Die Befindlichkeit der SPD – oder aber des ganzen Landes?

von Stefan Frischauf

Zu Allererst: Respekt vor der Entscheidung Andrea Nahles, sich komplett aus der Politik zurückzuziehen. Das ist ihr sicher sehr schwer gefallen. Daraus spricht viel persönlicher Frust, vielleicht auch Verzweiflung. Das ist tragisch. Aber: menschliche Schicksale sind nun einmal so. Vieles geschieht da im Verborgenen. Da wird jemand „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ krank, leidet und geht vielleicht gar an den Dingen zugrunde. Anderes Leid geschieht öffentlich. So wie Andrea Nahles’ Abgang jetzt.

Unsereinem bleibt da nichts anderes, als ihr und ihrer kleinen Familie alles Gute zu wünschen, nachdem sie die völlig zerrüttete Großfamilie ihrer Partei zumindest ämtertechnisch erst einmal verlassen hat.
Ein gutes weiteres Leben möchte man ihr wünschen.

Die vielen „Nachrufe“ und „Verklärungen“ jetzt, die „üblen Nachreden und Beschimpfungen“:
Andrea Nahles’ Abgang ist sicher nicht auf „frauenfeindliches oder sexistisches“ Gebaren in der SPD zurückzuführen. Zumindest nicht alleine. Auch als Mann muss man heute täglich genügend Spitzen und Nackenschläge und mehr einstecken. In zerstrittenen Gemeinschaften und Familien ist das nun einmal so. Zumal in solchen Zeiten wie diesen. Unseren Zeiten. Unseren Zeiten? Wirklich?

Insofern soll hier vielmehr eine Antwort auf die Frage in der Überschrift ermittelt werden:
Ist Andrea Nahles’ Abgang ein Symptom für die Befindlichkeit nur der SPD – oder aber des ganzen Landes? Des Landes – in dem Land und um das Land herum?

 

Die Sozialdemokratie in Europa

Die Europawahlen haben wie die meisten Geschehnisse heutzutage einmal mehr gezeigt, wie vielschichtig „Realität“ heute wahrgenommen wird. Und wie vielschichtig denn auch die entscheidenden Interpretationen dazu sein können. Vielschichtig in vertikaler – vielseitig in horizontaler Richtung.

Schwäche und Niedergang der Sozialdemokratie verzeichneten da drei markante Ausnahmen:

  1. Portugal: das stolze kleine Land mit dem großen Nachbarn auf der iberischen Halbinsel hat lange vor den Deutschen 1989 eine „friedliche Revolution“ geschafft. Und was für eine: in der „Nelkenrevolution“1974 stürzte das portugiesische Volk gemeinsam mit linken Militärs die faschistische Ordnung, die immerhin fast 30 Jahre lang nach dem zweiten Weltkrieg Bestand hatte. Dies trägt sicher zu dem „reservierten Stolz“ und dem Mut dieses Landes bei, mit der sozialistischen Regierung von António Costa seinen eigenen Weg aus dem „fürsorglichen Würgegriff der Austerität“ herauszufinden. Nicht zu vergessen: Der hier von Brüssel und Berlin verordneten “Sparpolitik“ der Austerität.
  2. Spanien: Mit Platzen der Immobilienblase 2008 einer der Standorte, wo die Krise 2008 am verheerendsten gewütet hat. Ob es sich da um Pedro Sánchez’ Stärke oder um die Schwächung von Konservativen und Separatisten handelt: ich weiß es nicht. Zumindest scheint Sánchez in jeder Beziehung eine „gute Figur“ zu machen und etwas verloren gegangenes Vertrauen bei den arg gebeutelten Bürgern zwischen den Pyrenäen und Katalonien einerseits und der Estremadura und Andalusien andererseits wiedergewonnen zu haben.
  3. Die Niederlande selbst stellen eine reine Kulturlandschaft dar. Ihre Bewohner haben ihr Land über Jahrhunderte dem Meer abgetrotzt und sind so die „Weltmeister“ im Kampf gegen die Urkräfte der Natur des Meeres – aber auch der Regulation der Urgewalten des Wassers im Allgemeinen geworden. Ihre Verhandlungsmethoden: ein befreundeter US-Soldat sagte mir einmal bewundernd, dass Niederländer mit ihren harten Betonköpfen Dinge erreichen würden, für die US-Amerikaner zwangsläufig Gewehre benötigten. Diese Widerstandskräfte spielen dabei genauso eine Rolle wie der auf jeder Sandbank, an jedem Grachtenufer wieder geweckte Wille, Konsensmöglichkeiten im ewigen Dauerzank zu finden.

Das Ergebnis der Europawahlen zeigt also auch, wie sehr die Notwendigkeit von Konsensfindung und Regulierung von Interessensausgleichen das Zulassen von Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit einfordern. Es zeigt sich zudem, wie wichtig Taten und wegweisende Strategien sind, die entsprechend glaubhaft ein kluges Dazwischengehen darstellen. Die somit denn auch programmatisch nicht auf kurzsichtiges Verpuffen innerhalb von nur einer kurzen Zeitspanne, ggf. einer Legislaturperiode angelegt sind.
Sondern die eben an salopp gesagt „kriegsentscheidenden Punkten“ ansetzen.
Auch wenn das zunächst erst einmal eher „verwegen“ klingt: Es hat nur wenig mit Idealismus, mehr mit Realismus und Pragmatismus zu tun.

Interessensausgleiche im Zuge denn auch besonders der Fragen zu grundlegenden Themen wie:
Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit. Und Möglichkeiten der würdevollen Selbstbestimmung beim Sichern dieser Grundrechte. Sicherheit und etwas mehr: Momente der Freude am Leben ohne stetige Bedrängnis. Sicherheit auch bei gemietetem oder in Pacht bewirtschaftetem Grund und Boden. Dass einem keiner den Boden unter den Füßen wegzieht. Oder aber das Wasser abdreht.

 

„Jugendlicher Ungestüm“, der Dauerschlaf und (grüne) Dogmen

Klima und Wetter – und das ineffiziente Dauergezänk zum Klimawandel ist kein spezifisch „sozialdemokratisches Versagen“. Das betrifft alle politischen Parteien. Auch diejenigen „Entscheidungsträger“, die da nach „Profis“ rufen in ihrer Dauerberieselung des „Qual-der Wahlvolkes“.

Manche sehen da schon die „Jamaica-Vorboten“ für die nächste Regierung.
Abgesehen davon, dass hoffentlich irgendwann bald einmal Proteste aus Kingston über den ständigen Ge- oder Missbrauch der Landesfarben hierzulande hörbar werden: Gerade der hervorragende Analyst Heiner Flassbeck verdeutlicht die mangelnde Wirtschaftskompetenz und die große Angst der Grünen vor der „Haushaltsdisziplin“ eines Olaf Schäubles und eines Wolfgang Scholz. Will man aber die Themen „Struktur- und Klimawandel“ und damit völlige Umstrukturierung industrieller Produktion endlich ernsthaft angehen, dann bedarf es schon gewaltiger Investitionsmengen. Und entsprechender international abgestimmter Programme. „Schwarze Nullen“ sind da nur Dogmen aus grauer Vorzeit. 1

Zum „Transatlantischen Gehorsam“ nach „Fischer’s außenpolitischen grünen Weichenstellungen“ auch jetzigen grünen Führungspersonals:  Teuer über den Ozean geschippertes Fracking-Gas aus den US statt russisches Nord-Stream 2-Gas ist nichts anderes als ein Tritt der deutschen Grünen in den Hintern von US-Grünen und Bürgerbewegungen. Insbesondere auch von einem der führenden Klimaforscher, dem früheren NASA-Chef James „Doc“ Hansen, der lange Zeit einer der wortmächtigsten Widersacher der Keystone-XL-Pipeline zum Transport von aufwändig aus  Ölsanden im kanadischen Alberta gewonnenen Öls durch die US war. Einer der vielen Anlässe, warum er dann auch mal wieder in “Beugehaft” war im “Land der unbegrenzten Möglichkeiten”, der “gescheiterten Demokratie” der US, wie der ehemalige CNN-Kriegsreporter Chris Hedges diese abgewirtschaftete Weltmacht nennt. Und Fracking und die Keystone XL sind Kernelemente der „neuen“, seit 2001 wahrlich nicht zimperlich  nach innen und außen vorangetriebenen Energiepolitik der US.

Nicht nur zu „Trumponomics“ und der „Kanonenboot-Sanktionspolitik“, bei der ein Handelskrieg nach dem anderen vom mächtigsten Fernsehzuschauer der Welt vom Zaun gebrochen wird, hört man hierzulande kaum „grüne Gegenrede“: Dr. Jill Stein, wohl die prominenteste Grüne in den US, grüne Präsidentschaftskandidatin dort 2012 und 2016 sagt:

„Es ist an der Zeit, Julian Assange als den zu bezeichnen, der er ist: ein politischer Gefangener, der für die Veröffentlichung von Informationen verfolgt wird, die Verbrechen der Mächtigen offenlegen.
Demokraten, Republikaner und globale Eliten verabscheuen ihn für die Darstellung von Kriegsverbrechen und Korruption.
Es ist an der Zeit, für seine Freiheit zu kämpfen, um unsere eigene Freiheit zu schützen!“ 2

Insofern – „grüne Pläne”, “transatlantischer Gehorsam” und “Globalisierung” als entsprechende internationale Zusammenarbeit funktionieren so absolut nicht.
Vielleicht bedarf es jedoch so nicht einmal des beherzten Protests aus dem Kinky Reggae- und Rastafarian-Land Jamaica. 3

Der Boden unter den Füßen

10 Thesen zur „Bodenfrage“, die ein junger Kollege von mir, Florian Hertweck bei der Eröffnung der Ausstellung „Gerecht. Sozial. Bezahlbar“ – Strategien für „bezahlbares Wohnen in der Stadt“, eine „Initiative des Bundes deutscher Architekten (BDA) Düsseldorf“ an die Wand geworfen hat.
Seine 10 Thesen wurden von manchen da eher als – „zu intellektuell“ abgetan.
Das sind sie aber in keinem Falle. 4

Und ein anderes Extrem zeigt zudem, wie engmaschig da viele Orte der Welt mit der Frage nach Raum- und Bodennutzung verknüpft sind: In Zusammenhang mit San Francisco als teuerster Stadt der US wird von „Super-Gentrifizierung“ gesprochen. „Gentrifizierung“ an sich zerstört schon die Seele einer Stadt. Eines Staates, in dem Stadt und Land friedliches Zusammenleben, -wohnen und -arbeiten ihrer Bewohner ermöglichen sollen. Die Regel jedoch bewirkt eine „freiwillige Selbstauslieferung an ‚freie Märkte’“. Für immer mehr Bewohner ergeben sich aber daraus eher „unfreiwillige Landverluste“.
Das “Land der unbegrenzten Möglichkeiten” zeigt, wie dringend die Frage nach Grund und Boden als “Gemeingut zur Daseinsvorsorge einer vielseitigen und vielschichtigen Gesellschaft” überhaupt einmal gestellt werden muss. 5

Bei all diesen Themen geht es in erster Linie um Sicherheit auf der sinkenden Titanic. Dass kaum noch Rettungswesten da sind, das hört man ja allenthalben. „Selbst dran Schuld“: auch daran hat man sich gewöhnt. Und viele Menschen spüren eben, dass man sie einfach fallen lassen wird, wenn’s hart auf hart kommt. Und: dass das Leben hart, aber unfair ist, das haben auch schon die meisten erfahren.
Allerorten. „Teile und Herrsche“ eben. Bis zum bitteren Ende.

„Weltweit ist ein wirtschaftspolitischer Trend zu beobachten, die öffentlichen Mittel für gemeinnützige Projekte zu reduzieren. Gleichzeitig gibt es oftmals Proteste, wenn es um den Bau von Sozialwohnungen oder Obdachlosenunterkünften in der Nachbarschaft geht.“ Das sagt Patrice Derrington, Direktorin des Center for Urban Real Estate an der New Yorker Columbia University. 6

„In diesem Zusammenhang sollte man auf das Buch „The Invisible Hand? How Market Economies Have Emerged and Declined Since AD 500“ des Wirtschaftshistorikers Bas van Bavel verweisen. … Van Bavels Feststellungen stehen im Widerspruch zur neoliberalen Vorstellung eines Markts als neutralem Mechanismus, der es scheinbar jedem ermöglicht, daran teilzunehmen, um Wohlstand zu erlangen. Nach van Bavels Meinung sind stattdessen Unfreiheit und Ungleichheit der Regelfall. Ausnahmen gibt es nur in den Gesellschaften, die sich nach dem Bottom-up-Prinzip organisieren. In diesen gleichberechtigten Gesellschaften, in denen die Kontrolle nicht mehr ausschließlich in den Händen des Königs, des Adels oder anderen Eliten liegt, kann sich ein offener Markt entfalten: ‚Wir müssen die Vorzüge des Markts erhalten, aber der Dominanz der Eliten entgegenwirken.’“ 7

„Almende“, „Güter der öffentlichen Daseinsvorsorge“ und „Infrastrukturen“: überall da gibt es reichlich Baustellen, die stetig ignoriert oder in eine immer mehr ungewisse Zukunft zu Lasten der Kids, die jetzt mit „Fridays for Future“ ja zu Recht lauter geworden sind verschoben werden. Schwarze Nullen schaffen nichts weg. Außer der Zukunft selbst. Die wird von Amateuren immer weiter verlindert oder zerspahnt.

Globale Probleme benötigen Weitblick auch beim Herangehen an Lösungen. Nicht aber billige Dogmen, die allen teuer zu stehen kommen. „Strukturwandel“ und der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und Um- und Mitwelt-zerstörenden Produktions- und Verpackungsweisen erfordern vor allem Vertrauensaufbau und damit auch Wecken der Bereitschaft zum gemeinsamen Umbau.
Wehrhafte und resiliente Programme und Strategien für eine „Neu-Organisation internationaler und interkultureller Zusammenarbeit“ sind dabei genauso dringend von Nöten wie der Aufbau solcher Initiativen mit den eigenen Landsleuten. Auch und gerade vor dem Hintergrund sich rasant beschleunigender Entwicklungen wie dem Klimawandel und der dafür erforderlichen Erhöhung von Schutz und Widerstandskräften der Menschen an vielen – an allen Orten.

 

„Die Befindlichkeit des Landes“

Ein Konzertmitschnitt dieses sehr subtilen Stücks der Einstürzenden Neubauten von 2000 aus der Hamburger Elbphilharmonie 2017 verdeutlicht die ganze Paradoxie: die Elbphilharmonie wurde mit rund Faktor 8 der ursprünglich veranschlagten Kosten fertiggestellt. 8 Dem Steuerzahler musste  also tief in die Tasche gegriffen werden für den Bau dieses zweifelsohne Weg weisenden Bauwerks am „Tor zur Welt“, im Hamburger Hafen.
Gäbe es auch einen ernst zu nehmenden paritätischen Bildungsauftrag für „arme und mittellose Menschen“, dann  müsste es immer entsprechende feste Kartenkontingente für diese in der Elbphilharmonie geben. Sagen wir mal: Mindestens ein Drittel. Und mindestens zwei Freikonzerte für „arme und mittellose Menschen“ dort im Jahr.
Gesten dieser Art, die dauerhaft installiert und nicht schon im Vorfeld aus Gründen der Parteiräson zerredet würden, wären ein Anfang, um Menschen und ihr Vertrauen allmählich wieder zu gewinnen.

 

„Hinter ihr die Zukunft aufgetürmt“. 9

Andrea Nahles Entscheid verdient Respekt. Viele Menschen, die von Anbeginn an ihre Karriere auf einem einzigen Gebiet verfolgt haben, fallen nach Ausscheiden aus diesem linearen Verlauf in ein tiefes Loch. Aber es gibt immer Alternativen. Das sollten auch Politiker lernen, um so ihre Verlustängste zu bewältigen. Schließlich ist die Welt auch der Wähler und Nicht-Wähler viel bunter und vielfältiger als alles, was da mit ihrem Job und ihrer Karriere verheiratete Menschen in Verwaltungsmachtpositionen jemals erträumt hatten.
Insofern ein Blumengruß von zwei Hibiscusblüten meines Hinterhofausblicks hier.
Für Andrea Nahles. Und für all die anderen, die da bald noch abtreten werden müssen in einem System, das so einfach nicht mehr trag- und arbeitsfähig ist.

 

Anmerkungen:

  1. „Es grünt so grün“: Kommentar zur Europawahl vom 28.05.2019 https://makroskop.eu/2019/05/europawahl-es-gruent-so-gruen/
  2. https://www.facebook.com/drjillstein/posts/2957268800979957 und
    https://www.standard.co.uk/news/uk/julian-assange-showing-symptoms-of-psychological-torture-un-expert-to-say-a4155791.html
  3. https://www.dailymotion.com/video/x2ofz6r
  4. Florian Hertweck ist Architektur-Professor an der Uni Luxemburg und leitet da auch den Master-Studiengang für europäische Urbanisierung und Globalisierung. https://wwwen.uni.lu/research/flshase/identites_politiques_societes_espaces_ipse/research_institutes/institute_of_geography_and_spatial_planning/staff2/florian_hertweck
  5. https://www.heise.de/newsticker/meldung/Milliardaere-und-Armut-Das-grosse-Tech-Beben-spaltet-San-Francisco-4432272.html
  6. „Kreation, Kalkulation, Spekulation – Eine kurze Geschichte der Immobilienentwicklung“: Baumeister, Das Architektur-Magazin, 116. Jahrgang; B6 – 2019: kuratiert von Reinier de Graaf, Partner im 1975 von Rem Koolhaas u.a. gegründeten „Office for Metropolitan Architecture (OMA)“. S. 38; https://www.baumeister.de/baumeister-oma/#IMG_5629-631×440
  7. Jacqueline Tellinga, Vorstandsmitglied des Verbandes Niederländischer Stadtplaner (BNSP) in ihrem Plädoyer für Selbstbaukonzepte am Beispiel von Almere, B6 – 2019: S. 129.
  8. https://www.youtube.com/watch?v=z_5t_ILQufw
  9. Textzeile aus „Die Befindlichkeit des Landes“:
    https://genius.com/Einsturzende-neubauten-die-befindlichkeit-des-landes-lyrics

 

 

 

 

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5 Gedanken zu „Die Befindlichkeit der SPD – oder aber des ganzen Landes?

  1. blog1

    Mein Mitgefühl für Andrea Nahles hält sich in Grenzen, nicht etwa, weil ich den Stil, wie sie aus den Ämtern gedrängt wurde, gutheiße, sondern weil sie auch nicht gerade zimperlich mit ihren innerparteilichen Genossen umgegangen ist. Ich erinnere nur an Müntefering, Gabriel und Schulz und das sind beileibe nicht alle.
    Jeder, der im politischen Geschäft eine Spitzenposition erlangen will oder schon hat, weiß, was auf ihn zukommt. Insofern kann ich das Gefasel von politischer Verantwortung nicht mehr hören. In demokratisch legitimierten Parteien geht es ausschließlich um die Macht, d.h. um Wählerstimmen und wer diese Wählerstimmen generiert, dem wird gehuldigt und gleichermaßen an seinem Stuhl gesägt.
    Das schließt ja nicht aus, dass es Politiker gibt, die einen guten Job machen. Die nach außen zur Schau getragene Demut ist oft aber nichts anderes als die Angst vor dem Absturz, der zweifellos kommen wird, so sehr man sich auch einen guten Abgang wünscht. Auf die Fallhöhe kommt es an.
    Die Hinweise zu den Erfolgen der Sozialdemokratie in anderen EU-Staaten sind zwar zutreffend, sie sind aber nicht zwingend vergleichbar. Auffällig ist allerdings, dass die Programmatik zu den Personen passen muss, die sie vertreten und da klafft bei der SPD eine erhebliche Lücke, die unter dem Stichwort Glaubwürdigkeit subsumiert werden kann.
    Ich sehe durchaus kritische Punkte bei den Grünen, vor allem dann, wenn es um eine Abkehr aus der Wohlfühlökologie geht. Wie sie aber mit der Fridays for Future Bewegung umgegangen sind, war schon professionell. Während sich die CDU/CSU und auch die SPD mit dem Thema Schulpflicht auseinander gesetzt hat, haben die Grünen erkannt, dass man diese jungen Leute ernst nehmen muss. Als sich dann die Bewegung Science for Future smit der Bewegung FfF solidarisiert hat, war es schon zu spät für eine Kehrtwende.
    Wer, wie Teile in der SPD sich permanent mit der Vergangenheit beschäftigt und für die Zukunft keinerlei schlüssigen Konzepte vorweisen kann, der braucht sich nicht zu wundern, dass die Wähler scharenweise davonlaufen. Die SPD hat sich gut ein Jahrzehnt damit beschäftigt, sich einreden zu lassen, wie toll doch die Agenda 2010 war und beschäftigt sich jetzt damit, wie sie aus der großen Koalition aussteigen kann, ohne dabei den Schwarzen Peter für einen Koalitionsbruch in Kauf nehmen zu müssen. Dabei kämen als einzige Alternative nur Neuwahlen im September in Frage, die allerdings nur mit frischem Personal angegangen werden können. Aber jetzt soll zuerst einmal eine Mitgliederbefragung stattfinden, die einen Erkenntniswert gegen Null erbringt.
    OK, dann sollen doch eine Simone Lange und einen Kevin Kühnert als Parteivorsitzende nominiert werden, die am besten gleich gegen einen Friedrich Merz aus der Union antreten sollten. Dann hätten die Wähler wenigstens eine echte Alternative. Wo allerdings die wirtschaftliche Kompetenz bei Frau Lange oder Herrn Kühnert herkommen soll, ist mir ein Rätsel. Friedrich Merz hat wirtschaftliche Kompetenz, allerdings die falsche Stoßrichtung.
    Der häufig zitierte Heiner Flassbeck, der als der volkswirtschaftliche Guru der Linkspartei gilt, wird m.E. etwas überschätzt. Flassbeck ist überzeugter Keynesianer, der als Allheilmittel allzu gerne die Verschuldung anführt. Das mag in den Fällen funktionieren, in den denen es um „deficit spending“ geht. Im Kern geht es aber um eine Überwindung des neoliberalen Dogmas, das sich längst in den Köpfen der wirtschaftlichen und politischen Eliten festgesetzt und sich wie ein Krebsgeschwür weltweit etabliert hat.

  2. Stefan Frischauf

    Gebe Dir in vielen Punkten Recht. Auch mein Mitgefühl mit Andrea Nahles hält sich in Grenzen. Aus Gründen, die Du auch nennst. Solidarität und faires Zusammenspiel sind allerorten Mangelware. Und Andrea Nahles war da nie zimperlich. Korrekt. Sagst Du ja auch in den ersten drei Abschnitten. Die potenzierte “deutsche Angst” vor dem freien Fall lässt ja ganz viele sich auf allen Ebenen hinter der Schreibtischkante und dem dazu gehörigen Paragraphendschungel davor verstecken.
    Der Hinweis zur passenden Programmatik bei den hier angeführten europäischen Beispielen ist der Kern des Ganzen: Die gibt es nicht in diesem Paragraphendschungel von Schreibtischtätern, die zwangsläufig so an vielen verschiedenen Strängen – zu allererst dem ihres eigenen Pöstchen- und Machterhalt ziehen.
    Daran scheitern auch mutige und kluge SPDler. Ein flexibles Konzept für “Zukunft” fehlt völlig. Wer so etwas anspricht und da mehr fordert jedoch wird ausgegrenzt und als Miesmacher und vieles andere denunziert. Insofern stimme ich auch Deiner eher pessimistischen Einschätzung der “Mitgliederbefragung” zu.
    Die Grünen haben zwar richtig auf “Fridays for Future” reagiert. Alles Weitere jedoch ist erstarrt in ihrer Wohlfühlblase. Sehe da derzeit kaum glaubhafte Impulse, da wirklich die erforderlichen Richtungswechsel zu verfolgen. Die “erforderliche nachhaltige Wirtschaftskompetenz” fehlt da nicht nur Simone Lange und Kevin Kühnert. Die fehlt allen Politkarrieristen derzeit, Vielleicht auch, weil die gesamte Gesellschaft sich voller Angst in ihrer Kuschelzone eingerichtet hat und dieses “Sein” als “gesteuertes Bewusstsein” alternativlos bestimmt ist. Um Marx’sche Termini mit neoliberalem Gewäsch einmal hier zu vermischen.
    Insofern: Flassbeck ist ein starker Analyst. Ich gebe Dir Recht: der Kern ist die Überwindung des “neoliberalen Dogmas”.
    Dieses weltweite Krebsgeschwür erfordert aber auch genauere Blicke auf die Welt. Und die fehlen völlig.
    Habe die Tage einen Paschtunenführer aus den FATAS zwischen Afghanistan und Pakistan gehört, der Helmut Schmidt zitiert hat. Ich verstehe Paschtu nur rudimentär, da es nur wenige Verbindungen zu Dari und Farsi gibt. Aber diese Dinge hat der Gute in Englisch eingebracht. Und das sagt schon einiges über die Wichtigkeit einer mutigen Sozialdemokratie für viele Prozesse dort, wo dieses Krebsgeschwür zu bösartig eiternden Tumoren mit weiter gestreuten Metastasen geführt hat.

  3. Andreas Schlutter

    Natürlich ist es notwendig, das neoliberale Dogma zu überwinden. Zur Rolle der SPD ein, wie ich finde, zutreffendes Zitat:

    Nun ja, auch in Sachen Steuerpolitik gibt es zahlreiche Gründe, mit der SPD zu hadern. Allerdings bringt es auch in der Politik nicht viel, verschütteter Milch nachzutrauern. Mehr Steuergerechtigkeit ist möglich, man muss sie nur wollen und politisch durchsetzen.

    Auch sonst ist der Beitrag von Christian Görke, brandenburgischer Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident im Neuen Deutschland richtig, muss es doch darum gehen Handlungsspielräume zu gewinnen.
    Doch die Herausforderung angesichts der dramatischen Umwelt- und Klimaveränderungen werden nicht durch keynesianistisches Gegensteuern zu lösen sein. Das ist ein politischer Kraftakt, wo Deutschland auch nur ein Player von vielen ist. Es gilt sich anzulegen mit der Herrschaft der global agierenden Konzerne. Und es braucht mindestens einer Idee, wie ein gutes Leben jenseits der unendlichen Konsummöglichkeiten aussehen soll.

    1. Stefan Frischauf

      Kann jeden Satz unterstreichen, den Du geschrieben oder zitiert hast, Andreas.
      Es sind jedoch nicht nur die “global agierenden Konzerne”. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist das Gegensteuern von unten, um die vielen kleinen Kriege mit “global agierenden Stellvertretern” zu beenden. Auswege aus diesen bedeutet Vertrauensaufbau. Es bedeutet Dazwischengehen, aber mit ganz klarem Ziel und Strategie: Interessensausgleiche suchen zwischen den Interessen der Mehrheiten gegen Feudalherren, Großkonzerne etc. Es bedeutet, überhaupt erst einmal diese Interessenskonflikte wahrnehmen zu wollen.
      Insofern bedarf es nicht “einer Idee”, sondern einer Strategie, eines Konzeptes (= Summe verschiedener, in diese Richtung zielender Ideen), um auch gerade Umwelt- und Klimaschutz im Interesse der Vielen gegen einige Wenige überhaupt Geltung zu verschaffen.
      Und: genau das ist es auch, was z.B. Umair Haque in seinen Essays zum Niedergang der US und des “Predator-Kapitalismus” dort nicht müde wird, zu beschwören: die europäische Sozialdemokratie. Als Bewegung, die mit Bahrs und Brandts Ostpolitik das Leben im Schatten des eisernen Vorhangs für alle erträglicher gemacht hat u.v.m. Die mit einer ausgleichenden Gesetzgebung überlebenswichtige “Almende” wie Luft und Wasser überhaupt wieder geschützt hat. Auch da durchaus im Konflikt zu mächtigen Einzel-/ Konzerninteressen.
      Dafür jedoch muss die Sozialdemokratie aber hier und andernorts in Europa sich erst einmal dieses Erbes besinnen. Hierzulande zu allererst. Und sie muss den Transfer dieses eher “nationalen Erbes” auf eine “globale Ebene” erreichen wollen. Dafür bedarf es jedoch des entsprechenden diplomatischen Willens. Gerade “der letzte Kosmopolit im Kanzleramt”, Helmut Schmidt hat dies in seinem altersweisen aktiven Ruhestand immer wieder beschworen. Auch zu Afghanistan hat er im Januar 2010 weit vorausblickendes gesagt. Und: Länder wie dieses sind auch der Kern, wo es darum geht, die Widerstandsfähigkeit der Mehrheit gegen “Umwelt- und Klimaveränderungen” und wirksamen Schutz und Teilhabe an den Dingen zu erreichen. Das sind die wesentlichen Kriegsursachen vor Ort.
      Es geht also um multinational abgestimmte Strategien. Dafür jedoch darf Außenpolitik nicht national militärisch-“global-ökonomischer” Priorität unterliegen und der Dialog mit Mehrheitsvertretern der Zivilbevölkerung muss in den Vordergrund treten. Damit diese überhaupt gestärkt werden könne.
      Dieses diplomatische Geschick und den damit verbundenen politischen Willen jedoch lässt die “Sozialdemokratie” insbesondere in Deutschland seit Langem schmerzhaft vermissen.

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