In der gegenwärtigen europäischen Flüchtlingskrise ist eins wohl sicher: Es gibt keine kurz- oder auch mittelfristige Lösung, die wir sowohl human als auch demokratisch legitimiert nennen könnten. Gesicherte Fluchtwege, um die schreckliche Balkanroute zu umgehen oder umfassende Seenotrettungsmaßnahmen im Mittelmeer wird es nicht geben, weil sie der Bevölkerung als nicht vermittelbar erscheinen. Dass Deutschland aktiv mitwirken könnte, die Zahl der Flüchtlinge zu steigern, erscheint nur theoretisch vorstellbar aber angesichts der Widerstände im rechten Lager als unrealistisch.
Da werden uns dann lieber Fluchtursachen genannt, die garantiert keine sind. Die Zustände in den Flüchtlingslagern rund um Syrien, in Jordanien, in der Türkei und im Libanon sind keine Ursachen sondern Folgen der Kriege im Nahen Osten. Da sollten die Verantwortlichen bei uns den dringend erforderlichen Hilfsmaßnahmen in diesen Lagern ein anderes Etikett geben. Dass die Zustände in diesen Lagern so sind, selbst dafür tragen wir Verantwortung, so gesteht es Elmar Brok, CDU-Europapolitiker.
Das Nahrungsmittel-Programm der Vereinten Nationen ist in diesem Jahr drastisch gekürzt worden. Das ist etwas, was ich wirklich nicht nachvollziehen kann.
Wir haben also nicht nur unsere Zusage, die Entwicklungshilfe mit 0,7 % des BIP zu unterstützen, gewaltig verfehlt. Wir haben auch konsequent weggesehen, welche Folgen der Krieg in Syrien für die betroffenen Menschen gebracht hat. Die Kriege im Nahen Osten sind doch erst jetzt, seien wir ehrlich, so schlimm für viele von uns, weil sie uns die vielen Flüchtlinge bescheren. Zudem, die Kriege werden immer mehr mit unseren Waffen geführt.
Also, Entwicklungshilfe gekürzt, Waffenexporte gesteigert, Hilfsleistungen reduziert – da scheint es angebracht, darüber nachzudenken, wie eine Begrenzung der Flüchtlingsbewegung zu bewirken ist. Nur, wer eine Begrenzung fordert, sollte auch irgendwie eine Definition dieser Grenze liefern. Das aber kann niemand, da beschließt die Politik lieber ein Asylverschärfungsgesetz. Pro-Asyl sagt, die Bundesregierung begehe damit offenen Verfassungsbruch: Flüchtlinge sollen bis zu sechs Monaten in Erstaufnahmelagern festgehalten werden, Sachleistungen anstatt Barleistungen werden gewährt, Abschiebungen werden nicht mehr angekündigt, können also mitten in der Nacht erfolgen und Geduldeten wird das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr zugesichert. Wieder einmal wird ein Gesetz der Großen Koalition vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Einig sind sich alle Kommentatoren, dieses Gesetz wird niemand von der Flucht abhalten.
Wir haben hier in der kleinen Gemeinde im Kreis Dachau 30 junge syrische, afghanische und afrikanische unbegleitete Flüchtlinge im Containerdorf untergebracht. Wie viele es genau sind, muss man immer wieder erneut feststellen, denn die Jugendlichen entfernen sich oft von hier, wollen nach München, Verwandte und Freunde treffen. Sie sind schwer zu bewegen, morgens zum Deutschunterricht aufzustehen. Das Landratsamt hat die Betreuung dieser Flüchtlinge übrigens outgesourct genauso wie den Tag und Nacht anwesenden Sicherheitsdienst. Da kommt es dann zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Betreuung und Helferkreis, wer wofür zuständig ist. Ein Pflichtenheft der Betreuungsaufgaben durch das Landratsamt liegt nicht vor. Bei der Räumung einer anderen Flüchtlingswohnung hier, nachdem die albanische Familie abgeschoben war, werden starke Verschmutzung und Unrat festgestellt, der Helferkreis bereinigt die Situation. Es ist die völlig fehlende Koordination durch die Behörden, die Gefahren in sich bergen. Der Unmut von Teilen der Bevölkerung wird sich dann entzünden, wenn die Beherbergung der Flüchtlinge offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle ist. Ich erinnere mich, es waren in den 90’er Jahren mangelhafte hygienische Zustände in den „Asylantenheimen“ (die damals noch so hießen), die Empörung hervorriefen. Und damit war für einige rechte Chaoten schon das Signal gegeben, auf ihre Art zu handeln.
Weil die Behörden nicht mitkommen, übernehmen die Helferkreise. Sie tragen ihren Teil dazu bei, die gesellschaftliche Situation zu stabilisieren. Ohne sie würden wir es wirklich nicht schaffen.
Es ist eine Gratwanderung zwischen vielen positiven Beispielen und offener Abneigung. Die Seite Drei in der SZ vom 23.10.15 berichtet über den Mann im bayerischen Grenzdorf bei Passau, der seine LKW-Halle und seine ehemalige Wirtsstube geräumt, Matratzen und Decken ausgelegt und täglich mehr als 100 Flüchtlinge untergebracht hat. Seinen Namen will er nicht genannt wissen, er hat schon genügend Scherereien im Ort. Am Stammtisch hat man ihn gefragt, was er da tue. Er hat zurück gefragt: „Was hättest Du getan, wenn vor deinem Haus die Kinder stehen und frieren?“ Und er erhielt eine Antwort, die, so sagt er, man nicht niederschreiben dürfe.
Zeigen wir uns in dieser Situation wirklich demokratiefest? Mag die Lage noch so aussichtslos sein, mögen alle erwogenen Alternativen keine schnelle Hilfe bringen, wir dürfen nicht den Anstand verlieren und Dinge beschließen, die das Asylrecht für immer beschneiden werden.
Ein Beispiel setzt auch der Bürgermeister von Hebertshausen, einem Ort nahe bei Dachau. Der Gemeinderat hat beschlossen, mitten im Ort ein weiteres Grundstück für eine Flüchtlingsunterkunft bereitzustellen. Der Bürgermeister betreibt Aufklärung, als Gerüchte über eine großzügige Alimentierung der Asylbewerber aufkommen. Er besorgt sich eine Liste darüber, was Asylbewerber an staatlichen Leistungen erhalten. Er schreibt einem bekannten Jugendlicher, der auf Facebook Unsägliches postet, eine persönliche Nachricht und kann ihn im Gespräch überzeugen. Er sagt, er habe früh gelernt, dass „Vorurteile das Schlimmste sind“.
Der Regensburger Oberbürgermeister Wolbergs erinnert daran, dass Flüchtlinge unsere Mitbürger sind, sobald sie „unseren Boden betreten“. Er kritisiert die Asylpolitik der CSU und sagt, Probleme seien noch nie gelöst worden durch das Hochziehen von Zäunen. Die „Mittelbayerische“ schreibt:
Trotz Engpässen bei der Versorgung von Asylbewerbern gehe es in Regensburg keinem Bürger schlechter als vor zwei Jahren, sagt Wolbergs. „Und wenn doch, dann hat es nichts mit den Flüchtlingen zu tun.“ Er kritisierte die Asylpolitik der CSU, die seit Jahren den Nährboden für Ressentiments bereite. „Die reine CSU-Lehre: Wir sind kein Einwanderungsland. Wir wollen kein Einwanderungsland werden. Das war schon immer falsch.“ Die CSU habe Integration nie als Chance begriffen, immer nur als Risiko. Die Abgrenzungspolitik der Regierungspartei stecke voller Scheinlösungen. „Man darf nicht suggerieren, dass man irgendetwas lösen würde, wenn man Zäune hochzieht.
Wolbergs fordert, dass die Staatsregierung stattdessen die Kommunen bei ihrer Arbeit umfassend unterstützt:
Es muss gelten: Alle Kraft den Kommunen. Die Integrationsleistung können nur die Kommunen leisten: sonst niemand. … In vier bayerischen Großstädten stehen Sozialdemokraten an der Spitze. Zum Quartett zählen neben Wolbergs auch Dieter Reiter (München), Ulrich Maly (Nürnberg) und Jürgen Dupper (Passau).“
Ein Blick in den Osten – der Freund aus der Nachdenkergruppe in München berichtet von einem Besuch in der Sächsischen Schweiz:
Wir hatten einen lokalen Führer, der schon ziemlich am Anfang betont hat, dass er sich ein besseres Verhältnis in Deutschland zwischen West und Ost wünscht. Und dass er sich freut, uns als lokaler Führer Interessantes und Schönes aus seiner Heimat zu zeigen und näher zu bringen. Er beklagte sich aber bitter darüber, dass die Leute in seiner Heimat von unserem Vizekanzler als “Pack” bezeichnet wurden! Keiner seiner Bekannten sei ein Rechtsradikaler oder Neonazi. Ich glaube ihm das auch. Er zeigte sich immer wieder als “Seele von Mensch” und warb für mehr Verständnis miteinander.
Und er fügt hinzu:
Ich glaube nicht, dass die Pegida-Anhänger überwiegend rechtsradikal und von Haus aus ausländerfeindlich sind. Ist es nicht so, dass viele Bürger bei uns und noch mehr im Osten Angst haben um ihren Arbeitsplatz, ihr Einkommen, ihre Wohnung, ihre Rente, um ihren Platz in der Gesellschaft, um die Zukunft ihrer Kinder und so weiter? Und ist diese Angst nicht gerechtfertigt angesichts der tatsächlichen Verhältnisse? Angesichts des Abbaus ihrer Rechte als Bürger und als Arbeitnehmer, angesichts der Aushöhlung der Demokratie, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, der vielen Niedriglöhne, der steigenden Altersarmut, also der zunehmend unsicheren Lebensverhältnisse. Und das in einem Umfeld, das in Summe immer mehr Reichtum anhäuft, von dem aber bei den meisten Bürgern nichts ankommt.
Ist es nicht verständlich, dass die betroffenen Bürger auf die Straße gehen, wenn sich die Gelegenheit findet, ihrem Unmut Luft zu machen?
Meine Antwort lautet:
Ja – wir haben auch in Deutschland viele soziale Missstände, Hartz IV, Tafeln, prekäre Beschäftigung, Obdachlose, steigende Altersarmut. Aber, diese Kritik darf sich nie gegen andere soziale Gruppen richten, weil sie einerseits die total falschen Adressaten sind und andererseits, wenn es sich gegen die Fremden richtet, stehen doch andere bereit, die verbalen Steilvorlagen von Pegida und AfD zu verwandeln in schlimme Taten. (Und hier ist eben der Begriff “Pack” nachzuvollziehen.) Sehen wir denn nicht, dass es da welche gibt, die nur darauf warten, dass da bestimmte Stichworte fallen?
Können wir das auflösen: Befördern die berechtigten Ängste der Bürger die Rechtsradikalisierung?
Einen Blick möchte ich werfen auf „Deutsche Zustände“. Unter diesem Titel präsentiert die Universität Bielefeld die Ergebnisse einer Langzeituntersuchung. Die Forschungsgruppe definiert das Syndrom der GMF, der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und geht der Frage nach,
wie Menschen aufgrund von ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen in dieser Gesellschaft von der Mehrheit wahrgenommen werden und mit feindseligen Mentalitäten konfrontiert sind. Vorurteile gegenüber diesen unterschiedlichen Adressatengruppen teilen einen gemeinsamen Kern, der sich als eine Ideologie der Ungleichwertigkeit identifizieren lässt.
Ausgangspunkt der Untersuchungen ist immer die vorhandene Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und gegen welche Gruppen sie sich richtet. Abbildung 1 der Studie zeigt die unterschiedlichen Ausprägungen der Menschenfeindlichkeit, u.a. die Abwertung von Sinti und Roma, die Abwertung von Obdachlosen, die Abwertung von Asylbewerbern und die Fremdenfeindlichkeit.
Im Abschnitt 9 heißt es, dass 2011 der Anteil derjenigen, die sagen, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben, bei 47% lag. (Neue Zahlen liegen nicht vor.)
Die These, die hinter den Untersuchungsergebnissen steckt, ist, dass es eine latent vorhandene Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gibt und sich diese je nach den gesellschaftlichen Ereignissen zeigt. Die Forscher sprechen von einem „entsicherten Jahrhundert“:
Da sind Signalereignisse zu nennen wie der 11. September 2001 mit seinen Folgen für die Islamfeindlichkeit (Abb. 2), dann die Einführung von Hartz IV im Jahre 2005 mit den Auswirkungen auf die Desintegrationsängste in verschiedenen Sozialgruppen (Abb. 3) und da sind die verschiedenen Krisen seit 2008, also Finanz-, Wirtschafts-, Fiskal- und jetzt Schuldenkrisen mit ihren jeweiligen Auswirkungen (Abb. 4).
Die Annahme, dass die Flüchtlingskrise so ein weiteres Signalereignis ist, liegt nahe.
Das bedeutet also, dass nicht die prekären sozialen Verhältnisse die Einstellung gegenüber anderen Gruppen beeinflussen, sondern dass die Menschenfeindlichkeit immer schon da war und sich je nach politischer und gesellschaftlicher Konstellation gegen spezifische Gruppen richtet.
Wikipedia weiß, wie die soziale Strukturierung der Pegida – Demonstranten aussieht:
„Der durchschnittliche Teilnehmer der Studie [erstellt von einem Team des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung an der Technischen Universität Dresden] kommt aus der sächsischen Mittelschicht, ist männlich, 48 Jahre alt, konfessionslos, nicht parteigebunden, gut ausgebildet, berufstätig und verfügt über ein für Sachsen etwas überdurchschnittliches Nettoeinkommen.
Die europäische Politik zeigt sich uneinig und machtlos. Albrecht von Lucke schreibt in Blättern für deutsche und internationale Politik:
Nationale Souveränität schlägt europäische Solidarität. Denn anders als im Falle der Griechenlandhilfe geht es heute nicht um scheinbar virtuelle Milliardenbeträge, sondern, verkörpert durch die sehr realen Flüchtlinge, um die beiden Kernfragen jeder nationalstaatlichen Souveränität. Erstens: Wer gehört zu uns? Und zweitens: Wer entscheidet über die Grenze – und ihre Sicherheit?
Aber der Ausweg darf nicht aus nationalen Alleingängen bestehen und Deutschland hat eine spezifische Verantwortung. Lucke weiter:
Als Exportweltmeister hat Deutschland vom billigen Euro profitiert, gleichzeitig hat es mit seinen Niedriglöhnen (gemessen an der Arbeitsproduktivität) und mit immensen Handelsbilanzüberschüssen den Rest Europas in die Krise konkurriert. Die Ursachen der nationalen Egoismen datieren also lange vor der Flüchtlingskrise. Auf diese Weise hat die Bundesrepublik auch innereuropäisch für massive Migration gesorgt, speziell aus den südeuropäischen Krisenstaaten.
Man muss es nicht so eindimensional sehen, als wenn die Austeritätspolitik gegenüber dem Süden Europas die wirkliche Ursache für den Nationalismus in Polen, in Ungarn, in Tschechien und im Baltikum darstellt. Aber ich glaube auch nicht, dass Angela Merkel in dieser Frage ein schlechtes Gewissen hat. Sie weiß nur nicht mehr weiter.
Sebastian Beck schreibt in seinem Kommentar in der SZ am 28.10.15:
Man kann sich auch fragen, warum in dieser Notlage nicht die Bundeswehr zur Erstversorgung der Flüchtlinge herangezogen wird, wo ihre Soldaten doch bei jedem Hochwasser Sandsäcke stapeln.
Man muss fragen!
Und zuletzt heute (29.10.15) der Beitrag „Wer fehlt, im Gedenken an Ulrich Beck“ von Jürgen Habermas im Feuilleton der SZ:
Was andere Akteure längst lernen mussten – beispielsweise „Migranten, Konzerne, religiöse Gemeinschaften, Menschenrechtsbewegungen, Wissenschaftler, Arbeiter, Lehrer, aber auch Kriminelle, und nicht zu vergessen Neonationalisten und al-Quaida-Terroristen“ – das müssen nun Politiker und Bürger nachholen: Sie müssen „ihren Wahrnehmungs- und Aktionshorizont erweitern, aktiv vergleichen, fremde Perspektiven einnehmen und für die eigenen Zwecke koordinieren.“ So gestand die Kanzlerin in einem Fernsehgespräch, ihre Regierung habe nicht rechtzeitig bedacht, dass uns die Folgen des Bürgerkriegs im fernen Syrien hautnah betreffen könnten.
Es macht keinen Sinn, politisch den Kopf in den Sand zu stecken und die Grenzen zu schließen.