Anlässlich der Diskussionsveranstaltung 30-Stunden-Woche – Ein Einstieg in ein fortschrittliches Projekt in Europa? am 22.06.2016 veröffentlichen wir hier einige interessante Beiträge zum Thema Arbeitszeit bzw. Verkürzung der Vollarbeitszeit. Den Anfang machen wir mit einem Beitrag der Sozialwissenschaftlerin und Autorin Gisela Notz, ursprünglich im März 2013 erschienen in Lunapark21 – Heft 21.
von Gisela Notz
„Freiheit für die Frauen, Freiheit für das Volk – durch eine Neuorganisierung des Haushaltes und der Industrie.“ Das war das Motto der Frauen um die Zeitung „La femme libre – Die freie Frau“, die sie um 1832 in Frankreich herausbrachten. Neuorganisierung und Neuverteilung des Haushalts und in der Industrie, sprich der Arbeit im Beruf, auf Frauen und Männer, also die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben, davon erhofften sich die „Freien Frauen“ mehr Freiheit für alle Menschen.
Damals betrug der Arbeitstag in den Fabriken 12 bis 15 Stunden. Frauen und Kinder waren es vor allem, die die schlechtesten von den ohnehin schon schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigsten von den ohnehin niedrigen Löhnen zu ertragen hatten; bei ebenso langen Arbeitszeiten. Leider ist die gleichmäßige Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit auch heute noch eine Utopie. Aber: Es ist eine konkrete Utopie, also keine wirklich unlösbare Aufgabe. Mit der Umsetzung kann hier und jetzt begonnen werden.
Kleine Geschichte der Arbeitszeitverkürzung
Die Erwerbsarbeitszeiten sind seit dem 19. Jahrhundert Gegenstand dauernder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Die Bestrebungen der Arbeiterbewegung richteten sich stets darauf, die betrieblichen Arbeitszeiten zu standardisieren und zu verkürzen und den Arbeitstag erträglicher zu gestalten. Viele Arbeitskämpfe dienten diesem Ziel, auch wenn sie zunächst verloren wurden. Wer kennt nicht das Bild der entschlossen dreinschauenden, streikenden Textilarbeiterinnen von Crimmitschau (Sachsen) von 1903/04? Fünf Jahre nach Ende des Streiks wurde der Maximalarbeitstag in Sachsen auf zehn Stunden herabgesetzt.
Von den arbeitenden Männern hatten sie wenig Unterstützung zu erwarten. Die dachten vor allem an ihre bezahlte Arbeit. Ihr vordringlicher Wunsch war es, wie es aus einer Petition an Kaiser Wilhelm II. deutlich wird, „so viel zu verdienen, dass wir unsere Familien ehrlich und ordentlich ernähren können.“ Viele Arbeiterinnen lehnten schon damals die Alternative Berufs- oder Familienarbeit ab und auch für die meisten Arbeiter wurde die gewünschte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zum Problem, weil eine entsprechend bezahlte Arbeit schwer zu finden war. Von Seiten der Unternehmer wurde der Forderung nach einer allgemeinen Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit stets mit hinhaltendem Widerstand begegnet.
Bis zum Ersten Weltkrieg prägte die Forderung nach dem 8-Stunden-Tag die Kundgebungen zum 1. Mai: Die Triade je acht Stunden Arbeit, Schlaf und Erholung sollte den Tag bestimmen. Wobei „Erholung“ für die Arbeiterin etwas anderes bedeutete, als für den Arbeiter. Den Unternehmern konnten nur schrittweise einzelne freie Stunden abgerungen werden. Die 54-Stunden-Woche galt zu Beginn des Ersten Weltkriegs schon als Fortschritt. Erst nach Ende des Krieges, mit der Revolution von 1918, wurde in Deutschland die Forderung nach einem „Normalarbeitstag“ von 8 Stunden erfüllt. Die wirtschaftlichen Krisenzeiten der 1920er Jahre führten zur schrittweisen Aushöhlung dieser Errungenschaft, bis sie während der Nazi-Diktatur völlig außer Kraft gesetzt wurde.
Mit der Forderung „40 Stunden sind genug“ schlugen die Gewerkschaften erst 1955 eine Brücke zur Diskussion der Zeit vor 1933: Im Zeichen hoher Erwerbslosigkeit sollte Arbeitszeitverkürzung dazu führen, dass die bezahlte Arbeit gleichmäßiger verteilt wurde. Doch erst in den 1960er Jahren gelang es, schrittweise den 8-Stunden-Tag und die 5-Tage-Woche zu verwirklichen.
Auch in der arbeitszeitpolitischen Diskussion zu Beginn der 1980er Jahre – damals ging es um die 35-Stunden-Woche – wurde die allgemeine Arbeitszeitverkürzung durch die Unternehmer immer wieder abgelehnt. Sie bevorzugten diverse Formen der Arbeitszeitflexibilisierung. Als 1983 die 38,5-Stundenwoche für die Metallindustrie durchgesetzt wurde, wurde die konkrete Umsetzung den betrieblichen Parteien zugewiesen; sie sollten die wöchentliche Arbeitszeit durch Betriebsvereinbarungen regeln. Die Gewerkschaften haben sich, indem sie sich auf diese Regelungen einließen, ihrer vereinheitlichenden Rolle durch Tarifverträge beraubt. Der flexiblen Arbeitszeitgestaltung wurde Tür und Tor geöffnet.
Von frauenpolitischer Seite wurde schon damals befürchtet, verschiedene Formen der Flexibilität würden das Abdrängen von Frauen aus der Erwerbsarbeit bzw. an die unattraktiven Randzonen des bezahlten Arbeitsmarktes begünstigen – mit prekären Arbeitsverhältnissen und Teilzeitarbeitsplätzen, von deren finanziellem Erlös die dort arbeitenden Frauen nicht leben können. Feministinnen forderten seit Beginn der 1980er Jahre eine allgemeine Verkürzung der Vollzeit-Erwerbsarbeit mit dem Sechs-Stunden-Tag. Die Gewerkschaften sahen sich vor dem Dilemma, dass durch das verstärkte „Eindringen der Frauen“ in den Organisationsbereich Arbeitszeitwünsche, die vom „Normalarbeitstag“ abwichen, zunahmen. Auch scheinbar an den Interessen der Frauen orientierte Konzepte, die erlauben, auf differenzierte Arbeitszeitwünsche zu reagieren, sind immer mit einem Dilemma verbunden: Sie können von den Flexibilisierungsstrategien der Unternehmer vereinnahmt werden. Bislang gelang es nie wirklich, Arbeitszeitverkürzung und Arbeitszeitflexibilisierung so zu verbinden, dass allgemeine Schutzfunktionen im Interesse der Arbeitenden erhalten bleiben. Die Einführung immer flexiblerer, kapitalbestimmter Frauenarbeitszeiten hat ein damals nicht zu ahnendes Ausmaß angenommen. Sie geht auf Kosten der eigenständigen Existenzsicherung. Aktuelle Armut und Altersarmut sind die Folgen.
Was heißt Vollbeschäftigung?
Unsere Arbeitsgesellschaft ist im wesentlichen immer noch so strukturiert, dass von einem „Normalarbeitsverhältnis“ mit Männern, die in der Erwerbsarbeit arbeiten, und Frauen, die in der Familie und im sozialen Ehrenamt arbeiten, allenfalls ergänzt durch einen weiblichen „Zuverdienst“, ausgegangen wird. Diesem Arbeitsverständnis liegt die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nach dem Vorbild der bürgerlichen Kleinfamilie zugrunde, die für Arbeiterhaushalte nie funktioniert hat. Die (Wieder-)Herstellung dieser traditionellen „Vollbeschäftigung“ ist aus feministischer Sicht nicht wünschenswert, weil sie für Frauen die Verantwortung für die Reproduktionsarbeiten festschreibt. Weder Beruf noch Familie in der jetzigen Struktur sind geeignet, „beides“ zu vereinbaren. Das heißt, dass sich sowohl die betriebliche als auch die außerbetriebliche Arbeitswelt ändern und die Arbeiten neu verteilt werden müssen.
Auch wenn das „Hausfrauenmodell“ heute ausgedient zu haben scheint, sind es weitestgehend Frauen, die vorübergehend oder teilzeitig aus dem Beruf aussteigen um häusliche, verwandtschaftliche und freundschaftliche Care-Arbeiten zu leisten. Selbst in Familien mit zwei berufstätigen Erwachsenen übernehmen Frauen zwei Drittel der Haus- und Sorgearbeiten. Der Unterschied zwischen den Arbeitszeiten von Männern und Frauen (GenderTime Gap) von über neun Stunden in Deutschland ist einer der größten in Europa und der stärkste Ausgrenzungsmechanismen für Frauen von Geld, Macht und Anerkennung.[1] Das „Ernährermodell“ (vollzeitarbeitender Mann und Hausfrau) findet sich noch immer in einem Viertel aller Paarhaushalte mit Kindern.[2] Nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich, auch die Schere der Ungleichverteilung von Erwerbsarbeit und Geld zwischen den Geschlechtern geht immer weiter auseinander. Die Zielorientierung der egalitären Erwerbsbeteiligung zwischen Frauen und Männern; ebenso wie die egalitäre Verteilung der übrigen gesellschaftlich notwendigen Arbeiten – nicht nur individuell sondern auch gesamtgesellschaftlich gesehen – fehlt in der bundesdeutschen Politik.
Frauen haben andere Arbeitszeitwünsche, weil sie andere Arbeitszeiten haben
Das betrifft die bezahlte, wie die unbezahlte Arbeit. In allen Ländern des früheren Bundesgebietes ist der Hauptgrund der Übernahme prekärer Arbeitsplätze durch Frauen die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Personen beziehungsweise sonstige familiäre oder persönliche Verpflichtungen (56%). 19 Prozent arbeiten verkürzt, weil sie keinen ganztägigen Arbeitsplatz finden konnten.[3] Im Gegensatz dazu nennen Frauen in den neuen Bundesländern als Hauptgrund für ihre Teilzeittätigkeit, dass eine Vollzeitstelle nicht gefunden werden konnte (49%). In den neuen Ländern gilt Teilzeitarbeit demnach in sehr viel stärkerem Maße als Notlösung. Männer üben zu einem wesentlich geringeren Anteil (acht Prozent Ost und West) Teilzeittätigkeiten aus als Frauen. 40 Prozent dieser Männer arbeiten „unfreiwillig“ auf einer Teilzeitstelle, 23 Prozent, weil sie sich in Aus- oder Weiterbildungen befinden. Familiäre oder persönliche Gründe (8%) spielen bei Männern eine untergeordnete Rolle.
Teilzeitbeschäftigte Frauen möchten häufig mehr Stunden arbeiten, als ihr aktueller Arbeitsplatz zulässt. Fast die Hälfte aller teilzeitbeschäftigten Frauen und zwei Drittel der Mini-Jobberinnen würden nach Forschungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) die Erwerbsarbeitszeit gerne ausweiten. Im Schnitt würden teilzeitbeschäftigte Frauen ihre vereinbarte Wochenarbeitszeit gerne um vier Stunden erhöhen und geringfügig beschäftigte Frauen um neun Stunden. Insgesamt ergibt sich eine Wunscharbeitszeit der Frauen von rund 32 Stunden wöchentlich. Vollzeitbeschäftigte Männer möchten Forschungen des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) zufolge oft weniger arbeiten, vor allem würden sie gerne die Überstunden reduzieren. Insgesamt gesehen liegen die Wünsche von Männern und Frauen zwischen 30 und 35 Stunden.
Perspektiven
Die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit im Bereich der Vollzeit-Erwerbsarbeit (30- Stunden-Woche für alle Geschlechter) ist ein erster Schritt, um eine gerechte Verteilung der (jetzt) bezahlt geleisteten und der (jetzt) unbezahlt geleisteten gesellschaftlich notwendigen und nützlichen Arbeiten zu erreichen. Letztlich geht es um eine Umstrukturierung, Neudefinierung, Neugestaltung, Neuverteilung und Neubewertung von Arbeit in allen Arbeitsbereichen und um eine Umverteilung der Verantwortung auf alle Geschlechter. Durch eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit würden jetzt von der Erwerbsarbeit Ausgeschlossene die Möglichkeit einer bezahlten Arbeit erhalten. Personen, die jetzt so viel arbeiten, dass sie keine Zeit für die unbezahlten Arbeiten haben, bekommen die Möglichkeit, sich in die unbezahlten Arbeiten einzuklinken. Für die Übernahme der reproduktiven Arbeiten müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Es geht um die Schaffung kollektiv organisierter, tariflich bezahlter professioneller Dienstleistungen, pädagogischer und menschenwürdiger, pflegerisch wertvoller Infrastruktur und um legale und versicherungspflichtige betrieblich oder genossenschaftlich organisierte Arbeitsverhältnisse auch in diesen Bereichen.
Eine andere Verteilung von (jetzt) bezahlt und (jetzt) unbezahlt geleisteter Arbeit wird für viele Frauen eine Verkürzung ihres gesamten Arbeitstages bedeuten, für manche Männer aber auch eine Verlängerung. Dass eine Neugestaltung und –verteilung aller Arbeitsaufgaben mit der Qualifizierung der Personen für alle Arbeitsbereiche einhergehen muss, versteht sich von selbst. Neben den fachlichen und pflegerischen Kompetenzen sind soziale und kritische Kompetenzen notwendig, die dazu befähigen, sich kritisch mit der betrieblichen, gesellschaftlichen, aber auch mit der „privaten“ Wirklichkeit auseinander zu setzen und Verantwortung zu übernehmen.
Schließlich geht es um die Möglichkeit der Teilhabe von Frauen und Männern am ganzen Leben. Ohne eine Zusammenarbeit von sozialen Bewegungen, Frauenbewegungen und Gewerkschaftsbewegung wird das lange phantasierte Projekt nicht gelingen.
Gisela Notz ist als Sozialwissenschaftlerin und Autorin freiberuflich in Berlin tätig. Sie schrieb bereits im kritischen Gewerkschaftsjahrbuch 1985 einen Artikel mit dem Titel: „Mehr Zeit zum Schaffen, Träumen, Kämpfen. Für eine feministische Arbeitszeitpolitik“
Anmerkungen:
[1] Der Abstand bei den Arbeitszeiten (bezahlte Lohnarbeit) von Männern und Frauen vergrößert sich. Er ist deutlich unterschiedlich in West- und Ostdeutschland. In Westdeutschland ist der Abstand der durchschnittlichen Arbeitszeit zwischen Frauen und Männern von 7,0 Stunden im Jahr 1991 auf 9,6 Stunden im Jahr 2010 angestiegen. In Ostdeutschland hat sich dieser Abstand von 2,8 Stunden im Jahr 1991 auf 4,8 Stunden im Jahr 2010 vergrößert. Angaben nach: WSI GenderDaten-Portal, 14.
[2] IAB-Kurzbericht 9/2011.
[3] https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Arbeitsmarkt.html
Der Beitrag unterliegt dem Copyleft der Zeitschrift LunaPark21 zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie.
Die Grafik unterliegt dem Copyright der Initiative “Arbeitszeitverkürzung jetzt!”.
Beitrag versenden