Der neue Bürgerkrieg, Macron und die Chance der SPD

Quelle: Ullstein Verlag

Der neue Bürgerkrieg (1)

“Das offene Europa und seine Feinde” – Das ist der Untertitel des neuen Taschenbuchs von Ulrike Guérot, die seit 2016 Professorin und Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems/Österreich ist. Ihr erstes Kapitel überschreibt sie “Europa im Kalten Frieden” und sie identifiziert die Eurokrise und die Flüchtlingskrise, die unzureichend gemanaged wurden und Europa gespalten haben, in Nord und Süd und in Ost und West.

Ulrike Guérot spricht von einem “sich ankündigenden europäischen Bürgerkrieg”, von der “Konfrontation zwischen der Elite und der oligarchischen Politikerkaste und unzufriedenen Populisten, die beanspruchen, das Volk zu sein.”

Sie vergleicht die heutige Situation mit der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – “damals die Masse der Landarbeiter und von der Industrie verdrängte Handwerker, heute die unqualifizierten und prekären Arbeitnehmer”, die Modernisierungsverlierer.

Sie führt weiter aus:

Die Demokratie wird nicht mehr für die beste Staatsform gehalten.

Die EU, die sich gern als Friedensmacht versteht und einer wertegebundenen Außenpolitik verpflichtet fühlt, hat von der Agrapolitik bis hin zur Handels- und Ressourcenpolitik in anderen Teilen der Erde Unfrieden gesät, nicht zuletzt im Nahen Osten, der dabei ist, unter europäischer Mitverantwortung zu explodieren.

Daraus sind Flüchtlingskrise und Terror entstanden, die Rechtspopulisten profitieren davon. Angeblich sollen europäische Werte verteidigt werden – mit den Mitteln der Sicherheit und der Abschottung. Banken sind geretttet worden – aus privaten Schulden wurden staatliche. Eine Haftungsgemeinschaft für die Banken gibt es bis heute nicht,  dies würde einen Staatsbankrott unmöglich machen.

Da die Eurokrise als  Verteilungskrise nicht politisch gelöst werden konnte, blieb nur der Rückfall in Nationalismus und Chauvinismus, beides Brutstätten des heutigen Populismus.

Europäische Staaten und nicht demokratisch legitimierte Kräfte – Finanzmärkte, Exportindustrie, Troika – kämpfen mittels struktureller Gewalt gegeneinander. Allein 2012/13 fielen in Frankreich mehr als eine halbe Million Industriearbeitsplätze der Sparpolitik und der deutschen “Lohnzurückhaltung” – vulgo: Lohndumping – zum Opfer, die die Ungleichgewichte in der Eurozone verschärft haben und auch von offizieller Seite, z.B. vom IWF, kritisiert wurden.

Der Kontinent ist nicht nur sozial zerfallen sondern auch identitär.

Der Verlust der ökonomischen Souveränität sucht sich Ersatz in der vermeintlich homogen-völkischen, “kulturellen Identität” des Nationalstaates.

Offene Grenzen sollen für Wirtschaft und Güter gelten – für Menschen nur dann, wenn sie Lohndumping ermöglichen. Im Brext-Votum haben sich die Arbeiter in den vernachlässigten Regionen gerächt. Die rechtspopulistischen Parteien Europas haben ihren Programmen einen sozialen Anstrich gegeben, sie sind aber im Wesen marktliberal und schaden damit ihren Wählern.

Das sozial betrogene Volk wird damit zum willfährigen Gehilfen nationaler Ambitionen von Teilen der politischen Klasse, und deswegen ist der Populismus so gefährlich.

Wenn die europäische Politik versagt hat, wenden sich die Bürger gegen Europa. Die Politiker schließen daraus, nicht mehr weitere europäische Integrationspolitik umsetzen zu können.

Eine europäische Lösung wird gar nicht erst gesucht, schon gar keine demokratische und soziale.

Weil die EU nie soziale Politik gemacht hat, wird die Nation als “Refugium für sozialen Schutz” angesehen. Der Rechtspopulismus kommt nicht irgendwo her, sondern er ist eine Reaktion auf den Neoliberalismus, der seinen Höhepunkt in der Bankenrettung auf Kosten der Bürger erreicht hat.

Verbrämt mit Begriffen wie Individualität, Fortschritt, Freiheit oder Selbstverwirklichung (als Chiffren für Konsum, Spaß oder Hedonismus) hat sich der Neoliberalismus als gesellschaftliches Betriebssystem der Moderne und Postmoderne in den europäischen Gesellschaften etwa die Position geschaffen, die Microsoft bei den Computerprogrammen hat – und lässt jedem anderen Denken keinen Raum.

Der Neoliberalismus ist nicht liberal sondern grenzt aus, er ist sozialdarwinistisch, er wendet sich gegen Gleichheit und Gemeinwohl. Aus der Bankenkrise haben die Eliten die Sparzwänge abgeleitet und die Schuldigen ausgemacht, z.B. die faulen Griechen. Das ist chauvinistisch. Soziale Gerechtigkeit hätte der Politik in Europa die Handlungsfähigkeit zurückgegeben. Die Globalisierungsverlierer gehen nicht mehr wählen (78 Prozent der Hartz-IV-Empfänger).

Vielleicht zu spät versucht ein Martin Schulz nun, den Kampf ums betrogene Volk von links zu gewinnen. In der Tat zeichnet sich damit in Deutschland ein Richtungswahlkampf um Europa an.

Emmanuel Macron

Wenn drei das gleiche sagen, dann muss das noch lange nicht dasselbe sein und gemeint haben sie sowieso etwas unterschiedliches.

Bei aller Unsicherheit über die zukünftige Politik des gewählten französischen Staatpräsidenten Emmanuel Macron, bei all den weiteren neoliberalen Reformen, die er plant, einig waren sich fast alle Medien und politischen Parteien, dass es für die Entwicklung Europas nur positiv sein kann, wenn Marine Le Pen und der Front National nicht die politischen Geschicke Frankreichs bestimmen  und den Austritt aus der EU forcieren werden. Es ist lohnender, ein Haus, dessen Fundamente tragfähig sind, zu renovieren anstatt es abzureißen.

So beschwörten sie von links nach rechts, es müssten nun die Weichen gestellt werden. Sonst ist die Machtübernahme der Rechtsextremisten nur verschoben. So wird Lutz Goebel, Verbandschef der Familienunternehmer Deutschlands, in der ZEIT zitiert:

Das Thema Arbeitslosigkeit könne nur durch mutige Reformen gelöst werden. Was der künftige Präsident als Wirtschaftsminister mit dem sogenannten Macron-Gesetz angestoßen habe, müsse nun fortgeführt werden. “Ohne Arbeitsmarktreformen wird Macron enden wie Hollande, und Frau Le Pen würde dadurch noch stärker”.

Sahra Wagenknecht, Oppositionsführerin im deutschen Bundestag für die Partei Die Linke sorgt sich ebenfalls um die Zukunft Frankreichs und Europas:

Der ehemalige Investmentbanker Macron, dessen erklärtes Ziel drastischer Sozialabbau nach dem Vorbild der deutschen Agenda 2010 ist, steht für genau die Politik, die den Front National stark gemacht hat. Kommt er mit seinen Plänen durch, ist eine Präsidentin Le Pen bei der nächsten Wahl das wahrscheinlichste Ergebnis.

Drastischer, aber nicht gerade bedingungslos, drückt es der französische Soziologe Didier Eribon aus:

Eribon rechnet damit, dass eine Präsidentschaft des gegenüber Berlin fügsamen Bankers Macron die jetzt in Frankreich noch vorhandenen Hemmungen, die extreme Rechte zu wählen, weiter verringern wird – wenn er das Land auch in Zukunft der deutschen Sparpolitik anpasst und damit die sozialen Gräben noch mehr vertieft.

Und dann sagt er, ohne wenn und aber:

Wer Macron wählt, wählt Le Pen.

Somit ist klar gesagt, Frankreichs Zukunft in Europa hängt ab von der deutschen Politik, die in Europa dominiert. Und da ist hängengeblieben das Wort von Marine Le Pen im Fernsehduell der beiden Kandidaten. Sie glaubte, dass Frankreich in Zukunft auf jeden Fall von einer Frau regiert werden würde, nämlich von ihr oder von Frau Merkel.

Einige  Vorstellungen des neuen französischen Präsidenten bezüglich der Integration Europas sind im Wahlkampf deutlich geworden und dazu auch eine von der Mehrheit der Franzosen geteilte Kritik an der deutschen Politik.

Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel hat schnell einen ersten Punkt aufgegriffen,

[…] Deutschland müsse seine “finanzpolitische Orthodoxie”  aufgeben und mit Paris an einem Investitionsfonds arbeiten. (SZ vom 9.5.17)

Macron schlägt ein gemeinsames europäisches Finanzbudget vor, er möchte dafür verantwortlich einen EU-Minister für Wirtschaft und Finanzen einsetzen, der Zukunftsinvestitionen und Beschäftigungsprogramme finanziert und gegenüber einem EU-Parlament rechtfertigt.

Für den neuen Präsidenten ist sie [… die zentrale europapolitische Maßnahme in Macrons Programm …] umso wichtiger, als die Aussicht auf mehr innereuropäische Solidarität ein Gegengewicht zu den gefürchteten Strukturreformen bildet. (Siehe hier)

Liegt hier nicht die grosse Chance der SPD im anstehenden Bundestagswahlkampf? Diese von Frankreich vorgeschlagene weitere Integration der europäischen Politik, die Abkehr von der Sparpolitik, die Hinwendung zu extensiven Beschäftigungsprogrammen in Südeuropa sind aus sozialpolitischer Sicht mehr als überfällig. Dazu gehören die Beendigung der Austeritätspolitik, ein Schuldenmoratorium für Griechenland (welches nach der Wahl sowieso kommen wird) und die Einführung von Eurobonds, also das was die anderen die “Vergemeinschaftung” der Schulden nennen.

Unterschiedlicher können die Einstellungen zu Macrons zukünftiger Politik also gar nicht sein. Das heisst, dass Marine Le Pen auf jeden Fall kommen wird, ob Frankreich nun neoliberale Politik macht oder nicht. Der Katalog der sog. Strukturreformen ist bekannt. Oxiblog hat einen Blick auf Macrons Agenda 2010 geworfen:

  • Die Gewerkschaften sollen geschwächt werden, wenn Unternehmensvereinbarungen den Vorrang erhalten vor tariflichen Verträgen.
  • Steuern und Abgaben für Unternehmen sollen gesenkt werden.
  • Sozialausgaben für MindestlöhnerInnen sollen entfallen.
  • Branchenspezifische Privilegien in der Rentenversicherung werden für bestimmte Berufsgruppen gestrichen, das Rentenniveau wird damit gesenkt.
  • Aktivierungs- und Sanktionselemente sollen Bestandteile der Arbeitslosenversicherung werden. (Hartz IV lässt grüssen.)

Wie ist denn die wirtschaftliche Situation in Frankreich generell? Da wird immer dieser Vergleich mit Deutschland hergestellt. Ist Frankreich heute der “kranke Mann” – wohl besser die “kranke Frau” – Europas?

Fabian Fritzsche vergleicht beide Länder, die Staatsquote, die Höhe der Arbeitslosigkeit und das Wachstum des BIP.

  • Die Staatsquote liegt in Frankreich bei über 55%, gegenüber ca 45% in Deutschland. Allerdings, es gibt Länder mit ähnlich hohem staatlichen Anteil am BIP wie Frankreich, zum Beispiel Dänemark oder Finnland. Niemand betrachtet sie als wirtschaftlich ungesund.
  • Die offiziellen Arbeitslosenzahlen liegen weit auseinander: Frankreich bei 10%, Deutschland bei 4%. Allerdings, ein französischer Arbeitnehmer arbeitet im Schnitt ca 100 Stunden mehr pro Jahr als ein deutscher, trotz der gesetzlichen 35-Stunden-Woche in Frankreich. Es ist die Teilzeitqote, die den Unterschied ausmacht. Fritzsche sagt:

    Würde es Frankreich schaffen, über eine andere Verteilung der Arbeit – ob das wünschenswert ist, sei hier dahingestellt – die Arbeitszeit je Erwerbstätigen auf deutsches Niveau zu senken, wäre die Arbeitslosenquote in Frankreich genauso niedrig wie derzeit in Deutschland.

  • Unterschiede beim BIP-Wachstum gibt es –  leicht zugunsten der Franzosen: durchschnittlich 1,5% zwischen 1999 und 2016, in Deutschland waren es 1,4%.

Wer einen Blick wirft auf die Reallohnentwicklung in beiden Ländern, wird verblüfft sein:

Zwischen 2000 und 2012 verzeichnet Frankreich ein Plus von 12%, Deutschlands Reallöhne sind in diesem Zeitraum um 1% gefallen.
Verantwortlich dafür sind u.a. die Existenz eines gesetzlichen Mindestlohns von 9,50 €/h in Frankreich und die rapide Zunahme der Prekär- und Teilzeitbeschäftigung in Deutschland, politisch forciert durch die Agenda 2010.

Die Handelsbilanzen beider Länder entwickeln sich allerdings sehr unterschiedlich: Frankreich hat in den letzten zehn Jahren insgesamt ein Defizit von über 800 Mrd Dollar aufgebaut. Deutschlands Handelsbilanz weist im Jahr 2016 Exporte nach Frankreich in der Höhe von 101 Mrd Euro aus, die Importe aus Frankreich hatten den Wert von 66 Mrd Euro, also ein negativer Saldo von 35 Mrd Euro für Frankreich. Deutschlands Exportüberschuß wächst ständig, das französische Defizit nimmt seit Jahren ebenso kontinuierlich zu.

Der neue Bürgerkrieg (2)

Ulrike Guérot schlägt zur Bildung eines demokratischen und sozialen Europas vor:

  1. Es muss Wahlrechtsgleichheit geben, nach dem Motte “One man, one vote”. Das heutige europäische Parlament ist nicht in allgemeiner und gleicher Wahl gewählt, die Wahlmodalitäten in den einzelnen Ländern sind unterschiedlich, das Parlament hat kein Initiativrecht. Originär europäische Entscheidungen müssen vom europäischen Parlament gefällt werden. Die Griechenland-Politik dagegen ist tatsächlich im Bundestag beschlossen worden.
  2. Aus dem Punkt 1 würde sich automatisch ergeben, dass es steuerliche Gleichheit und gleiche soziale Rechte gibt.

    Nationalität darf kein Wettbewerbsvorteil sein, deutsche Staatsanleihen dürfen nicht billiger sein als italienische.

  3. Es gibt schon einige Vorschläge für eine europäische Sozialpolitik und deren Finanzierung. Eine Finanztransaktionssteuer von 0,01% würde ausreichen, um ein europäisches Grundeinkommen von 400€ zu finanzieren. Eine europäische Arbeitslosenversicherung im Volumen von 1% des BIPs wäre weitaus preisgünstiger als der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM: 500 Mrd $) zu haben.

Der Weg zu einem sozialen und demokratischen Europa führt allerdings nur über die eine Erkenntnis: Es ist der Neoliberalismus (Sozialabbau, Steuererleichterungen für Vermögende und Wohlhabende, Privatisierung der Daseinsvorsorge, Dominanz der Finanzmärkte), der den Nationalismus befördert. Es hilft also nicht, isoliert den Nationalismus zu bekämpfen. Dass Martin Schulz und die SPD das verstanden haben, das sehe ich nicht.

Siehe auch: Frankreich am Scheideweg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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