Freier Mensch und freies Leben

Michael Hirsch: Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen!

Vorbemerkung: Wir, die Redaktion, haben Michael Hirsch im November/Dezember des vergangenen Jahres auf Veranstaltungen der Münchner Volkshochschule als hervorragenden Analytiker gesellschaftlicher Verhältnisse kennengelernt. Ich persönlich hatte das hier vorgestellte Buch schon zuvor gelesen und bin kürzlich auf die nachfolgende Rezension gestoßen. Wir danken Wolf Senff für die Zustimmung zur Veröffentlichung auf unserem Blog.

Das Gefühl, dass Lähmung um sich greift, ist unverkennbar. Dennoch erleben wir im Alltag eine unaufhaltsame Beschleunigung – was ist eigentlich los? Die Lähmung, so Michael Hirsch, in diesem Punkt an Slavoj Zizek anknüpfend, sei verursacht durch den in unseren Köpfen zutiefst verwurzelten Glauben an ›Wachstum‹ und ›Fortschritt‹. Und die Beschleunigung ist das Ergebnis der durch nichts und niemanden gebremsten kapitalistischen Erwerbsorientierung, vulgo Raffgier. Von Wolf Senff

Dieses ›Manifest‹ reiht sich nahtlos ein in die Tradition von ›Der kommende Aufstand‹ (2010) und von Stephane Hessels ›Empört euch!‹ (2011), auch die Cover-Illustration mit Banksys blumenwerfendem Demonstranten passt. Gut zu wissen, dass Michael Hirsch sich nicht allein auf weiter Flur bewegt, seine Diktion ist unaufgeregt, sachlich, ohne dass man sich zu Aktionismus gedrängt fühlt, sie zeugt von der Gewissheit, dass die eigene inhaltliche Argumentation letztlich für sich selbst spricht.

Grenzen des Wachstums

Es reiche nun einmal nicht aus, so Hirsch, zu sagen, die Verhältnisse seien »krisenhaft«, nein man müsse kompromisslos den Schritt tun, sie als »falsch« zu bezeichnen – nur auf diese Weise verabschiede man so butterweiche Durchhalteparolen wie die einer vermeintlichen ›Alternativlosigkeit‹ und fordere implizit »richtige« Schritte: »Das Leiden, der Mangel und das Elend müssen wirklich artikuliert werden. Sie müssen mit der politischen These eines möglichen Glücks, eines ganz anderen, anders verteilten und anders genutzten Wohlstands konfrontiert werden«.

Das ist Allgemeingut seit spätestens 1972, seit Club of Rome, ›Grenzen des Wachstums‹, und man kann Michael Hirsch nur zustimmen darin, dass in diesem Land eine unglaublich dicht gestrickte Camouflage seit Jahrzehnten den Blick vernebelt, und auch weiterhin sind »alle Anstrengungen der Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur darauf ausgerichtet, dass es irgendwie so weitergehen kann wie bisher«.

Bedingungsloses Grundeinkommen

Eine Wiederherstellung von Normalität, die »große Sehnsucht unserer Zeit«, sei illusionär. Stattdessen sei erforderlich, Alltagsleben und Kultur von Grund auf zu erneuern. Der ›Muff unter den Talaren‹, der in den sechziger Jahren zum Ziel von Spott und Kritik der nachwachsenden Generation geworden sei, trete heutzutage »smart« auf und »modern, sexy und trendig, geschmeidig im Einwerben von Drittmitteln und in der Erzielung von Einschaltquoten«. Der mediale Mainstream betreibe mit allen Mitteln einen pompösen, glitzernden Aufwand, und dennoch – »die herrschenden Kultureliten sind wie die wirtschaftlichen und politischen Eliten ausgeblutet«.

Hirsch geht es um ein erneuertes gesellschaftliches »Zeitregime«, das nicht auf die als normal vorausgesetzten männlichen Biographien lebenslanger Erwerbsarbeit ziele, sondern über ein bedingungsloses Grundeinkommen hinaus eine vielfältige Entzerrung leiste, eine soziale Neustrukturierung von Arbeit und Einkommen, auf deren Grundlage erst eine Gleichberechtigung der Geschlechter möglich werde. Es dürfe weder von wirtschaftlicher Teilhabe Ausgeschlossene noch ›bildungsferne Schichten‹ geben.

Folgerichtig geht er einen Schritt weiter und wirft der Politik vor, sie reduziere den Menschen auf bloße ›Arbeitskraft‹. Nein, die Politik sei in der Pflicht, den Artikel 1 GG positiv zu interpretieren und »einen freien Menschen, ein freies Leben« zu ermöglichen, es gehe darum, »die überlieferten Bahnen der technokratischen, bürokratischen und kulturindustriellen Routinen zu verlassen«. Es ist gut und außerordentlich wichtig, diese Debatte fortzuführen.

Titelangaben
Michael Hirsch: Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen!
München: Louisoder 2013
73 Seiten. 13 Euro

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im TITEL Kulturmagazin.

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2 Gedanken zu „Freier Mensch und freies Leben

  1. Andreas Schlutter

    Die Klonkrieger des Neoliberalismus

    Heute regieren wieder die Reichen und Mächtigen, sagt Michael Hirsch. Uns wird noch vorgespielt, dass es um die Gleichheit von allen geht. Dabei leben wir schon längst in einer Oligarchie vergleichbar mit der im 19. Jahrhundert. Wir nennen sie heute nur alternativlos statt gestaltend einzugreifen. Die Alternative könnte aber ein gutes Leben sein, in dem wir nicht nach mehr Geld und Macht streben und darüber Anerkennung und Einfluss erreichen, sondern ein gutes Leben, in dem ALLE die Zeit und den Raum haben, mitzugestalten, gemeinsam. Zeit für Freunde und Familie, für kreative Weiterentwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir leben gnadenlos unter unserem Niveau und verehren, was uns und unsere Umwelt zerstört.”

    Spannendes Interview mit Michael Hirsch anlässlich seines Buches auf betondelta.de.

    Hirsch sagt hier z.B.:

    “Die Idee der sozialen Marktwirtschaft ist: Wohlstand für alle. Das sollte über Wirtschaftswachstum, Arbeitsplatzsicherung und einer Nivellierung von sozialen Unterschieden erreicht werden. Diese Ordnung wurde aber vor zehn oder fünfzehn Jahren aufgegeben und seitdem erleben wir gravierende soziale Unterschiede. Man geht davon aus, dass dieses Projekt der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr kompatibel ist mit denjenigen kapitalistischen Strukturen, in denen wir heute leben.

    Alle großen Parteien in allen westlichen Ländern haben sich im Prinzip damit abgefunden. Und in diesem Moment gehen wir in eine oligarchische Gesellschaftsordnung zurück wie sie vor der Einführung der Demokratie und vor der Einführung von großen Sozialversicherungssystemen und progressiver Besteuerung existiert hat – Typ 19. Jahrhundert könnte man sagen.”

    Und weiter:

    “Wenn wir uns auf das Protestieren als solches begrenzen lassen, ist das eine vormoderne Geste. Es gibt zu wenig geordnete Verfahren der Mitbestimmung, der Beteiligung. Das betrifft Unternehmen, ebenso gut wie alle andern demokratischen Verfahren in allen möglichen Institutionen wie Parteien oder Gewerkschaften in der ganzen Gesellschaft. Ich bin nicht gegen Protest, nur Protest ist zu wenig, weil es in einer Unterwürfigkeitsgeste an die Mächtigen stecken bleiben kann: Ändert doch mal bitte etwas.”

    Lesenswert.

  2. Pingback: Ein neues gegenhegemoniales Projekt | Nachdenken in München

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