausgleich – entgegen?
These Nr. 5: Die soziale Gerechtigkeit muss in den Mittelpunkt gestellt werden. Wir haben versäumt, das zu konkretisieren und zu sagen, was meinen wir damit?
Ich frage meinen Nachbarn, ob er SPD wählen würde, wenn er Leiharbeiter sei und 58% des Lohnes bekommt, den sein Kollege, der fest beschäftigt ist, erhält? Und befristet ist die Leihe sowieso.
Wer die Spiegel Story über den Journalisten, der Monate lang im Wahlkampf von Martin Schulz bei allen Besprechungen und Auftritten dabei war, liest, der kann nicht verstehen, warum der Kandidat nach einem inhaltlich und argumentativ erfolgreichen Wahlkampfauftakt – die SPD war bei 30% – von dieser Linie abgewichen ist und auf Schmusekurs umgestellt hat? Dass Hannelore Kraft in ihrem NRW-Wahlkampf dafür verantwortlich sei, kommt mir wie ein Märchen vor.
These Nr. 6: Wir sind eine Volkspartei. Wir müssen für alle da sein.
Das Wort Hartz IV durfte man im Wahlkampf der SPD gar nicht in den Mund nehmen und über die Sanktionen erst recht nicht sprechen. Jeglicher Sozialneid, der aufkam, wenn es um die Betreuung der Flüchtlinge ging, wäre im Keim erstickt gewesen, wenn es nicht die großen Versäumnisse in der eigenen Sozialpolitik gäbe, wenn wir nicht zigtausende von Obdachlosen und die vielen Tafelgänger hätten. Viele sagten, was tut ihr denn für diese? Wir sind doch ein reiches Land.
These Nr. 7: Wir haben zu wenig thematisiert, wie wir den Menschen die Ängste nehmen angesichts der Flüchtlingssituation.
Anstatt der CSU hinterherzulaufen hätten wir den Mut zeigen müssen, die unmenschlichen Abschiebungen in unsichere Herkunftsländer zu unterbinden, den Familiennachzug zu fördern und Arbeitserlaubnisse großzügiger zu erteilen. Wir hätten uns auf das Urteil der beiden großen Kirchen verlassen können.
These Nr. 8: CDU und SPD sind sich so ähnlich.
Die Agenda 2010 haben wir durchgesetzt und die CDU hat Beifall geklatscht. Unser Parteitag hat den Exkanzler Gerhard Schröder in die erste Reihe gesetzt. Er durfte sogar das Grußwort sprechen, der sich Jahre vorher auf die eigene Schulter geklopft hatte, weil er den größten Niedriglohnsektor in Europa geschaffen habe.
These Nr. 9: Es gab keine Wechselstimmung.
Wenn wir wirklich den Mut hätten, über Neoliberalismus zu sprechen und zu definieren, was es ist, nämlich
- der erfolgte Sozialabbau (Niedriglohnsektor, Hartz IV, prekäre Arbeit)
- die Steuergeschenke für Konzerne und Reiche
- die Privatisierung der Güter der Daseinsvorsorge
- die ungebrochene Dominanz der Finanzmärkte
- die europäische Austeritätspolitik
dann könnten wir auch erklären,
- warum der Pflegezustand im privatisierten Dachauer Krankenhaus ein unsäglicher ist, so dass sich eine Rekommunalisierung nahezu aufdrängt,
- warum die HSH-Nordbank 20 Mrd € an faulen Krediten aufweist, weil sie Reedern den Aufbau ihrer Kapazitäten finanzierte, und dass der Steuerzahler mal wieder dafür gerade stehen muss, weil das geförderte Geschäftsmodell nicht getragen hat,
- warum durch unsere Straßen nach wie vor die Logistiksklaven fahren, weil die Privatisierung der Deutschen Post so hübsche Renditen eingefahren hat,
- warum im österreichischen Rentensystem auf eine Privatisierung verzichtet wurde und heute alle Erwerbstätigen einzahlen, was zu einer deutlich höheren Rente als hierzulande führt,
- warum in den südlichen Ländern Europas die Jugendarbeitslosigkeit so groß ist,
- und und und.
Wir könnten so viele Geschichten erzählen, negative und positive, dass es nicht lange dauern sollte, dass die Bürger sich den Wechsel wünschen würden. Aber zuerst müssten wir uns wohl selber ändern.
Michael Schrodi hat diese Fragen in seinem Wahlkampf deutlich angesprochen, auch die Fehler der SPD thematisiert:
Die größte Gefahr für den inneren Frieden unserer Gesellschaft sieht Schrodi in zunehmender sozialen Spaltung, dem bröckelnden sozialen Zusammenhalt. Wenn die Busfahrerin oder der Krankenpfleger ihre Miete nicht mehr zahlen könnten und sich mit mehreren Jobs in prekären Arbeitsverhältnissen über Wasser halten müssten, dann drohe ihnen die Armutsfalle nicht erst im Alter.
Er hat sicherlich auch deswegen so gut abgeschnitten, weil er die Dinge beim Namen genannt hat.
Norbert Häring hat die Versäumnisse der SPD der letzten Jahre zutreffend aufgelistet:
Wenn die SPD nicht bereit ist, das zu erkennen und sich damit auseinanderzusetzen, wofür braucht es dann noch diese Partei?
Die Diskurse scheitern immer wieder an den ganz verschiedenen Wahrnehmungen. Jeder scheint seine oder ihre Situation als Absolutum zu empfinden. Insofern bleibt alles beim relativ vernagelten Alten. Vorerst.
Die Konsensfähigkeit – nicht nur in den Ortsvereinen – sie bleibt so immer wieder auf der Strecke. Und – ganz schnell machen sich wieder neue Abgrenzungen – offensive Abwehrreaktionen breit.
Blicke über den Tellerrand durchaus komplexer Gemengelagen, die aber gleichwohl recht gut auf einige Stichworte und damit verbundene klare Kanten zurückzuführen sind, bleiben so erst einmal außen vor.
Vorerst. Steter Tropfen unterspült jede Mauer. Und bahnt manchen Weg durch Dornen und Gestrüpp um diese herum.
Danke, lieber Ludger Elmer, dass Du das hier einmal mehr gut auf den Punkt gebracht hast.
Herzliche – und solidarische Grüße aus dem Rheinland nach München.
SPD
Erneuerungsziele
Politische Grundsätze:
Ein relevanter teil der Bevölkerung in Deutschland fühlt sich in seinen Ängsten gegenüber einer als immer undurchschaubarer empfundenen Welt von der politik nicht wahrgenommen. Diese Ängste reichen von der Sorge um die eigene soziale Sicherheit, den Arbeitsplatzerhalt bzw. die digitalisierungsgeschuldete Veränderung der Arbeitsanforderungen bis zu Fragen der inneren und äußeren Sicherheit. Ängste sind schlechte Berater und führen im Moment rechten Bewegungen und Parteien Wählerstimmen und Befürworter zu.
1. Die rechtsstaatliche öffentliche Sicherheit muss in Deutschland und Europa für alle Bürger gewährleistet sein. Diese Sicherheit ist ein essentielles Grundrecht aller Menschen.
2. Nulltoleranz gegen Intoleranz. Wir brauchen eine wehrhafte Demokratie, die die ethischen Grundlagen unserer Gesellschaft offensiv verteidigt. Diese Verteidigung als intolerant zu verschreien ist nichts als feige Vogelstraußpolitik. Es bleibt aber eine Frage der politischen Urteilskraft, wann durch was die Demokratie durch intolerantes Verhalten gefährdet ist. Die Deutungshoheit über diese Entscheidung dürfen sich die Demokraten nicht aus der Hand nehmen lassen. Diese Basis muss garantiert sein, damit politische Aktivität entfaltet werden kann.
3. Die zukünftige digitale-globale Gesellschaft bringt Veränderungen mit sich, deren Folgen für den Einzelnen nicht absehbar sind. Deshalb leidet ein großer Teil der Bevölkerung unter massiven Existenz-Ängsten. Wir brauchen neue politische Visionen. Auch die SPD braucht solche zeitgemäße und vermittelbare sozialdemokratische Visionen zur Gestaltung der modernen Europäischen Gesellschaft.
4. Die SPD muss das Label “Partei des kleinen Mannes“ zurückholen! In den Jahren 2003 /04 holte sich Kanzler Schröder die IG-Metaller Riester und Hartz, um das Sozial- und Rentensystem in Deutschland bis 2005 umzubauen, weil man Angst hatte, den Staat durch das Sozialsystem bankrott zu wirtschaften und weil man Deutschland für den kranken Staat hielt, der Europa in den Untergang treibt! Die Haushalte 2004 und 2005 waren Nothaushalte, die sowohl den EURO-Schuldenkriterien als auch Verfassungsvorgaben widersprachen. Die gestiegenen Kosten des Sozialsystems erlaubten keine Investitionen mehr. (Dieses Problem haben bis heute einige andere europäische Länder nicht gelöst!) Dann hat Müntefering die Rente mit 67 eingeführt, obwohl als die SPD und die Gewerkschaften zeitgleich noch die Rente mit 63 gemeinsam planten.
Heute sind andere Zeiten und der Haushalt des Bundes ist saniert. Es bleiben pro Jahr ca. € 15 Mrd. mehr übrig als geplant. Manche angstgetriebene Maßnahme von 2005 hat sich als übertrieben herausgestellt. Man hat Fehler bei der Sozialreform gemacht (besonders wenn man Angst hat, ist das verständlich!)!! Aber man muss diese Fehler dann auch zeitnah, spätestens jetzt mit den Haushaltsüberschüssen korrigieren! Jetzt muss die SPD Riester und Hartz korrigieren! Man darf das Geld, was man den Armen zuviel vorenthalten hat, nicht durch Steuersenkungen an die Reichen und die Mitte verteilen! Das Rentenniveau muss gesichert werden und eine Mindestrente eingeführt werden.
Von Herkunft und Zielsetzung her versteht sich die SPD als partizipative Volkspartei. Für die Arbeitsweise ergibt sich daraus:
5. Die politische Handlungskompetenz der SPD erwächst auf der Grundlage von konkreten politischen Zielen und Visionen, denn politisches Handeln hat immer mit konkreten Dingen zu tun. Die SPD muss diese Ziele und Visionen klar und verständlich formulieren und vertreten. Mit ihnen muss auch deutlich gemacht werden, wer davon Profitieren soll und wer dafür auf Privilegien verzichten muss.
6. Die SPD muss ihre Fähigkeit zu politischen Kampagnen wiedererlangen. Solche Kampagnen dienen der Information über die angestrebten Ziele und zur Mobilisierung der Bürger. Sie sind essenzielle Elemente zur politischen Willensbildung und sind Teil des grundgesetzlichen Auftrags an politische Parteien.
7. Zum Entwickeln von konkreten „bürgernahen“ Zielen ist der Kontakt zur potentiellen Wählerschaft unabdingbar. Dieser kann über Hearings, Befragungen, Sprechstunden etc. hergestellt werden. Aufgabe der politisch agierenden ist es dann, die so gewonnenen Anregungen und Infos zu sortieren und ggf. politische Ziel daraus zu generieren.
Lieber W.Ruck,
die notwendige Herausforderung ist doch, dass es der richtigen Analyse bedarf, um daraus die richtigen Schritte abzuleiten. So, wie Sie es unter Punkt 4 schreiben, war Hartz IV damals eine fast schon alternativlose Notfallmaßnahme. Und genau hier liegt das Problem. Deshalb möchte ich hier Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff zitieren, die u.a. Folgendes im August 2013 auf den NachDenkSeiten geschrieben haben.
Der Staat war nicht arm, der Staat ist durch die Politik von Kohl, Schröder und Merkel arm gemacht worden. Hilfreich in diesem Zusammenhang auch der Beitrag “Staatsverschuldung als Herrschaftsstrategie” von Prof. Mohssen Massarrat, der Ende September auf dem Blog vom Handelsblatt- Autor Norbert Häring. Zitat:
Für die SPD heißt das anzuerkennen, dass die Versöhnung mit dem Neoliberalismus ab Ende der 1990er ein kapitaler Fehler war. Und dies gilt es aufzuarbeiten.
Lieber Andreas,
du schreibst: “Veräußerungsgewinne beim Verkauf von Betriebsvermögen wurden 2002 völlig steuerfrei, was die unheilvollen Aktivitäten der Hedgefonds dramatisch begünstigte.”
Gemeint ist hier das so genannte 8b-Privileg, wonach Veräußerungen von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, die von anderen Kapitalgesellschaften gehalten werden (Holding-Konstruktion) zu 95% steuerfrei sind.
Ansonsten gebe ich Dir komplett Recht, was Deine sonstigen Ausführungen betrifft. Das Erschreckende dabei ist, dass nicht etwa die Union diese Steuersenkungen beschlossen hat, sondern die Rot/Grüne Regierung bzw. die große Koalition unter maßgeblicher Federführung eines Finanzministers der SPD.