Amerika – hast du es wirklich besser?

Freiheitsstatue auf Liberty Island, New Jersey Foto: Wikipedia

Der Jubel ist groß. Nikolaus Piper berichtet in der SZ (Teil Wirtschaft, S. 23 vom 3./4. 1. 2015:  „Ein Traum – Warum das amerikanische Zeitalter noch lange nicht zu Ende ist“), dass das Bruttoinlandsprodukt der USA im dritten Quartal 2014 um 5% gewachsen, die Arbeitslosigkeit so niedrig wie seit 1999 nicht mehr ist und die Reallöhne zu steigen beginnen. Und er setzte dem Ganzen die Krone auf: Der Dow Jones hat mit über 18.000 Punkten ein Allzeit-Rekordniveau erreicht. In sechs Punkten führt Piper aus, dass Amerika immer wieder unterschätzt werde und dass es am besten aus der Krise gekommen ist:

  1. Die Firmen Amerikas sind die innovativsten der Welt. Apples iPad und iPhone haben die Welt revolutioniert und Firmen wie Uber und AirBnB sind zwar rücksichtlos, aber sie zeigen, welche Chancen in der zukünftigen Kommunikationstechnik liegen.
  2. Amerikas Börse ist die stärkste der Welt. Der Dollar stellt nach wie vor die größte globale Währungsreserve dar und die Handelspartner der USA schätzen es, „ihre Geschäfte in einer Währung abzurechnen, hinter der die reichste Volkswirtschaft der Welt“ steht.
  3. In der schlimmsten Flutkatastrophe der Stadt New York (Tropensturm „Sandy“ am 29.10.2014) hat die Bevölkerung großen Gemeinsinn gezeigt, viele Freiwillige haben den Opfern geholfen. Die gleichen Eigenschaften, nämlich „Pragmatismus und Gemeinsinn“ attestiert Piper auch dem Notenbankchef Ben Bernanke in der Finanzkrise. Er habe das Schlimmste verhindert und Barack Obama sei in dieser Phase richtig „cool“ gewesen, so einer seiner Berater.
  4. Amerika ist nach wie vor ein Einwanderungsland. Es wohnen zwar elf Millionen illegale Einwanderer im Land, aber es gibt eben auch berühmte Einwanderer wie Jerry Yang, der, geboren in Taiwan, die Firma Yahoo mitbegründet hat. Und Kshama Savant ist aus Indien ausgewandert, hat in den USA Ökonomie studiert, sich der „Occupy-Wall-Street“-Bewegung angeschlossen und im Stadtrat von Seattle durchgesetzt, dass der Mindestlohn um 60% auf 15 Dollar erhöht worden ist. Piper hält es für eine Stärke von Amerika, dass Savant, die inzwischen eine Professur bekommen hat, in den USA den Kapitalismus bekämpfen darf.
  5. Der Ölboom hat Amerika erreicht. Das Fass Öl kostet nicht mehr 150 sondern nur noch 50$. Zwar ist die Technik des Fracking umstritten. Aber langfristig sieht Piper die „positiven geopolitischen und wirtschaftlichen Folgen“ für die USA.
  6. Sogar dem Bericht über die Folterpraktiken des Geheimdienstes CIA gewinnt Piper Positives ab, weil es der amerikanische Senat war, der den Bericht erstellt hat. Die amerikanische Gesellschaft sei eben lernfähig und das unterscheide sie von autoritären Ländern wie China oder Russland.

Da ist es nun gerade vier Monate her, dass wir hier die Ergebnisse aus einer Erhebung, die in den USA von der Federal Reserve Bank durchgeführt wurde, vorgestellt haben. Wichtige Aussagen daraus lauten:

  • Ein Drittel der Befragten hat Arztbesuche oder Medikamentenkäufe aufgeschoben, weil das Geld fehlte.
  • 42 Prozent der Amerikaner gaben in der Umfrage an, dass sie wegen der Finanzkrise größere Käufe verschieben mussten.
  • 31 Prozent aller Befragten sagten, dass sie überhaupt keine Altersersparnisse oder Rentenansprüche haben.
  • Gerade mal ein Drittel der Amerikaner zwischen 18 und 59 Jahren hat genug Ersparnisse, um im Notfall drei Monate lang ihre Ausgaben bewältigen zu können.

Auffallend ist, dass in dieser Erhebung gerade in den Bereichen Gesundheit und Vorsorge große Defizite in der amerikanischen Bevölkerung festzustellen sind. Werden die betroffenen Menschen befragt, so erhält man alarmierende Zahlen. Diese haben sich sicherlich nicht seit vier Monaten wirklich verändert. Es kommt eben darauf an, worüber man berichtet.

Immerhin ist Pipers Artikel überschrieben mit „Ein Traum“. Da habe ich erwartet, dass er von menschlichen Träumen schreibt. Er macht aber die Lage der amerikanischen Bevölkerung fest anhand von gesamtwirtschaftlichen Daten über das BIP, über die generelle Arbeitslosigkeit, über die Börsenkurse. Er fragt nicht nach den Einkommen der Menschen, das real in den letzten 20 Jahren nicht zugenommen hat. Er beschreibt nicht, dass häufig zwei oder drei Jobs erforderlich sind, um über die Runden zu kommen. Und eine der Ursachen der Finanzkrise lag in der Tatsache, dass fehlende Löhne durch Schulden ersetzt wurden, um neue Wohnungen und Häuser zu finanzieren. Die Folgen dieser Krise sind bei weitem noch nicht ausgestanden.

Piper zieht zur Untermauerung seiner These „Ein Traum“ die Stärke der großen Kommunikationsfirmen (hier Apple) heran. Wenn wir den Versorgungsgrad der Menschen mit kleinen Autos, mit Smartphones, mit Tablets und mit Flachbildschirmen betrachten, könnten wir zu dem Ergebnis kommen, den Menschen gehe es ja richtig gut! Dabei fehlt es vielen gerade an den Gütern, die wir der öffentlichen Daseinsvorsorge zurechnen: Bildung, Innere Sicherheit, Gesundheit, Vorsorge für Krankheit und Alter.

Da lohnt sich ein Blick nach Brasilien, über das Le MONDE diplomatique in einem Dossier zur Fußballweltmeisterschaft schrieb:

„Die Erzählung von der „neuen Mittelschicht“, die in Brasilien oder anderen Regionen des Globalen Südens entstehe, beruht auf der sehr westlich-kapitalistischen Perspektive: Wer sich ein Auto, einen Plasmafernseher oder ein Smartphone leisten kann – wenn auch, wie in Brasilien so häufig, nur auf Pump -, gehört demnach schon zur Mittelschicht. Die Zugehörigkeit zu dieser Schicht ergibt sich aus dem “Recht auf Konsum”. Dass sich in Brasilien trotz der beeindruckenden Wachstumsraten im letzten Jahrzehnt an den prekären Lebenschancen der meisten wenig geändert hat, gerät so leicht aus dem Blickfeld: Das Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung, auf den Zugang zu bezahlbarer Bildung von hoher Qualität, auf eine Wohnung mit sauberem Trinkwasser und funktionierender Kanalisation, auf Sicherheit im Alltag und auf einen verlässlichen Transport zum Arbeitsplatz, auf Teilhabe an politischen Entscheidungen und am kulturellen Leben – all das ist für die meisten Brasilianer noch lange nicht selbstverständlich.“ (Quelle)

Wie weit ist die USA wirklich entfernt von einem Kapitalismus, wie wir ihm im globalen Süden begegnen?
Georg Packer schildert in seinem Roman „Die Abwicklung“ den Zustand der amerikanischen Gesellschaft. Er vermisst heute die Bindungswirkung von Institutionen wie Kirchen und Gewerkschaften. In einem Interview mit der SZ führt er aus:

„Die Siebziger waren unserer Zeit ähnlich. Der Vietnamkrieg war vorbei, die Menschen waren unzufrieden, Amerika wandte sich von der Welt ab. Damals begann der Verfall des Sozialvertrags, der das Land zusammengehalten hatte, die Uneinigkeit, der Niedergang der Mittelklasse und die Erosion der Institutionen, die ihr einmal gedient hatten.“

Und wie eine Vorhersage auf Entwicklungen, wie wir sie zurzeit auch in Deutschland feststellen, kommt mir seine nächste Aussage – wohl gemerkt über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft – vor:

„Das Paradoxe ist, dass in den konservativsten Gegenden des Landes auch am meisten Sozialhilfe gezahlt wird. Je ärmer die Leute sind und je mehr Essensmarken sie bekommen, desto konservativer werden sie. Es ist ihre Reaktion auf Chaos und Niedergang, Sie verachten ihre eigene Abhängigkeit. Wenn dein Leben im Sinken begriffen ist, kannst du die Leute über dir oder unter dir beschuldigen. Amerikaner beschuldigen die Leute unter ihnen, nicht etwa Sam Walton, den Wal-Mart-Gründer.“

„Früher waren in North Carolina vor allem die Schwarzen arm. Jetzt leben immer mehr Weiße so schlecht wie sie. Aber das bringt sie nicht zusammen, im Gegenteil. Ihr Elend macht die Weißen feindseliger gegenüber Schwarzen, Immigranten, der modernen Welt.“

Die oben geschilderten Aussagen (von Piper über „Amerika – Ein Traum“ und die Untersuchungen der National Reserve Bank) die haben eben auch etwas miteinander zu tun:
Die Firma Uber bestreitet ein Business-Modell zu Lasten der Arbeitnehmer, die mit niedrigen Löhnen abgespeist werden.
Die hohen Börsenkurse sind entstanden, weil das Shareholder-Value-Prinzip die Kapitalrendite in den Vordergrund stellt und die wesentlichen Merkmale einer erfolgreichen Firma, nämlich zufriedene Kunden, zuverlässige Lieferanten und motivierte Mitarbeiter, zugunsten der Aktionäre in den Hintergrund gerückt hat.

In der gleichen Ausgabe der SZ, Teil Feuilleton, S. 17 vom 3./4. 1. 2015 finden wir dann einen weiteren Artikel über die USA, aus einer hoch interessanten Perspektive. Daniel Genis schreibt unter der Überschrift „Auch ich in Digitalien – Wie man die Welt sieht, wenn man nach zehn Jahren aus dem Gefängnis kommt“.
Genis hat festgestellt, dass die Autos kleiner geworden sind wegen der Energieknappheit. Aber viel wichtiger sei, so findet er, der gesellschaftliche Rassismus habe eindeutig abgenommen, auch wenn es schwer falle, angesichts der Ereignisse in Ferguson, dieses zu glauben. Er beruft sich auf das Verhalten der Menschen:

„ Aber ich habe schnell gelernt, dass Rassist zu sein heute in einer höflicheren Gesellschaft unmöglich und völlig unakzeptabel ist.“

Genis bemerkt auch, dass die Toleranz gegenüber anderen Lebensformen, z.B. der Homosexualität, sehr zugenommen hat:

„Ein Autor, den ich treffen sollte, wurde mir in allen Einzelheiten beschrieben, der letzte Satz lautetete: “Übrigens ist er schwul.”  Vor zehn Jahren wäre das der erste gewesen.“

Dave Eggers stellt in seinem Bestseller Circle die Protagonistin Mae Holland vor. Diese hat eine Stelle im Internet-Konzern Circle bekommen. Circle ist so etwas wie die Zusammenfassung von Google, Apple und Facebook. Mae‘s Arbeit wird ständig überwacht, die Ergebnisse gerankt. Ihre Freizeit kann sie nicht mehr selbstständig gestalten, ständig muss sie sich verantworten, warum sie soziale Kontakte nicht wahrnimmt. Sie bekommt das Armband, das alle ihre physischen Tätigkeiten und gesundheitlichen Merkmale aufzeichnet und ständig der zentralen Human Ressource Abteilung der Firma zur Verfügung steht. Dieses Buch ist der digitale Horror und das schlimme daran ist, es ist keine Science Fiction, es ist längst Realität, bei Circle ist es perfektioniert.

Und wie und wo sollen all diese Daten der sozialen Kontakte und Profile, der Bilder und Videos, der elektronischen Mails, der Smartphone-Archive, der winzigen Kameras, die niemand mehr wahrnimmt, gespeichert werden? Die SZ (18.10.14, Feuilleton, S.18) schreibt in der Rezension des Buches „Digitale Diktatur“ von Stefan Aust und Thomas Amman:

„Die Enthüllungen von Edward Snowden zur Datenspionage durch amerikanische Geheimdienste, aber auch durch die Kooperation von US-Konzernen mit staatlichen Diensten offenbarten Datenmissbrauch in ungekannten Ausmaßen. Man glaubt, eine nicht mehr zu bändigende Paranoia, ein überbordender Verfolgungswahn habe sich das ausgedacht: Das Utah Data Center etwa, am Rande der Ortschaft Bluffdale gelegen, 35 km von Salt Lake City entfernt, verfügt über eine Speicherkapazität in der Größenordnung von Yotta-Bytes (1024 Bytes) – eine Einheit, die noch nie für eine technische Beschreibung gebraucht wurde. Ins irgendwie fassbare übersetzt, bedeutet diese Zahl, dass man eine Quadrillion Textseiten oder das Fünfmillionenfache aller seit Johannes Gutenberg gedruckten Buchseiten dort speichern kann. Wozu wurde diese Kapazität aufgebaut? Um die gesamte weltweite Kommunikation für einen Zeitraum von etwa 100 Jahren aufzuzeichnen und speichern zu können.“

Driftet die amerikanische Gesellschaft auseinander, verliert sie den Halt, wird sie zunehmend weltoffener und toleranter, kann sie sich die Kosten von Krankheiten und Alter nicht mehr leisten, ist sie lernfähig und nicht autoritär, wird sie Energie im Überfluss haben, wird sie digital total kontrolliert werden, wird sie die Zuwanderung weiterhin steuern können, ist sie die reichste Volkswirtschaft der Erde?

Ein Blick auf die USA wird immer vielfältig sein müssen, um dem Land, seinen Möglichkeiten und der Gesellschaft gerecht zu werden, in den meisten Fällen wird dieser Blick widersprüchliche Eindrücke liefern.

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