“Kalte Progression” – aus dem Wortschatz des neoliberalen Neusprech

Foto: Tim Reckmann / CC BY-NC-SA 2.0

Die “kalte Progression” ist ein Problem, oder? Stimmt ja auch mit dem eigenen Gefühl überein. Und war ja auch schon vor dem Beschluss des CDU-Bundesparteitags immer wieder in den Medien zu hören. Der Staat bedient sich auf unanständige Weise bei der eigenen Lohnerhöhung, oder? Fühlt sich so an, ist aber im Rückblick auf die steuerpolitischen Entscheidungen der letzten 18 Jahre so nicht richtig, sondern vor allem dazu geeignet, den Staat zu diskreditieren. Steuern hemmen das Wirtschaftswachstum – so die gängige Erzählung – und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das gilt im Zweifel für alle Steuern – außer wohl den Verbrauchssteuern, deren Erhöhung auch der ärmste Schlucker noch zu (er)tragen hat. Lange Rede, kurzer Sinn: das öffentlich Jammern über die “kalte Progression” ist neoliberales Neusprech, es soll uns verwirren und die herrschenden wirtschaftspolitischen Ausrichtung mit Hilfe der Medien absichern. Dazu ein Berechnungsbeispiel:

Nehmen wir eine unverheiratete Person, ohne Kinder und konfessionslos, also in der Steuerklasse 1. Unterstellen wir, dass das Gehalt immer im Folgejahr um den Betrag steigt, um den die Inflation im Vorjahr gestiegen ist.

Beginnen wir beispielsweise im Jahr 2002 – also mit dem Jahr der Einführung des Euro:

2002 Monat
Bruttoverdienst 2.000,00 €
Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag 308,50 €
Sozialversicherungsabgaben 434,00 €
Nettolohn 1.257,50 €
Steuerabzüge (incl. Soli) 15,43 %
Summe aller Abzüge 37,13 %

Von 2002-2013 hatten wir eine kumulierte Inflationsrate von 19,3 %. Kommen wir also zum Jahr 2014:

2014 Monat
Bruttoverdienst 2.386,00 €
Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag 315,79 €
Sozialversicherungsabgaben 487,35 €
Nettolohn 1.582,86 €
Steuerabzüge (incl. Soli) 13,24 %
Summe aller Abzüge 33,66 %

Berechnungsgrundlage: Brutto-Netto-Rechner von SPIEGEL ONLINE sowie für den Krankenversicherungsbeitrag die Beitragssätze der AOK Niedersachsen.

Das heißt, wir haben in den letzten 12 Jahren eine deutliche Entlastung auch der unteren Einkommen gehabt, sofern es sich oberhalb des steuerrechtlichen Existenzminimums abspielt. Aktuell liegt der Grundfreibetrag für eine alleinstehende Person bei 8.354 € im Jahr.

Wesentliche Nutznießer der Entscheidungen der letzten Jahre sind allerdings die Spitzenverdiener unter den Arbeitnehmern, bleiben wir wieder bei unverheirateten Person ohne Kinder und Kirchensteuer:

2002 Monat
Bruttoverdienst 20.000,00 €
Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag 9.234,76 €
Sozialversicherungsabgaben 876,38 €
Nettolohn 9.888,85 €
Steuerabzüge (incl. Soli) 46,17 %
Summe aller Abzüge 50,56 %

Kommen wir wieder zum Jahr 2014:

2014 Monat
Bruttoverdienst 23.860,00 €
Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag 9.574,92 €
Sozialversicherungsabgaben 1.035,26 €
Nettolohn 13.249,82 €
Steuerabzüge (incl. Soli) 40,13 %
Summe aller Abzüge 44,47 %

Die Gesamt-Entlastung der höheren Einkommen fällt also nicht nur nominell, sondern auch prozentual deutlich höher aus. Und sie erfolgte vor allem über Steuersenkungen. “Leistung muss sich wieder lohnen”, heißt der bekannte neoliberale Spruch, dessen Wirkung hier zu sehen ist. Und der schädlich für das Gemeinwesen, für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft ist.

Dagegen ist bei geringen Einkommen die Steuerbelastung nicht das Problem, damit kann über eine Steuersenkung auch keine Entlastung erfolgen. Nehmen wir ein klassisches Familienmodell: Ehepaar, zwei Kinder, ein Verdiener in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis. Bei einem Bruttoverdienst von aktuell 1.800 € werden lediglich 1,33 € Lohnsteuer fällig, aber die Sozialversicherungsabgaben sind mit 363,15 € prozentual genauso hoch wie bei einem Einkommen an der Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung (aktuell 4.125 €). Wer am steuerfreien Existenzminimum lebt, muss dennoch Sozialabgaben in vollem Umfang zahlen. Selbstredend ist für diese Bevölkerungsgruppe keine private Altersabsicherung finanzierbar, dauerhaft zeichnet dies den Weg in die Altersarmut vor.

Also, in den letzten Jahren gab es auf Grund der Steuersenkungen, die vor allem mit der Rot-Grünen Regierung Schröder nach 1998 begonnen haben, eine Entwicklung, die die “kalte Progression” als Lügenmärchen entlarvt, als Blendinstrument aus der ideologischen Mottenkiste.

Die Probleme liegen doch ganz woanders: die vorhandene Erwerbsarbeit ist in den letzten 15 Jahren nahezu unverändert geblieben, die Zahl der Erwerbstätigen steigt allerdings. Unfreiwillige Teilzeit, Niedriglohnjobs, Leiharbeit und Werkveträge sind die Stichworte, die die Prekarisierung zunehmend größerer Bevölkerungsgruppen beschreiben. All das soll natürlich über solche unnützen Diskussionen wie die über die “kalte Progression” weggeschoben werden aus dem öffentlichen Bewusstsein. Es ist eine Spielart der Austeritätspolitik, die unsere Gesellschaft seit 30 Jahren im Klammergriff hat.

Eine progressive, emanzipative Debatte sollte sich also gar nicht an diesem Begriff abarbeiten. Wir müssen nachdenken über eine Anhebung des Spitzensteuersatzes, die Wiedereinführung einer Vermögensteuer, den Ausbau der Einkommensteuer sowie die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung im Kranken- und Rentenversicherungsbereich. Und natürlich müssen alle Einkommensarten gleich besteuert werden, die Privilegierung der Kapitalerträge begünstigt ausschließlich die Wohlhabenden und Reichen. Wir müssen uns anlegen mit den Interessen der großen Versicherungskonzerne und all der Unternehmen, die von der Umverteilung von unten nach oben profitieren. Die Lösung der Verteilungsfrage ist eine der zentralen Aufgaben, um den Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu ermöglichen.

Bildquelle: Tim Reckmann / CC BY-NC-SA 2.0

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2 Gedanken zu „“Kalte Progression” – aus dem Wortschatz des neoliberalen Neusprech

  1. Andreas Schlutter Beitragsautor

    So, jetzt habe ich noch einmal ein anderes Beispiel gerechnet – und doch noch kalte Progression trotz der Steuerreformen der letzten Jahre gefunden, aber…

    Bleiben wir bei dem monatlichen Bruttoeinkommen von 2000 € in 2002, dieses Mal aber verheiratet und zwei Kinder. Der Lohnsteuerabzug beträgt 65,83 €. 12 Jahre später: vom Brutto in Höhe von 2.386 € müssen nun 90,67 € gezahlt werden. Die Lohnsteuer ist inflationsbereinigt um 18,43 % gestiegen. Also gilt für Familien das nicht, was für Singles gilt? Sieht so aus, dabei stellen CDU/CSU und SPD doch immer Familie ins Zentrum ihrer Politik, oder?
    Man muss genauer hinschauen: zu dem Nettoeinkommen in Höhe von 1.505,16 € in 2002 kamen 308 € Kindergeld hinzu, macht also 1.813,16 € verfügbares Einkommen.
    Und 2014 kommen zu einem Nettoeinkommen in Höhe von 1.813,95 € noch 368 € Kindergeld hinzu, das macht 2.181,95 €.
    Das verfügbare Einkommen incl. Kindergeld ist um 20,33 % höher als 12 Jahre zuvor – oder inflationsbereinigt um 1,03 %. Deutlich schlechter als bei Alleinstehenden, aber es ist zumindest nicht weniger geworden.
    Gut – mit dem obigen Einkommen gehört man zur “einkommensschwachen Mitte“, also nicht so richtig zur Mittelschicht.

    Folgerichtig sieht es auch besser aus mit 3.000 € in 2002 bzw. 3.579 € in 2014:
    Lohnsteuer ist von 321,50 € auf 346,33 € gestiegen, nur noch 7,7 % mehr, also auch hier eine Entlastung. Das verfügbare Einkommen incl. Kindergeld steigt übrigens von 2.343 € auf 2.878,60 €, das sind inflationsbereinigt immerhin 3,56 % mehr.

    Also liegt die Vermutung nahe, dass Familien knapp oberhalb des Grundfreibetrags überproportional belastet werden, und nicht die “klassische Mittelschicht”.

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