Schweigen, Solidarität und Souveränität

Bildschirmshot der Neujahrsansprache 2016

Als ich zum Deutschunterricht in die Blumenstraße, wo die Flüchtlingsfamilien aus Eritrea und aus Syrien wohnen, ging, traf ich ihn, den ehemaligen Fußballkollegen. Seine Frage, wohin des Weges, beantwortete ich: „Ich unterrichte Deutsch für die fremden Familien.“ Da dreht er sich um und ging wortlos weiter.

In der Neujahrsansprache 2016 spricht die Bundeskanzlerin von der großen Herausforderung, die wir angesichts der Flüchtlingszahlen zu bewältigen haben. Sie mahnt, nicht denen zu folgen,

die mit Kälte oder gar Hass in ihren Herzen ein Deutschsein allein für sich reklamieren und andere ausgrenzen wollen.

Sie spricht nicht von den vielen Anschlägen gegen Flüchtlingsheime. Sie findet weitere milde Worte anstatt offen für Solidarität zu werben:

Es kommt darauf an, dass wir immer auch den Argumenten des anderen zuhören, auch wenn er Sorgen und Chancen anders gewichtet, als man selbst es tut.

Norbert Häring, deutscher Ökonom, der seit 2002 für das Handelsblatt schreibt und über sich selbst sagt, er erkläre „ökonomische Zusammenhänge und Interessenlagen respektlos und allgemeinverständlich“ hält eine Gegenansprache und provoziert schon in der Überschrift: „Warum wir Flüchtlinge nicht integrieren dürfen.“ Auch er spricht in keinem Satz von Solidarität. Er befürchtet, wie so viele auf der linken Seite des politischen Spektrums, dass in der Arbeitsmarktpolitik die Flüchtlinge gegen die prekär beschäftigten Einheimischen ausgespielt werden. Er bekennt sich sogar dazu, dass er ausgrenzen will:

Dazu bekenne ich mich, nicht zu Kälte und Hass, aber dazu, dass ich Deutschsein für jene reklamiere, die als Deutsche geboren sind, oder die hier leben und die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben, und dazu, dass ich die rund sieben Milliarden Menschen, die keine Deutschen sind und hier keine Aufenthaltserlaubnis haben, ausgrenzen will.

Das sind harte Worte. Häring definiert Deutschland also vorwiegend über die Staatsangehörigkeit innerhalb der Grenzen. Er bezieht die in Deutschland lebenden Ausländer nicht ein in seine Definition des Nationalstaates.

Da gefällt mir der Bürgerbegriff von Ulrike Guérot schon besser. Ein einziger Satz in ihrem Manifest „Es lebe die europäische Republik!“, verfasst gemeinsam mit Robert Menasse, nämlich

Die Souveränität der Nationalstaaten ist die Illusion, an der Europa krankt.

macht den Unterschied deutlich.

Obwohl wir längst wissen, dass kein Nationalstaat für sich allein die Probleme Europas lösen kann, ziehen wir daraus keine politischen Konsequenzen.
Guérot und Menasse berufen sich auf den ersten Präsidenten der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, einen Deutschen, der sagt:

Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!

– ein Satz, den weder der heutige Kommissionspräsident noch die gegenwärtige deutsche Kanzlerin wagen würde auszusprechen. Und doch: Dieser Satz ist die Wahrheit.
Heute könnten wir den Träumern die Lösung der Krise verdanken. Der Traum, die Lösung: die europäische Republik. Die Idee einer europäischen Republik, in der die Regionen, ohne ihre Eigenart zu verlieren, in einem freien Zusammenschluss aufgehen, in den Rahmenbedingungen eines gemeinsamen Rechtszustandes, anstatt organisiert zu sein in Nationen, die gegeneinander konkurrieren – diese Idee wäre der Soll-Zustand, an dem wir jede europapolitische Entscheidung vernünftig messen könnten. Es gibt keine nationalen Interessen, es gibt menschliche Interessen, und diese sind im Alentejo keine anderen als in Hessen.

In diesen Worten steckt die Grundidee des Bürgers mit seinen unveräußerlichen Grundrechten, unabhängig von Region oder Staat. Nur in der so definierten Gemeinschaft können aus den viel zitierten und geforderten europäischen Grundwerten europäische Rechte werden – ein Bürger aus Luxemburg hat das gleiche Wahlrecht wie ein deutscher und die Arbeitslosenversicherung beinhaltet in Griechenland und in den Niederlanden den gleichen solidarischen Schutz.

Unter der Überschrift „Lafontaine und der rechte Rand“ schrieb die FAZ am 17.6.2005 :

Vor rund 1.500 Zuhörern hatte der frühere SPD-Vorsitzende gesagt, weil der Staat verpflichtet sei, seine Bürger zu schützen, müsse er verhindern, „daß Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.”

Der Vorwurf, Lafontaine haben schon damals wie Pegida heute, die Fremden gegen die Einheimischen ausgespielt, ist nicht von der Hand zu weisen.
Mit seiner Aussage wird obendrein deutlich, dass es unter dem Einfluss zunehmender Migration eine allmähliche Verschiebung des politischen Spektrums gibt, von links über halblinks bis in die Mitte bis ins rechte Milieu. Linke und Rechte kommen sich näher, wenn sie sich darauf beschränken, sich gegen Einwanderung zu wenden. Marie Le Pen hat obendrein genauso viele gute Argumente gegen Kapitalismus und Globalisierung wie Oskar Lafontaine.

Da ist es umso unverständlicher, dass es nicht gelingt, auf der linken Seite gemeinsame Positionen zu beziehen, z.B. für einen verstärkten und umfassenden Mindestlohn, nachdem dieser – wenn auch 10 Jahre zu spät und nicht wirklich lückenlos eingeführt – endlich gesellschaftlich akzeptiert ist. Hier müsste die gemeinsame Barriere gegen die Ungleichbehandlung von einheimischen und fremden Bürgern errichtet werden. Fragen der Bildung und des sozialen Wohnungsbaus müssten als weitere Felder gegen den schleichenden Rechtsdrift markiert werden. Und dann sollte es nicht mehr weit sein zu der gemeinsamen Formulierung eines Einwanderungsgesetzes.

Gibt es – zumindest auf der linken Seite – Übereinstimmung, Positionen der Solidarität zu definieren und zu beziehen? Damit wäre ein erstes Bollwerk gegen den übergreifenden Rechtsruck geschaffen.

Oder bleibt es dabei – wie in den 90er Jahren als die Toten Hosen in  ihrem Song „Willkommen in Deutschland“ schrieben?

Es ist ein Land, in dem so viele schweigen, wenn Verrückte auf die Straßen gehen.

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3 Gedanken zu „Schweigen, Solidarität und Souveränität

  1. Andreas Schlutter

    Ich habe den Eindruck, dass Norbert Häring sich hier missverständlich ausdrückt, was auch auf seinem Blog durch eine Antwort von Ralf Krämer sowie seine Replik darauf deutlich wird. Zum einen bezieht sich Häring mit den “rund sieben Milliarden” auf die Weltbevölkerung als Ganze, die er ausgrenzen will. Zum anderen schließt er durchaus diejenigen eindeutig mit ein, die eine Aufenthaltserlaubnis haben bzw. bekommen. Dazu gehören neben politisch, ethnisch bzw. religiös Verfolgten allerdings auch alle Bürgerkriegsflüchtlinge. Das Aufenthaltsgesetz kennt eine ganze Reihe von Gründen, warum jemand einen – zunächst in der Regel zeitlich befristeten legalen Aufenthalt – bekommen kann. Dazu gehören selbstverständlich Bürgerkriegsflüchtlinge, aber auch all diejenigen, denen bei Krankheit in ihren Herkunftsländern keine angemessene gesundheitliche Versorgung zur Verfügung steht. Insofern verkennt Häring meines Erachtens, dass er selber der Aufteilung in “gute” Flüchtlinge (Asyl, Krieg etc) und “schlechten” Flüchtlingen (nämlich sog. Wirtschaftsflüchtlingen) das Wort redet. Wirtschaftsflüchlinge sind ausreisepflichtig und bekommen in der Regel bei tatsächlichen Ausreisehindernissen lediglich eine Duldung, ggf. auf Kettenduldungen über Jahre hinweg.
    Prof. Armin Nassehi hat unter anderem in einem Beitrag in der FAZ deutlich gemacht, was diese Unterscheidung perfides bedeutet:

    “Der Begriff meint: Es sind ja schlicht subjektive, nachgerade egoistische Gründe, die jemanden aus wirtschaftlichen Gründen flüchten lassen, während politische Gründe eine objektive Ordnung spiegeln, die durchaus positiv zu wenden sind: Wer aus politischen Gründen zu uns kommt, bestätigt unsere zivilisatorische Überlegenheit, wer aus wirtschaftlichen Erwägungen kommt, wird ein Konkurrent, auch noch einer, der staatliche Zuwendungen für Wohnung, Nahrung und Telekommunikation erhält, während wir uns dies selbst erarbeiten müssen.”

    Richtig an der Gegenrede zur Neujahrsansprache ist allerdings der schon seit Jahren bekannte Punkt: es gibt kein Konzept, kein Gesetz, das die Einwanderung regelt. Alle müssen durch das Asylverfahren durch – und nur wer einen Antrag auf Asyl stellt, bekommt eine Gestattung, d.h. einen vorübergehenden legalen Aufenthaltsstatus, um das Verfahren abzuwarten.

    Ein politisch interessanter Entwurf besteht in der Tat darin, worauf Ulrike Guérot und Robert Menasse hinweisen. Das Nationalstaatskonzept ist keine demokratische Antwort auf die aktuellen Herausforderungen. Allerdings ist der Zustand und die wirtschaftsplotische Ausrichtung der Europäischen Union – nicht zuletzt auf Grund der von Deutschland durchgesetzten Austeritätspolitik – so übel, dass es einiger Anstrengung bedarf, sich vom Nationalstaat zugunsten eines demokratischen und sozialen Europas zu verabschieden. In der aktuellen Ausgabe des “Freitag” schreibt Stephan Hebel:

    “Der europäische Rechtspopulismus begegnet berechtigten wie übertriebenen Globalisierungsängsten nicht nur mit nationalen Wiederauferstehungsphantasien. Er macht der Sozialdemokratie auch eines ihrer traditionell wichtigsten Themen streitig, indem er den nach außen abgeschotteten Nationalstaat als Garanten der sozialen Sicherheit verkauft. Das hat in Polen entscheidend zum Wahlerfolg der PiS-Demagogen beigetragen.”

    So recht du hast, Ludger, Bremsklotz auf der linken Seite ist aber die SPD, deren Führungsspitze sich ja schon lange in der Mitte verortet und es nicht schafft sich klar zu positionieren und sich von der grundlegend falschen Politik der 2000er Jahre zu verabschieden. Und die SPD müsste – im Sinne der europäischen Idee – sich vom bisherigen Kurs distanzieren, am Austeritätskurs für Länder wie Griechenland und Portugal festzuhalten.

  2. Ludger Elmer Beitragsautor

    Das ist immer so ein Reflex bei uns – die SPD ist an allem schuld. Bei allen Versäumnissen, über die wir uns einig sind, unser Denken und Schreiben im Nachdenkerkreis geht kaum über diesen Reflex hinaus.

    Warum ist der Rechtsruck in dieser Situation, geprägt durch die vielen Flüchtlinge, unabdingbar?

    Warum gelingt es uns, den Kapitalismuskritikern, nicht, klar zu machen, dass es eben dieser Kapitalimus ist, der die Kriege und die diskriminierende Handelspolitik, hervorgebracht hat, der also für die Fluchtursachen verantwortlich ist?

    Warum ist die Gefahr, rechts und links in einen Topf zu werfen, zur Zeit so groß?

  3. Andreas Schlutter

    Ganz sicher liegt es daran, dass die beiden Regierungen unter Schröder maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass die deutsche Gesellschaft immer mehr auseinanderdriftet. Es war doch Schröder, der sich vor zehn Jahren des größten Niedriglohnsektors in der EU rühmte. Es war Müntefering, der sagte: “Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.” Dass ich – trotz Sven Giegold, Astrid Rothe-Beinlich und Hans-Christian Ströbele – die Grünen hier nicht nenne, die natürlich genauso Verantwortung für die damalige Politik tragen, sagt doch nur, dass ich Ihnen weniger Bedeutung zumesse.

    Natürlich ist der Kapitalismus dafür verantwortlich. Prof. Stephan Lessenich schreibt in le monde diplomatique :

    “Die Wachstumskapitalismen des Nordens hinterließen auf ihrem Weg zur Weltherrschaft verheerende Spuren sozialer Ungleichheit, politischer Autokratie und ökologischer Ausbeutung in den Ländern des globalen Südens, die damit dauerhaft in ihren Entwicklungschancen behindert wurden.”

    Nur – wo können wir ansetzen angesichts der Tatsache, dass es uns hier in Deutschland besser geht als in Ghana, Eritrea oder Afghanistan? Wir sind eindeutig auf der Gewinnerseite – und zugleich produziert der Kapitalismus immer mehr Verlierer in der EU (Griechenland, Spanien, Portugal), aber mit Hartz IV, Leiharbeit, Werkverträgen und Minijobs auch bei uns. Die Langzeitstudie der Uni Bielefeld über Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer und Prof. Dr. Andreas Zick) hat hinlänglich deutlich gemacht, wie diese ökonomischen Veränderungen zu einem raueren gesellschaftlichen Klima geführt hat und Menschen abgewertet werden.

    Im aktuellen “Der Freitag 01/2016” führt der Politikwissenschaftler Michael Lührmann aus, wie sich der politische Diskurs in Deutschland nach rechts verschiebt. Die Positionen der sich radikalisierenden AfD und Pegida sickern in die öffentliche Debatte ein. Hier wäre ein Positionswechsel der SPD dringend vonnöten, denn ohne die soziale Frage anders, nämlich solidarisch zu beantworten, werden wir auch den Rassismus nicht eindämmen können. Nochmals Lessenich:

    Eine möglichst konsequente Politik der Umverteilung von „oben“ nach „unten“ in diesen Ländern [die des globalen Nordens, A.S.] – durch eine wirklich progressive Besteuerung, die schrittweise Anhebung von Mindestlöhnen und Grundsicherungen, eine radikale Wende im Erbrecht – könnte dazu führen, dass jedenfalls den am stärksten konsumistischen und ressourcenfressenden Lebensstilen der finanzielle Boden entzogen würde. Und sie könnte zumindest längerfristig durch soziale Anschauung lehren, dass Gesellschaften der Gleichheit auch Gesellschaften mit einer höheren Lebensqualität für alle sind.
    Zugleich gilt es, die extremen globalen Ungleichheiten abzubauen – durch eine Kombination von Wachstumsverzicht der reichsten Gesellschaften und einer egalitären Wachstumsstrategie für die ärmsten.

    Das könnte der gemeinsame Nenner sein, nur sehe ich nicht, mit wem in der SPD das mittelfristig hinzubekommen ist.

    Das Zitat von Lafontaine würde ich nicht überbewerten, es ist erstens zehn Jahre alt, zweitens hat er immer wieder neben vernünftigen Positionen Unsinn von sich gegeben. Im Gegenteil, im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdebatte werden Linke ja eher als “Gutmenschen” verunglimpft, die sich der Wahrnehmung der Realitäten verweigern.
    Wichtig ist mir, auf eine für mich schlüssige Definition von Rechtsextremismus hinzuweisen:

    “Rechtsextremismus ist menschenfeindlich. Die verschiedenen Ausprägungen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind Bestandteile rechtsextremer Orientierungen, weil Rechtsextremismus im Kern eine Ideologie der Ungleichwertigkeit ist, seine ideologische Legitimation also – anders als etwa der Linksextremismus – aus Selbstaufwertung durch Abwertung anderer bezieht. Rechtsextremismus im Kontext der Mitte-Studien heißt also extremes Denken: radikaler Ökonomismus, Europafeindlichkeit, Demokratiefeindlichkeit, Menschenfeindlichkeit – häufig in Verbindung mit Gewaltbilligung und Gewaltbereitschaft.”
    (aus dem Vorwort der FES-Studie “Fragile Mitte – Feindselige Zustände”, 2014)

    Dass wir uns immer wieder an der SPD stoßen, hat sicher auch damit zu tun, dass DIE LINKE trotz einiger vernünftiger Beschlüsse doch zu viel mit sich selbst beschäftigt, als dass sie ernsthaft in die politische Debatte eingreifen kann, und dass es – anders als in Spanien mit Podemos und Griechenland mit SYRIZA – sonst keinen halbwegs ernstzunehmenden politischen Akteur gibt, der die Positionen der gesellschaftlichen Linken durchsetzen will.

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