Am Limit

Ungarn September 2015

Foto: Rebecca Harms

Ein Freund aus der Nachdenker-Gruppe in München hat es so ausgedrückt:

„Stellen Sie sich mal vor, … dass vor Krankenhäusern lange Zäune mit kontrollierten Durchlässen gebaut werden. Diese Durchlässe dürfen jedoch keine kranken Menschen, also Menschen deren Gesundheit und Leben gefährdet ist, passieren. Es finden sich aber immer wieder Menschen mit einem Auto, die gegen Entgelt besonders kranke Menschen um den langen Zaun herum zu einem Hintereingang der Krankenhäuser fahren. Da dieser Transport jedoch illegal ist, werden die Fahrer (obwohl sie Nothilfe geleistet haben!) vor Gericht verurteilt, und ihre Fahrzeuge werden beschlagnahmt oder zerstört. Und jetzt überlegen Sie mal:
– Entspricht nicht dieses verrückte und verbrecherische Szenario genau dem, was die EU für Flüchtlinge aufgebaut hat und noch weiter perfektionieren will?
– Entspricht das fiktive Szenario und die reale Flüchtlingssituation den viel beschworenen ‚europäischen Werten‘ (die mir auch der Bundespräsident auf Anfrage nicht benennen konnte oder wollte)?
– Wer sind die eigentlichen Kriminellen?
Europa ist wie ein Krankenhaus, zu dem Kranke keinen legalen Zutritt haben!“

Ein anderer hat nur gesagt:

„Auch wenn wir die Flüchtlinge freudig empfangen, es werden nicht weniger.“

Die derzeitige öffentliche Diskussion widmet sich aber gar nicht diesen Themen, nicht den Fluchtursachen und auch nicht dem Kampf der Menschen auf ihren Fluchtwegen, weder den ertrinkenden Menschen im Mittelmeer noch dem erbarmungslosen Sterben auf anderen Fluchtrouten. Wir sind mit uns beschäftigt, fragen, wie viele wir aufnehmen und „verkraften“ können. Und auch unter dem Eindruck der freudig empfangenen Flüchtlinge mögen manche ihre Meinung nicht offen äußern. Da höre ich „ja – ich lese doch die Leserbriefe, da reden die Leute nicht so gut über die Flüchtlinge. Und wer weiß, ob da nicht eine ganze Menge an Terroristen ins Land kommen? Und ich bin gespannt, was da rundherum um das Flüchtlingsdorf [… hier im Ort, wo in der nächsten Tagen 50 „unbegleitete Minderjährige“ einziehen werden …] alles passieren wird.“

Da sind sie also wieder, diejenigen, die nicht dabei waren, als der Landrat in der Bürgerversammlung über die Flüchtlingssituation informiert hat und die sich nun hinter den Leserbriefen verstecken. Da ist keine Spur von Bereitschaft, über Fluchtursachen nachzudenken. Dass Aldi der größte Blumenhändler Deutschlands ist, wie kommt das denn, so höre ich? Dass die afrikanischen Fischer in Westafrika gegen die EU-Konkurrenz keine Chance haben, noch nie gehört!

Und immer wieder diese Smart Phones. Ich hatte geglaubt, das Thema sei längst durch. Aber ich vernehme, die jugendlichen Flüchtlinge haben sogar Musik gehört auf ihren Geräten. Da ist nicht ein Gedanke darüber, dass die Phones die einzige Verbindung darstellen zu verlorenen Familienmitgliedern und Freunden, dass die Apps Orientierung auf dem Fluchtweg geben, dass sie Auskunft geben über Zugverbindungen und Taxi-Verfügbarkeiten, dass die gespeicherten Bilder die einzige Erinnerung an die Heimat bilden. Ein syrischer Flüchtling sagte es in der ZIB2 bei 3Sat: „Wenn ich online bin, dann wissen sie, dass ich noch lebe.“

Nun sollen also „Hot Spots“ (ein schreckliches Wort) errichtet werden, in Ungarn, in Serbien, in Griechenland, in Italien, in der Türkei und in Nordafrika. Das sind große Zufluchtsstätten, sie sollen Unterkunft und Sicherheit bieten für möglicherweise mehr als 100.000 Asylsuchende. Werden die Flüchtlinge dann nicht mehr nach Norden streben? Werden die verriegelten Grenzen sie abhalten, sich weiterhin auf den Weg zu machen? Die Dublin-Verordnung, wonach Asylanträge im EU-Eintrittsland zu stellen sind, ist gescheitert, das ist offensichtlich.

Nur, wie bei so vielen Dingen in der EU-Politik ist es so, dass wenn sie fehlgeschlagen ist, dann gebietet die herrschende politische europäische Logik, die Dosierung der Maßnahmen zu erhöhen. So war es mit der Austeritätspolitik in Griechenland. Wichtig dabei ist wiederum die deutsche Position, die es gebietet, sich an die Regeln zu halten, damit wir weiterhin von guten Nachbarn umgeben sind, die die Flüchtlinge von uns fern halten. Daran ändern auch die vielen, die es bis jetzt zu uns geschafft haben, nichts, auch wenn die Bundeskanzlerin das Recht auf Asyl bekräftigt. Es gilt aus deutscher Sicht, die vereinbarten Regeln durchzusetzen.

Einige Politiker beklagen einen Kontrollverlust. Es sind nun Menschen in unserem Land, deren Identität nicht festgestellt ist. Das bereitet Ängste oder hilft zumindest, Ängste zu schüren.

Brauchen wir nun wirklich mehr Arbeitskräfte bei der großen Zahl von Arbeitslosen, Hartz IV-Empfängern und südeuropäischen Immigranten? Die Verpflichtung, Arbeit für die im Lande verbleibenden Flüchtlingen zu schaffen, ist unumstritten.

Benötigen wir mehr Arbeitskräfte, weil wir einen partiellen Fachkräftemangel und demografische Lücken haben? Jenseits dieser Frage – wenn wir viel mehr Vollzeit- und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen hätten und wenn wir ein Viertel der jährlichen Produktivitätssteigerungen von 1% des BIP dem Rentensystem zukommen lassen würden, dann bräuchten wir wohl weniger zusätzliche Arbeitskräfte als in der jetzigen Situation, in der über 20% prekär beschäftigt sind und der Altersarmut damit nicht entgehen können. So aber werden die Forderungen, den Niedriglohnsektor noch weiter auszubauen, neue Nahrung erhalten: Agenda 2020 zur Flüchtlingshilfe?

Vergessen wird dabei die Forderung nach sicheren Fluchtwegen, die thematisiert wird in dem Antrag des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Da heißt es:

Männer und Frauen, Familien und Kinder – sie sind auf der Flucht vor Krieg, Vertreibung, Folter und Hunger. Sie eint die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben in Europa. Tausende fanden den Tod auf der Flucht über das Mittelmeer. Sie sterben, weil die bisherige Politik versagt hat. Die Wahrheit ist: Europas Grenzen töten. Tag für Tag.

„Wir haben die Lage nicht mehr im Griff“ und „Wir sind am Limit“ so sagen viele Verantwortliche in den Kommunen, die auf der Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten sind.

Die Fischer in Westafrika, die Flüchtlinge in den Booten, die Flüchtenden bei Regen und Kälte, mit den Kindern auf dem Arm, sie sind alle an einem ganz anderen Limit.

Bildquelle: flickr / CC BY-SA 2.0
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