An jenem Morgen bin ich eine Stunde früher aufgestanden. Die Lokomotivführer der Deutschen Bahn haben gestreikt, der Fahrplan der Münchner S-Bahn war ausgedünnt. Die Wartenden an der S-Bahn machen ihrem Ärger Luft. Ich frage, ob sie einen Vertrag, also eine Zeitkarte, mit der Deutschen Bahn oder mit der Gewerkschaft abgeschlossen haben? Sie schauen mich verständnislos an.
Ich füge hinzu, auch den Streik der KindergärtnerInnen kann ich verstehen: Sie müssen gut ausgebildet sein und sie verdienen zu wenig. Die ältere Dame widerspricht mir, sie habe ihr Kind allein erzogen, nebenbei, auch Sonntags, gearbeitet, sie habe das auch geschafft und wir würden diese Kitas gar nicht gebrauchen. Aber jeder Mensch habe eben seine eigene Meinung, gibt sie mir zu verstehen. Ich sage, dass wir die Kitas haben, das sei doch ein Fortschritt und versuche es auf einem anderen Wege, erkläre, dass unsere Löhne hinter der Produktivitätssteigerung zurückgeblieben sind, dass daher die ständig wachsende Ungleichheit komme und dass auf der Basis der heutigen Mindestlöhne und gezahlten Entgelte im Niedriglohnsektor es zukünftig keine Rente geben werde, von denen man wirklich leben könne, damit drohe für immer mehr Menschen die Altersarmut. „Da haben Sie Recht!“ sagte die Dame. Dann kam die S-Bahn.
Am gleichen Abend beim Skatspiel muss ich mir anhören, ich hätte ja „gut reden“, als Rentner sei ich nicht so auf die Pünktlichkeit der Bahn angewiesen. Ich müsste keine drei Stunden bei Wind und Wetter warten und „mir die Beine in den Bauch“ stehen. Da ist es mir umso schwerer gefallen, zu begründen, dass hier das Streikrecht auf dem Spiel steht und dass Streiks weh tun müssen, sonst sind sie wirkungslos.
Heute tagen die Politiker der G7 in Elmau, in den Alpen. Verstehe, wer will, dass sie dorthin gehen müssen und dass die Veranstaltung 400 Mio € kostet. Der Leitartikler der SZ nennt dieses Treffen ein „gigantomanisches Event, dessen Hauptzweck darin zu bestehen scheint, dass es stattfindet.“ Aber den Demonstranten gibt er auch eins mit: „Die Sause von Elmau bestärkt die Vorurteile jener, die ohnehin von ihren Vorurteilen leben.“ (SZ, 6./7. Juni, S.4) Da kann der Unsinn noch so groß sein, diejenigen, die dagegen protestieren und in München waren es vor einigen Tagen 40.000 Menschen, werden nicht ernsthaft wahrgenommen, sie werden abgekanzelt.
400 Mio € hier, 2 Mrd € dort! Das ist die Summe, die der bayerischen Staatsminister, der Ministerpräsident werden will, nennt, wenn es um die Kosten der Flüchtlingsunterbringung in Bayern geht. Damit könne man sehr viele dringend benötigte Lehrer und KindergärtnerInnnen einstellen. Ich bin mir sicher, wenn er das Geld hätte, er würde es dafür sicherlich nicht ausgeben. Dann wäre die schwarze Null eben wichtiger. Aber der Schreiber der SZ nennt die Ausführungen dieses Staatsministers wenigstens eine „subtile Hetze“. (SZ, 6./7. Juni, S.R15)
In meinem Dorf sind mittlerweile drei kosovarische bzw. albanische Familien angekommen und aufgenommen worden. Der private Helferkreis organisiert die Ankunft, die notwendigen Behördengänge, unterstützt beim Einkaufen, sammelt Dinge des täglichen Lebens für die Unterkunft, kümmert sich um den Sprachunterricht für die erwachsene Familienmitglieder. Es wird überlegt, ob man gebrauchte Fahrräder schenken soll oder ob die Flüchtlinge sich diese selber zu kaufen hätten. Ein Albaner, der schon einige Jahre in Deutschland lebt, schildert die finanzielle Situation vieler Familien heute in seinem Land. Sie müssen mit 200 € im Monat auskommen. Da begreife ich, wie unangebracht dieser Ausdruck „Wirtschaftsflüchtlinge“, den ich oft höre, ist. Diese Menschen sind in einer existenziellen Notlage. Wir müssen ihnen helfen, dass sie nicht alle hier bleiben können, steht auf einem ganz anderen Blatt. Wenn ich höre, die Flüchtlinge würden sich so gut in unseren Supermärkten auskennen, dann denke ich, ein Supermarkt in Albanien sieht nicht viel anders aus als ein deutscher, nur was ich mir von dem leisten kann, was es dort gibt, das macht doch den Unterschied aus.
Die wirkliche Debatte hat aber noch gar nicht richtig begonnen. Wir werden hier im Sommer weitere fünfzig 50 Flüchtlinge, wahrscheinlich werden es Afrikaner sein, aufnehmen. Dann, so sagt es der Bürgermeister, sind „wir am Rande unserer Möglichkeiten, wenn noch mehr kommen, dann ‚scheppert‘ es“. Was meint er damit? Wird es dann soziale Konflikte geben? Der Landkreis, in dem ich wohne, zählt zu den gut situierten. Wohnungsnot gibt es hier so gut wie keine, aber die Mieten sind enorm gestiegen. Ich kann da die Rufe aus Österreich, aus dem Burgenland verstehen, die lauten: „Mehr Wohnungen statt mehr Moscheen!“ (SZ, 6./7. Juni, S.4) Wir wollen differenzieren – diejenigen, die das rufen, mögen nicht fremdenfeindlich sein, nein sie nutzen die Situation, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Protestiert hier wirklich jemand dagegen, dass die Asylbewerber den Hartz IV-Satz bekommen, oder drücken die Proteste nur aus, dass dieser Satz und die damit verbundene Sanktionspraxis das eigentliche Übel sind? Die soziale Situation und der Grad der Fremdenfeindlichkeit sind die beiden Seiten der gleichen „Medaille“ – wir sollten das doch aus unserer Geschichte gelernt haben.
Der Helferkreis tagt an diesem Abend drei Stunden lang. Nebenan sitzen die Vertreter der CSU, sie sind mit ihren Themen eher fertig.
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