von Michael Hirsch
Die ideologische Konstellation in der innenpolitischen Flüchtlingsdebatte ist bemerkenswert: dem Wunsch des konservativen und rechtspopulistischen Lager nach einer Begrenzung des Zustroms scheint bisher ein überwältigender Konsens zwischen dem bürgerlich-liberalen, linksliberalen und linken Lager gegenüberzustehen. Hier wird für eine Beibehaltung der bisherigen Politik und für eine Forcierung der sogenannten Willkommenskultur plädiert. Dabei geht es um rechtsstaatliche und zivilisatorische Standards der Aufnahme und sozialen Integration von Flüchtlingen in die deutsche Gesellschaft. Besonders bemerkenswert ist hier die Position der deutschen Industrie. Die Spitzenverbände der Unternehmerschaft haben sich bisher fast einhellig hinter die Bundesregierung gestellt. Es geht um frisches Blut, um frische Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt. Und es geht um Änderungen in der bestehenden Flüchtlings- und Asylpolitik: Die neu Eingewanderten sollen möglichst schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden, möglichst schnell aus den Transitzonen überfüllter Notunterkünfte in die normalen Wohngebiete der Mehrheitsgesellschaft umziehen.
Dahinter steckt dasselbe Gesellschaftsmodell und dieselbe Sozialphilosophie wie schon hinter den Hartz-Reformen und der ganzen Agenda 2010: Deutschland ist eine Lohnarbeitsgesellschaft, und die einzig anerkannte Form sozialer Integration ist diejenige in den Arbeitsmarkt. Diese Sozialphilosophie hat in Deutschland die massenhafte Niedriglohnarbeit salonfähig gemacht. Was die Agenda 2010 mit den Einheimischen versucht hat, soll nun also auch mit den Einwanderern passieren: die möglichst schnelle und möglichst unbürokratische Integration in den Arbeitsmarkt – auch zu niedrigen Löhnen, die dann eben staatlich aufgestockt werden. Nicht einmal im Ansatz möchten die meinungsbildenden Medien die Frage diskutieren, was die vielen Fremden und Flüchtlinge hier tun sollen und können. Denn dann müssten wir uns fragen, ob unser herrschendes Gesellschaftsmodell die Menschen nicht viel zu einseitig und viel zu riskant auf eine einzige, arbeitsgesellschaftliche Identität festlegt.
Im Rahmen der Doktrin der Lohnarbeitsgesellschaft ist das Entstehen von sogenannten Parallelgesellschaften unvermeidlich – und zwar von Ausländern wie Inländern gleichermaßen. Das Herabsinken unter das Niveau subsistenzsichernder Lohnarbeit aber katapultiert jeden Arbeitnehmer aus der Mehrheitsgesellschaft heraus und in ein Subproletariat hinein – ganz gleich ob ethnische Inländer oder Ausländer, und ganz gleich ob der mangelnde gesellschaftliche Wert der Arbeitskraft durch staatliche Zuschüsse ausgeglichen wird oder nicht.
Während in Wirklichkeit die Herausforderung gerade hochproduktiver Gesellschaften wie der deutschen darin liegt, über politische und soziokulturelle Teilhabe jenseits des Primats der Erwerbsarbeit nachzudenken, betreiben Staat und Wirtschaft eine radikale Apologie der Arbeitsgesellschaft. Alle noch nicht voll normalisierten und integrierten Bürger, alle Fremden, aber auch alle Frauen, die bisher ja ebenfalls nur partiell in die Arbeitsgesellschaft integriert waren, sollen jetzt mobilisiert werden.
Wenn Erwerbsarbeit als einziges Modell sozialer Integration propagiert wird, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die anderen Formen von sozialer Praxis und soziokultureller Integration verkümmern. Ebenfalls nicht wundern dürfen wir uns über den wachsenden Druck auf die Löhne im unteren Einkommenssegment. Während die wirkliche politische Aufgabe immer in der politischen Regulierung sozialer Unterschiede von Einkommen, Bildung und sozialen Teilhabechancen liegt, betreibt die staatliche Forcierung der Steigerung des Arbeitskraftangebots eine soziale Spaltung der Gesellschaft.
Das einseitige Modell der Arbeitsgesellschaft betreibt heute eine gutgemeinte Flüchtlingspolitik als fragwürdige Gesellschaftspolitik. Es wird Zeit, diese Flüchtlingspolitik endlich von links zu kritisieren. Dann nämlich stellt sich die Frage, was ein Mensch eigentlich können und lernen muss, um ein guter Bürger in einer demokratischen Gesellschaft zu werden. Dann zeigte sich, dass nicht nur viele Ausländer, sondern auch viele Inländer diesbezüglich große Defizite haben. Falls die deutsche Gesellschaft ernsthaft darüber nachdenken würde, wie eine gute und gerechte Gesellschaft aussieht, dann müssten wir über ein Modell nachdenken, das wirklich allen Bürgern eine Erwerbsbeteiligung zu sozial gerechten Bedingungen ermöglicht. Dies ist nicht anders denkbar als mit radikal verringerten Arbeitszeiten für alle Bürger jeder Herkunft.
Das hätte zwei Konsequenzen. Zum einen erforderte es, dass sich sowohl die Löhne als auch die Arbeitszeiten aller Bürger angleichen (anstatt sich wie heute immer mehr zu unterscheiden). Zum anderen enthielte es eine ganz andere Prioritätensetzung: Die sozialen, politischen und kulturellen Formen der Teilhabe an Gesellschaft sind ebenso wichtig für die soziale Integration wie die wirtschaftlichen. Das wäre das Lernprogramm eines modernen Deutschland, und zwar für alle Einheimischen wie Fremden gleichermaßen. Vielleicht fürchten sich die bisher tonangebenden Professionseliten des bürgerlichen Mainstreams vor diesem Programm. Viele würden hier erst einmal keine so gute Figur machen. Auch jenseits erwerbs- und konsumgesellschaftlicher Motive sozial tätig sein und mit anderen in Gesellschaft treten – das ist die noch zu erlernende vielfältige Lebensform jenseits der einseitigen Logik der Arbeitsgesellschaft.
Dr. phil. habil. Michael Hirsch (* 1966), Philosoph und Politikwissenschaftler, Privatdozent für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen. Lebt als freier Autor und Dozent im Bereich politische Bildung in München.
Sein 2013 erschienenes Manifest “Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen!” haben wir hier bereits vorgestellt. Zuletzt ist von ihm erschienen: “Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit,” Wiesbaden 2016
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