Die Aussagen auf der Rückseite des Buchumschlages sprechen für sich, sollen allerdings auch werben und Aufmerksamkeit erzeugen:
„Diese Buch wird die Ökonomie verändern und mit ihr die ganze Welt“. (Paul Krugman, Nobelpreisträger)
„Es ist DAS Buch, das die Welt im Sturm erobert hat.“ (The Economist)
„Eine brillante Erzählung über Reichtum und Armut.“ (Süddeutsche Zeitung)
Aber auch die Rezensionen in den verschiedenen Medien loben in hohen Tönen. Die TAZ sagt, es sei ein „umstürzlerischer Werkzeugkasten“, den Thomas Piketty in seinem Buch „Das Kapital des 21. Jahrhundert“ empfiehlt, um die weltweite Ungleichheit von Vermögen und Einkommen, die das Ergebnis von kapitalistischer Marktwirtschaft ist, abzubauen.
Die These Piketty’s wird in den vielen Würdigungen meist nicht bestritten: Das Kapital, also der Wert von Unternehmen, Aktien, Anleihen, Immobilien, Zinsen und Dividenden wächst schneller als die Volkswirtschaften und Bildung und Arbeit können da nicht mithalten. ZEIT Online zitiert Piketty mit der Prognose: „Wenn wir den Kapitalismus nicht verändern, dann wird die Ungleichheit in diesem Jahrhundert weiter zunehmen, und der soziale Frieden wird zerstört werden.“
Welche sind also nun die Vorschläge, die Piketty macht, um die weiter steigende Ungleichheit zu bremsen?
Das Buch hat einen Umfang von mehr als 800 Seiten und einen Anhang von über 100 Grafiken und Tabellen. Ich habe mir das Kapitel 13 mit dem Titel „Ein Sozialstaat für das 21. Jahrhundert“, Seiten 627 – 660 angesehen. Welche Vorschläge macht Piketty, um Ungleichheiten bei Vermögen und Einkommen abzubauen?
Anders gefragt, kann der Kapitalismus wiederum nur gebremst werden durch globale Krisen und Weltkriege, wie in der Vergangenheit geschehen?
Die Weltökonomie hatte in der 2. Hälfte des vergangenen Jahrhundert große Hoffnungen geknüpft an bessere Lebensbedingungen für alle Menschen, hatte das Ende der Armut angestrebt. Andererseits sind große Ungleichgewichte entstanden: „Individuen, die so reich wie ganze Länder sind.“
Piketty hält die Einführung einer globalen progressiven Kapitalsteuer, ohne „die Kräfte des Wettbewerbs zu beeinträchtigen“, für die ideale Lösung, er weiß aber, dass das eine Utopie, weil global nicht durchsetzbar, ist.
Zunächst, sagt er, ist die Rolle des Staates als wirtschaftlicher und sozialer Akteur im 21. Jahrhundert zu untersuchen.
Beim Vergleich der beiden letzten großen Krisen des Kapitalismus, nämlich der beiden Finanzkrisen von 1929 und von 2008 stellt Piketty fest, dass die jüngste Krise nicht deswegen zu einer so großen Depression wie damals geführt habe, liege daran, dass Regierungen und Notenbanken den Zusammenbruch des Finanzsystems verhindert hätten. So sind die wirklich großen Bankenpleiten verhindert worden.
Die Zentralbanken haben, so Piketty, gezeigt, dass sie nicht nur ein Hüter der Preisstabilität sind, sondern sie haben auch „eine unverzichtbare Rolle als Kreditgeber der letzten Instanz“ gespielt. Allerdings, die Ursachen für die Krisen, „den haarsträubenden Mangel an finanzieller Transparenz und die wachsende Ungleichheit“ haben sie nicht beheben können.
Die Rolle des Staates muss deswegen diskutiert werden, weil sein Gewicht „heute ungleich größer als damals, ja in mancher Hinsicht größer als je zuvor“ geworden ist. Daher ist es nur selbstverständlich, dass staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik ständig infrage gestellt wird:
Und es bedarf zugleich einer kontinuierlichen und tiefgreifenden Reformierung und Modernisierung des Systems der Pflichtabgaben und Ausgaben, da dieses Herzstück des modernen Sozialstaats einen Komplexitätsgrad erreicht hat, der seine soziale und ökonomische Effizienz zuweilen stark beeinträchtigt. … Es wird kaum möglich sein, die Mehrheit der Bürger davon zu überzeugen, dass es neue staatliche Instrumente zu schaffen gilt (überdies auf supranationaler Ebene), ohne den Beweis anzutreten, dass diejenigen, die bereits eingeführt wurden, ordentlich funktionieren.
Wie hat sich nun die Rolle des Staates im wirtschaftlichen und sozialen Leben entwickelt? Piketty stellt die historischen Verläufe von Steuern und Abgaben in vier Ländern (Vereinigte Staaten, Großbritannien, Frankreich und Schweden) dar.
Bis zum ersten Weltkrieg haben die Pflichtabgaben in all diesen Ländern weniger als 10% vom Nationaleinkommen betragen. Hoheitliche Aufgaben (Polizei, Justiz, Armee, Auswärtige Angelegenheiten, Allgemeine Verwaltung) konnte man mit 7% – 8% vom BIP erledigen, ein kleiner Rest blieb für Bildung und Gesundheit.
Hoch interessant nun die Entwicklung von 1920 bis 1980: Der Anteil der Staatsausgaben ist teils um das dreifache, teils sogar um das fünffache gestiegen, danach ist dieser Anteil stabil geblieben, aber auf unterschiedlichen Niveaus: kaum 30% in den Vereinigten Staaten, ca. 40% in Großbritannien und zwischen 45% und 55% in Kontinentaleuropa (45% in Deutschland, 50% in Frankreich, fast 55% in Schweden).
Bleibt festzuhalten: Einnahmen und Ausgaben des Staates waren nie größer als in den letzten Jahrzehnten. Es gibt keinen Abwärtstrend. Die Herausforderungen allerdings sind groß, weil die Ausgaben für Bildung und Gesundheit (medizinischer Fortschritt, alternde Bevölkerung) wachsen werden (müssen).
In der Folge der Krise der 1930er Jahre und im Kontext der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus konnte man vernünftigerweise der Auffassung sein, die Lösung der Probleme des Kapitalismus liege in einer immer größeren Rolle des Staates und seiner Sozialausgaben. Die heute anstehenden Entscheidungen sind sehr viel komplexer. Der große Vorstoß des Staates hat bereits stattgefunden. Er wird kein zweites Mal stattfinden, zumindest nicht in dieser Form.
Welche Aufgaben und damit Ausgaben sind kennzeichnend für den Sozialstaat, der im 20. Jahrhundert in den oben erwähnten westlichen Industriestaaten entstanden ist? Es sind einerseits öffentliche Ausgaben für Bildung und Gesundheit und auf der anderen Seite Lohnersatz- und Transferleistungen.
Für Bildung und Gesundheit wird Anfang des 21. Jahrhunderts zwischen 10% und 15% des Nationaleinkommens ausgegeben. Bildung ist in vielen Ländern so gut wie kostenfrei, Hochschulbildung ist aber teils und gerade in den USA sehr teuer. Krankenversicherung gibt es fast komplett für die Bevölkerung, in den USA allerdings wiederum nur für die Ärmsten und die Alten. Das bedeutet, dass in den genannten Ländern der Staat für ca. drei Viertel, in den USA für die Hälfte der Gesundheits- und Bildungskosten aufkommt.
Bildungs- und Gesundheitsausgaben sind meistens Sachleistungen, während Lohnersatz- und Transferleistungen zu den verfügbaren Einkommen der Haushalte zu zählen sind. Steuern und Abgaben werden dazu erhoben und Lohnersatzleistungen (Altersversorgung, Arbeitslosengeld) und diverse Geldleistungen (Familiengeld, Sozialhilfe) an die Haushalte überwiesen. Den größten Teil der Lohnersatzleistungen, zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln, machen die Renten aus. Sie liegen in Kontinentaleuropa bei 12% bis 13% des BIP’s, in Großbritannien und USA kommen sie nicht über 6% bis 7% hinaus. Somit stellt das Rentensystem in den reichen Ländern die Haupteinkommensquelle für mindestens zwei Drittel und meistens für mehr als drei Viertel der Ruheständler dar.
Sozialhilfeleistungen machen dagegen einen sehr geringen Anteil an den öffentlichen Ausgaben aus, weniger als 1%. Aber auch Piketty ist ein großer Widerspruch aufgefallen:
Dennoch sind gerade diese Leistungen heftig umstritten. Man verdächtigt die Empfänger, sie wollten sich ewig auf den Zuwendungen ausruhen, obwohl Sozialhilfeleistungen sehr viel weniger als andere Leistungen in Anspruch genommen werden, da Leistungsberechtigte durch die Stigmatisierung (und die Komplexität des Beantragungsvorgangs) häufig abgeschreckt werden. Diese Infragestellung der Grundsicherung findet man in den Vereinigten Staaten (wo die schwarze alleinerziehende Mutter ohne Arbeitsmoral oft als Schreckgespenst für die Verächter des ohnehin dürftigen amerikanischen Welfare State herhalten muss) genauso gut wie in Europa.
In Summe stellt Piketty fest, dass die Entwicklung des Steuerstaates im vergangenen Jahrhundert sich im Wesentlichen im Aufbau des Sozialstaates widerspiegelt:
Die moderne Umverteilung gründet sich auf eine Logik der Rechte und das Prinzip der Gleichheit des Zugangs zu einer Reihe von Gütern, die als fundamental gelten.
In diesem Zusammenhang verweist er wiederum auf einen Satz, den er schon der Einleitung des Buches vorangestellt hat:
„Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.“ (Quelle ist Artikel1, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1789) Das erinnert mich an ein Wort aus dem Ahlener Programm der CDU von 1947, dass jede wirtschaftliche Tätigkeit der Bedarfsdeckung des Volkes zu dienen habe.
Insgesamt plädiert Piketty also keineswegs für einen Ausbau des Sozialstaates, um die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zu reduzieren. Die Frage nach der Zukunft des Sozialstaates müsse sich vielmehr darauf konzentrieren, ihn zu reorganisieren, zu modernisieren und zu konsolidieren. Er spricht tatsächlich über Reformen:
Wie lassen sich Krankenhäuser und Krippen verbessern, wie Universitäten oder Grundschulen reformieren, wie Renten und Arbeitslosengeld an die steigende Lebenserwartung oder Jugendarbeitslosigkeit anpassen und was muss an der Erstattung von Arzthonoraren und Medikamenten geändert werden?
Reformen des Sozialstaats vorzuschlagen, sagt er, ist nicht der Zweck seines Buches. Konkret wird er aber doch auf zwei Feldern: Die Frage der Gleichheit des Zugangs zur Bildung und die Zukunft umlagefinanzierter Rentensysteme.
„Fördert das Bildungssystem soziale Mobilität?“ so fragt Piketty und gibt eine erste Antwort, dass nämlich die Anhebung des durchschnittlichen Bildungsniveaus keineswegs zu einem Abbau der Lohnungleichheit geführt habe, weil alle Lohnniveaus mit der gleichen Rate gestiegen seien. Er stellt fest, die soziale Mobilität, also die Chancen aufzusteigen, sei in Mitteleuropa geringer als in Nordeuropa, aber größer als in den Vereinigten Staaten.
Der Grund liege darin, dass in den USA der Zugang zur Hochschulbildung extrem teuer ist. Die Gebühren sind in den 1990er Jahren stark angestiegen, proportional zu den amerikanischen Spitzengehältern in der Wirtschaft. Die Folgen sind offensichtlich:
Neuere Arbeiten haben insbesondere gezeigt, dass der Anteil der Diplomierten unter Kindern, deren Eltern den beiden ärmsten Quartilen der Einkommenshierarchie angehören, zwischen 1970 und 2010 bei 10 – 20% stagnierte, während er im selben Zeitraum unter Kindern aus dem obersten Quartil (die reichsten 25%) von 40% auf 80% gestiegen ist. Das Einkommen der Eltern ist also ein fast unfehlbarer Prädiktor des Zugangs zur Universität.
Und Piketty nennt weitere Daten, die eindeutig sind. Das gegenwärtige Durchschnittseinkommen der Eltern von Harvard-Studenten betrage 450.000$. Das entspricht dem Durchschnittseinkommen der reichsten 2% der amerikanischen Haushalte:
Mit der Idee einer Auswahl, die ausschließlich auf Leistung beruht, ist das kaum vereinbar.
Unser Rentensystem ist heute zu großen Teilen umlagefinanziert. Von den verdienten Löhnen werden Beiträge zur Rentenversicherung einbehalten und direkt an die Rentenempfänger überwiesen. Piketty weist darauf hin, dass dieses Prinzip umso besser funktioniert, je höher das Wachstum ist. Der Beitragszahler erhält später eine wesentlich höhere Rente aufgrund der gestiegenen Lohnsumme, gemessen an dem was er eingezahlt hat. Wenn die Wachstumsrate des BIP nur noch 1,5% beträgt, wie Piketty prognostiziert, ist dieses System nicht mehr so attraktiv. Und schon gibt es die Bestrebungen, die erst teilweise realisiert sind, umzusteigen auf das Prinzip der Kapitaldeckung.
Dieses aber ist mit einigen gravierenden Nachteilen verbunden:
Wie soll überhaupt der Umstieg erfolgen? Eine ganze Generation müsste mit ihren Beiträgen die Alten versorgen und zusätzlich für sich einen Kapitalstock anlegen.
Es muss nicht unbedingt ein Crash sein, der die angelegten Kapitalerträge, zunichte macht. Die Kapitalrendite ist extrem volatil, so Piketty: „Es wäre kein ungefährliches Glücksspiel, die gesamten Rentenbeiträge eines Landes auf den globalen Finanzmärkten anzulegen.“
Piketty empfiehlt die umlagefinanzierte Rentenversicherung als verlässlich und vorhersehbar:
Die Wachstumsrate der Lohnsumme ist vielleicht niedriger als die Kapitalrendite, aber sie ist fünf- bis zehnmal weniger volatil.
Aber – die Herausforderungen sind andere geworden: Piketty sagt, es mache einen Unterschied, ob der überwiegende Teil der Alten zwischen 60 und 70 oder zwischen 80 und 90 stirbt! Da mag die Verlängerung der Lebensarbeitszeit zumindest teilweise eine vernünftige Alternative darstellen – doch diejenigen zu benachteiligen, die keiner Arbeit mehr nachgehen können, führt dazu, dass diese Reformen abgelehnt werden. Als Fazit bleibt:
Die Renten sind das Vermögen derer, die kein Vermögen haben – so sehr diese Redensart zutrifft, so sehr sollte man darauf hinarbeiten, dass Vermögensbildung auch für Beschäftigte mit bescheidenem Einkommen zur Option wird.
Zum Schluss dieses Kapitels geht Piketty ein auf die Frage, wie sich der Sozialstaat in den Entwicklungs- und Schwellenländern entwickeln wird. In den ärmsten Ländern (Piketty meint einige afrikanische Länder und Indien) sind die Abgabequoten sehr gering, liegen zwischen 10% und 15%. Die Länder mit mittlerer Entwicklung (Lateinamerika, Nordafrika, China) kommen auf Quoten von 15% bis 20%, wobei der Abstand dieser Länder zu den reichsten Ländern in den letzten Jahrzehnten größer geworden ist.
Wer den Sozialstaat als wesentlichen Bestandteil einer modernen und entwickelten Gesellschaft sieht, erkennt in diesen Quoten der armen und mittel entwickelten Ländern deren Misere. Es lassen sich damit gerade die hoheitlichen Aufgaben finanzieren, für Infrastruktur, Bildung und Gesundheit bleibt da nicht mehr viel und die Chancen auf eine nachhaltige Entwicklung dieser Länder sind daher kaum gegeben:
Das führt leicht zu einem Teufelskreis, da schlecht funktionierende öffentliche Dienste dazu beitragen, das Vertrauen in den Staat auszuhöhlen – was es wiederum erschwert, höhere Steuereinnahmen zu erzielen.
Warum sind in vielen dieser Staaten die Steuereinnahmen so gering? Neue Untersuchungen zeigen, so Piketty, dass zwischen 1980 und 1990 die Zolleinnahmen, die bislang ca 5% des BIP’s betragen haben, eingebrochen sind. Die Liberalisierung des Welthandels hat hier ihre Spuren hinterlassen und der Einnahmeausfall konnte nicht kompensiert werden durch andere Steuern.
Wer geglaubt hat, Piketty würde in diesem Kapitel Stellung beziehen zur Verfassung und Entwicklung unseres Sozialstaates, findet nur wenige Argumente, die uns betreffen, etwa die Teilprivatisierung der Renten oder die verlängerte Lebensarbeitszeit. Dass unser westlicher oder besser kontinentaleuropäischer Standard vergleichbar gut ist, bleibt unbestritten. Erodierungen innerhalb unseres Systems, manifestiert im Niedriglohnsektor oder in der steigenden Altersarmut, kennzeichnen aber einen alarmierenden Zustand, vor allem wenn er begleitet wird vom steigenden und ungebrochenen Trend der Ungleichheit von Vermögen und Einkommen.
Was schlägt nun Piketty wirklich vor, um die steigende Konzentration von Vermögen und Einkommen zu stoppen?
Kapitel 14 heißt „Die progressive Einkommenssteuer überdenken“ und Kapitel 15 trägt den Titel „Eine globale Kapitalsteuer“. Also: Fortsetzung folgt!
Piketty’s ausführliches Quellenmaterial ist hier zu finden.
Sehr interessanter Artikel. Hoffe Sie veröffentlichen in regelmäßigen Abständen solche Artikel dann haben Sie eine Stammleserin gewonnen. Vielen dank für die Informationen.
Gruß Anna