- Nachdenken in München - https://nachdenken-in-muenchen.de -

Von China lernen, heißt siegen lernen

[1]

Honkong, Demonstration, 28. Juli 2019, Foto: Thomas Walther

von Rüdiger Rauls

Mit dem Siegen hat es bei der Linken im Westen nicht so recht geklappt. Auch das Lernen hat man weitgehend eingestellt. Während die westlichen Medien seit Wochen ausführlich über die Unruhen in Hongkong berichten, werden die Vorgänge bei den Linken kaum diskutiert.

Linkes Dilemma

Die Linke im Westen befindet sich in der Hongkong-Frage im Zwiespalt. Bei diesem Thema trennt sich politisch die Spreu vom Weizen, die materialistisch analysierende Linke von der sich moralisch empörenden. Hier zeigt sich, was politische Substanz hat, und was sich von Vordergründigem und Scheinbarem verwirren und beeindrucken lässt. Für die moralisch empörte Linke ist Protest gegen „Oben“ ein Wert an sich, wie man an ihrer vorbehaltlosen Unterstützung für Greta Thunberg und die Fridays-for-Future-Bewegung (FfF) sehen kann.

Man ist begeistert, wenn das Volk oder Teile davon wider den Stachel der Mächtigen löcken. Das bedient alt-linke Revolutionsphantasien. Protest nährt die Hoffnung auf Belebung der linken Bewegung, auf Überwindung des politischen Stillstands, in dem die Linke immer tiefer versinkt. Sie sehen in Thunberg und FfF das Wiedererwachen des Kampfes gegen „das System“, den zu führen sie selbst nicht in der Lage sind. In diesem idealistisch-moralisierenden Milieu ist die Hauptsache, dass etwas getan wird. Dabei finden Auseinandersetzungen über die politischen Inhalte des Protestes kaum noch statt. Auf dieser oberflächlichen Betrachtungsweise gründet die Sympathie mancher Linker für die Proteste in Hongkong.

Diese Sympathien werden zudem gefördert durch eine Berichterstattung in den westlichen Medien, die die Proteste von Hongkong als Verteidigung solcher Werte darstellt, denen sich auch viele Linke verpflichtet fühlen: Menschen-rechte, Meinungsfreiheit und Demokratie. Dass die westlichen Vorstellungen dieser Werte mittlerweile zu inhaltsleeren Begriffen verkommen sind beziehungsweise nur nach dem politischen Nutzen für den Westen zur Anwendung kommen, wird von vielen Verfechtern dieser Ideale nicht mehr wahrgenommen. Man verwechselt Propaganda und Ideale.

Zu zusätzlicher Verunsicherung trägt bei, dass häufig und auch zunehmend in linken Kreisen, China als staatskapitalistisch und imperialistisch bezeichnet wird. Somit erscheint es in der Vorstellung vieler Linker als nichts anderes als die alten kapitalistischen Staaten und damit auch nicht besser. Diese Gleichsetzung sowie das Trommelfeuer der westlichen Medien über angebliche Menschenrechtsverletzungen macht es vielen leichter, China zu verurteilen.

Für andere Linke ist es mit der Idealisierung der Protest-Bewegung in Hongkong nicht so einfach. Denn hier erheben sich Teile der Bevölkerung gegen eine Regierung, die von China geschützt wird und als Teil Chinas gilt. Bei vielen Linken hat China immer noch einen Bonus und genießt Ansehen. Für sie hat China immer noch etwas mit Sozialismus zu tun, wenn auch die Beantwortung dieser Frage vielen immer mehr Schwierigkeiten bereitet. Zu China zu stehen, mit ihm solidarisch zu sein, es gar zu verteidigen, bereitet ihnen nicht so große Probleme wie im Falle der untergegangenen Sowjetunion. Denn gegenüber der UdSSR gibt es einen wesentlichen Vorteil: China ist erfolgreich.

Hinzu kommt, dass vorschnell bejubelte Revolutionen – welcher Farbe auch immer – in den letzten Jahren sich später als Kampagnen herausgestellt hatten, die von zweifelhaften Kräften im Inland getragen und ebensolchen aus dem Ausland finanziert worden waren. Bei aller Revolutionsromantik in manchen linken Kreisen ist man aufgrund dieser Erfahrungen nicht nur vorsichtiger, auch unsicherer geworden, mit welchen Volksbewegungen man sich solidarisieren kann oder muss.

Angesichts dieser Gemengelage unterschiedlicher, teilweise gegensätzlicher Ideale ist Orientierung schwierig, erst recht Parteinahme. Denn die sachliche materialistische Analyse politischer Entwicklungen ist weitgehend einer emotional geprägten Haltung gewichen, einem Schubladen-Denken, bei dem es weitgehend nur noch um die Frage geht: „Bist du dafür oder dagegen?“ Bei einer solch oberflächlichen Herangehensweise kann man sich eigentlich nur die Finger verbrennen.

Linke Lernverweigerung

Aus dem linken Dilemma scheint es kein Entrinnen zu geben. Denn ist man für China, handelt man sich den Vorwurf ein, es mit den Feinden der Menschenrechte zu halten. Kritisiert man aber dessen Politik, läuft man Gefahr als Unterstützer von Imperialisten und Neo-Liberalen zu gelten. Aus diesem Zwiespalt wird offenbar, dass der Linken die politisch-ideologische Klarheit verloren gegangen ist, die diesen Zwiespalt als einen künstlichen, von der Propaganda der westlichen Medien und Politik geschaffenen darstellen und einen Ausweg aus dem Dilemma anbieten könnte. Das gilt nicht nur für die Einschätzung der Vorgänge in Hongkong.

Die Linke hat keine politische Orientierung mehr. Da hilft das Zitieren aus den Werken der marxistischen Klassiker auch nicht weiter. Sie ist vielleicht noch in deren Lehren „bibelfest“, ist aber nicht mehr in der Lage, deren Denken und Herangehensweisen auf die heutigen Probleme und gesellschaftlichen Entwicklungen anzuwenden. Die materialistische Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnisse ist weitgehend emotionaler Parteinahme und Bekennertum gewichen.

Die Richtlinien und Grundsätze dieser Emotionalisierung gesellschaftlicher Ereignisse setzen nicht die Politik oder irgendein Tiefer Staat, sondern in erster Linie die Medien. Sie brauchen den gesellschaftlichen Erregungszustand für ihr Geschäft, und der Bürger braucht ihn, um der Langweile seines Alltags zu entfliehen. Es handelt sich also für beide Seiten um eine „Win-Win-Situation“.

Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob es um Proteste in Hongkong geht oder um die neusten facebook-Einträge der VIPs, Stars und Sternchen oder deren Out-fit-Fauxpas. Nur die Zielgruppe ist eine andere. Das Ziel aber ist dasselbe: Erhöhung der öffentlichen Aufmerksamkeit um der damit verbundenen Erhöhung der Werbeeinnahmen wegen.

Diese Emotionalisierung macht vor der Linken nicht Halt. Auch sie lässt sich immer mehr zur Geisel von Idealen wie Menschenrechte und Demokratie machen, für die die westlichen Medien sich einzusetzen vorgeben. Ihre Urteilsfähigkeit und politische Klarheit wird zerrieben zwischen den Idealen, Grundsätzen und Vorstellungen, die die Medien unter das Volk bringen: unterschwellig, andauernd und nachhaltig wie der stete Tropfen, der den Stein höhlt.

Aus dieser Situation der Lähmung hilft aber nur das kritische Hinterfragen der eigenen Sichtweisen und Vorstellungen. Anstatt sich jedoch diesen Fragen zu stellen, stellt sich die Linke weitgehend tot, so auch in der Auseinandersetzung um die Vorgänge in Hongkong. Generell scheint sie nicht in der Lage, über die Veränderungen in China und die Vorwürfe vonseiten westlicher Politiker und Meinungsmacher aus eigener Kraft und aus eigenem Erkenntnisinteresse eine sachliche Auseinandersetzung führen zu können.

Man beruhigt sich selbst in nichtssagenden Erklärungen zum Wirken des Finanzkapitals oder sonstiger hinterhältiger Kräfte, verurteilt konterrevolutionäre Bestrebungen und ausländische Einmischung in Hongkong und bemüht sich um eine ausgewogene Distanz sowohl zu China als auch zu den Demonstranten. Die Linke begreift nicht, dass ihr in der Diskussion um China, dessen Vorstellung von Sozialismus und der Krise in Hongkong eine Gelegenheit geboten wird, endlich das Trauma des untergegangenen sowjetischen Sozialismus aufzuarbeiten und vielleicht auch zu überwinden: Was bedeutet Sozialismus heute, welche gesellschaftlichen Bedingungen müssen dazu herangereift sein und wie ist die Entwicklung in China, aber auch Vietnam einzuschätzen in Bezug auf die Entwicklung des Sozialismus und die Vorstellungen, die bei der westlichen Linken dazu herrschen?

Wiederbelebung eines Feindbilds

Ganz anders verstehen es die meinungsbildenden Kräfte im Westen, die Vorgänge in Hongkong für ihre antichinesische und zunehmend auch antikommunistische Propaganda zu nutzen. Besonders in der Berichterstattung der FAZ wird eine sich verschärfende Frontstellung gegenüber der Kommunistischen Partei Chinas deutlich. Die wirtschaftliche Konkurrenz wächst sich zunehmend zu einer politischen aus. Der Begriff der Systemkonkurrenz findet sich immer häufiger in den Berichten und Kommentaren besonders der FAZ.

Das ist verständlich aus wirtschaftlichen Motiven westlicher Medien, besonders der privaten, ist ihnen doch der Zugang zum chinesischen Markt weitgehend verwehrt und damit auch der Zugang zu dem enormen Werbegeschäft dieses Marktes. Es geht nicht nur um Meinungsfreiheit, es geht in erster Linie ums Geschäft. Auch die FAZ druckt nicht jede Meinung und jeden Leserbrief ab. Auch sie wie die restlichen westlichen Medien veröffentlichen das, was ihren eigenen Vorstellungen entspricht – wie die Chinesen auch.

Man hatte im Westen lange Zeit in China auf eine ähnliche Entwicklung wie in der Sowjetunion gehofft. Wandel durch Handel, und mit Wandel war der Wandel zum Kapitalismus westlicher Prägung gemeint. Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Die kommunistische Partei ist in China stärker denn je. Aber der Westen ist schwächer geworden. China macht den USA die wirtschaftliche und technologische Führungsrolle streitig. Der Westen hat sich mit der Modernisierung Chinas einen zusätzlichen Konkurrenten geschaffen und das unter der Führung einer kommunistischen Partei.

Das war das Dilemma des Westens. Man wollte in China einen gewaltigen Markt erobern und billige Arbeitskräfte finden für die eigene Produktion. Aber gleichzeitig hatte man auch die Grundlage geschaffen für einen in der Menschheitsgeschichte bisher nie gesehenen Zuwachs an Wohlstand. Damit hatte der Westen sich jedoch einen der mächtigsten Propaganda-Knüppel gegen den Kommunismus selbst aus der Hand geschlagen. An China wurde deutlich, dass es nicht die Absicht der Kommunistischen Parteien war, ihre Völker in Armut zu halten.

China hat innerhalb weniger Jahrzehnte 200 Millionen Menschen aus der Armut befreit und schickt sich an, die größte Wirtschaftsmacht der Erde zu werden. Die KP ermutigte die Chinesen sogar: „Werdet reich!“ Das widerspricht all dem, was der Westen bisher über die Absichten der Kommunisten und die Unfähigkeit des Sozialismus in Umlauf gebracht hatte. Und das ist kein Einzelfall. Denn Ähnliches wiederholt sich gerade in Vietnam.

Chinesen reisen um die Welt und sind überall als zahlungskräftige und ausgabefreudige Touristen gerne gesehen. Auch das widerlegt das Bild von Sozialismus, das im Westen gerne gepflegt wurde. Kommunistische Regime schränken die Reisefreiheit ihrer Bürger nicht ein, sie ermöglichen ihnen sogar, im Ausland zu studieren und sich mit den gesellschaftlichen Verhältnisse in den kapitalistischen Demokratien vertraut zu machen und auseinander zu setzen.

Das bedeutet aber, die alten Propagandamärchen bezüglich der kommunistischen Parteien können nicht länger aufrecht erhalten werden, weil die Menschen in der Welt aus eigenem Erleben etwas anderes sehen. Sie erleben Chinesen in ihren Städten und Universitäten. Chinesen investieren überall in der Welt. Sie übernehmen westliche Unternehmen, und chinesische Arbeiter bauen in allen Teilen der Welt die Infrastruktur der weniger entwickelten Länder auf. Da fällt es schwer, das Bild von einem System der Unfreiheit und wirtschaftlichen Inkompetenz aufrecht zu erhalten

Was den meisten Menschen im Westen aber immer noch eingeredet werden kann, ist das Bild eines Systems, das seine Bürger unterdrückt. Denn das können die Menschen im Westen, soweit sie auf die Informationen ihrer eigenen Medien angewiesen sind, nicht überprüfen. Das ist die Absicht solch tendenziöser Berichterstattung über Hongkong, über die Lage der Uiguren, über den Konflikt mit Taiwan und die Bedrohung, die die Länder der Region angeblich in China sehen.

Nur darf dabei eines nicht übersehen werden: Diese Berichte stammen von Medien, die China feindlich gegenüberstehen. Und je mehr der Westen wirtschaftlich, politisch, finanziell und diplomatisch gegenüber China ins Hintertreffen gerät, umso mehr versuchen unsere Medien und Politik dieses Chinabild zu pflegen. Vermutlich wissen sie, dass sie China damit nicht in die Knie zwingen, und es wird auch den Protestierenden in Hongkong nicht helfen. Aber es hält die eigene Bevölkerung bei der Stange, damit Sozialismus seinen Schrecken nicht verliert.


Autor diese Beitrags ist Rüdiger Rauls. Er ist Mitglied des NachDenkSeiten-Gesprächskreises Trier.
Der Beitrag ist zuerst erschienen ist auf: https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2019/09/02/von-china-lernen-heisst-siegen-lernen/ [1]

Wir bedanken uns für die erteilte Erlaubnis zur Veröffentlichung.

Bildquelle: Thomas Walther [2] |CC BY-NC 2.0 [3]

Endnotes:
  1. [Image]: https://live.staticflickr.com/65535/48404089032_b7dd67e713_b.jpg