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von Stefan Frischauf [1]
Zu Allererst: Respekt vor der Entscheidung Andrea Nahles, sich komplett aus der Politik zurückzuziehen. Das ist ihr sicher sehr schwer gefallen. Daraus spricht viel persönlicher Frust, vielleicht auch Verzweiflung. Das ist tragisch. Aber: menschliche Schicksale sind nun einmal so. Vieles geschieht da im Verborgenen. Da wird jemand „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ krank, leidet und geht vielleicht gar an den Dingen zugrunde. Anderes Leid geschieht öffentlich. So wie Andrea Nahles’ Abgang jetzt.
Unsereinem bleibt da nichts anderes, als ihr und ihrer kleinen Familie alles Gute zu wünschen, nachdem sie die völlig zerrüttete Großfamilie ihrer Partei zumindest ämtertechnisch erst einmal verlassen hat.
Ein gutes weiteres Leben möchte man ihr wünschen.
Die vielen „Nachrufe“ und „Verklärungen“ jetzt, die „üblen Nachreden und Beschimpfungen“:
Andrea Nahles’ Abgang ist sicher nicht auf „frauenfeindliches oder sexistisches“ Gebaren in der SPD zurückzuführen. Zumindest nicht alleine. Auch als Mann muss man heute täglich genügend Spitzen und Nackenschläge und mehr einstecken. In zerstrittenen Gemeinschaften und Familien ist das nun einmal so. Zumal in solchen Zeiten wie diesen. Unseren Zeiten. Unseren Zeiten? Wirklich?
Insofern soll hier vielmehr eine Antwort auf die Frage in der Überschrift ermittelt werden:
Ist Andrea Nahles’ Abgang ein Symptom für die Befindlichkeit nur der SPD – oder aber des ganzen Landes? Des Landes – in dem Land und um das Land herum?
Die Sozialdemokratie in Europa
Die Europawahlen haben wie die meisten Geschehnisse heutzutage einmal mehr gezeigt, wie vielschichtig „Realität“ heute wahrgenommen wird. Und wie vielschichtig denn auch die entscheidenden Interpretationen dazu sein können. Vielschichtig in vertikaler – vielseitig in horizontaler Richtung.
Schwäche und Niedergang der Sozialdemokratie verzeichneten da drei markante Ausnahmen:
- Portugal: das stolze kleine Land mit dem großen Nachbarn auf der iberischen Halbinsel hat lange vor den Deutschen 1989 eine „friedliche Revolution“ geschafft. Und was für eine: in der „Nelkenrevolution“1974 stürzte das portugiesische Volk gemeinsam mit linken Militärs die faschistische Ordnung, die immerhin fast 30 Jahre lang nach dem zweiten Weltkrieg Bestand hatte. Dies trägt sicher zu dem „reservierten Stolz“ und dem Mut dieses Landes bei, mit der sozialistischen Regierung von António Costa seinen eigenen Weg aus dem „fürsorglichen Würgegriff der Austerität“ herauszufinden. Nicht zu vergessen: Der hier von Brüssel und Berlin verordneten “Sparpolitik“ der Austerität.
- Spanien: Mit Platzen der Immobilienblase 2008 einer der Standorte, wo die Krise 2008 am verheerendsten gewütet hat. Ob es sich da um Pedro Sánchez’ Stärke oder um die Schwächung von Konservativen und Separatisten handelt: ich weiß es nicht. Zumindest scheint Sánchez in jeder Beziehung eine „gute Figur“ zu machen und etwas verloren gegangenes Vertrauen bei den arg gebeutelten Bürgern zwischen den Pyrenäen und Katalonien einerseits und der Estremadura und Andalusien andererseits wiedergewonnen zu haben.
- Die Niederlande selbst stellen eine reine Kulturlandschaft dar. Ihre Bewohner haben ihr Land über Jahrhunderte dem Meer abgetrotzt und sind so die „Weltmeister“ im Kampf gegen die Urkräfte der Natur des Meeres – aber auch der Regulation der Urgewalten des Wassers im Allgemeinen geworden. Ihre Verhandlungsmethoden: ein befreundeter US-Soldat sagte mir einmal bewundernd, dass Niederländer mit ihren harten Betonköpfen Dinge erreichen würden, für die US-Amerikaner zwangsläufig Gewehre benötigten. Diese Widerstandskräfte spielen dabei genauso eine Rolle wie der auf jeder Sandbank, an jedem Grachtenufer wieder geweckte Wille, Konsensmöglichkeiten im ewigen Dauerzank zu finden.
Das Ergebnis der Europawahlen zeigt also auch, wie sehr die Notwendigkeit von Konsensfindung und Regulierung von Interessensausgleichen das Zulassen von Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit einfordern. Es zeigt sich zudem, wie wichtig Taten und wegweisende Strategien sind, die entsprechend glaubhaft ein kluges Dazwischengehen darstellen. Die somit denn auch programmatisch nicht auf kurzsichtiges Verpuffen innerhalb von nur einer kurzen Zeitspanne, ggf. einer Legislaturperiode angelegt sind.
Sondern die eben an salopp gesagt „kriegsentscheidenden Punkten“ ansetzen.
Auch wenn das zunächst erst einmal eher „verwegen“ klingt: Es hat nur wenig mit Idealismus, mehr mit Realismus und Pragmatismus zu tun.
Interessensausgleiche im Zuge denn auch besonders der Fragen zu grundlegenden Themen wie:
Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit. Und Möglichkeiten der würdevollen Selbstbestimmung beim Sichern dieser Grundrechte. Sicherheit und etwas mehr: Momente der Freude am Leben ohne stetige Bedrängnis. Sicherheit auch bei gemietetem oder in Pacht bewirtschaftetem Grund und Boden. Dass einem keiner den Boden unter den Füßen wegzieht. Oder aber das Wasser abdreht.
„Jugendlicher Ungestüm“, der Dauerschlaf und (grüne) Dogmen
Klima und Wetter – und das ineffiziente Dauergezänk zum Klimawandel ist kein spezifisch „sozialdemokratisches Versagen“. Das betrifft alle politischen Parteien. Auch diejenigen „Entscheidungsträger“, die da nach „Profis“ rufen in ihrer Dauerberieselung des „Qual-der Wahlvolkes“.
Manche sehen da schon die „Jamaica-Vorboten“ für die nächste Regierung.
Abgesehen davon, dass hoffentlich irgendwann bald einmal Proteste aus Kingston über den ständigen Ge- oder Missbrauch der Landesfarben hierzulande hörbar werden: Gerade der hervorragende Analyst Heiner Flassbeck verdeutlicht die mangelnde Wirtschaftskompetenz und die große Angst der Grünen vor der „Haushaltsdisziplin“ eines Olaf Schäubles und eines Wolfgang Scholz. Will man aber die Themen „Struktur- und Klimawandel“ und damit völlige Umstrukturierung industrieller Produktion endlich ernsthaft angehen, dann bedarf es schon gewaltiger Investitionsmengen. Und entsprechender international abgestimmter Programme. „Schwarze Nullen“ sind da nur Dogmen aus grauer Vorzeit. 1
Zum „Transatlantischen Gehorsam“ nach „Fischer’s außenpolitischen grünen Weichenstellungen“ auch jetzigen grünen Führungspersonals: Teuer über den Ozean geschippertes Fracking-Gas aus den US statt russisches Nord-Stream 2-Gas ist nichts anderes als ein Tritt der deutschen Grünen in den Hintern von US-Grünen und Bürgerbewegungen. Insbesondere auch von einem der führenden Klimaforscher, dem früheren NASA-Chef James „Doc“ Hansen, der lange Zeit einer der wortmächtigsten Widersacher der Keystone-XL-Pipeline zum Transport von aufwändig aus Ölsanden im kanadischen Alberta gewonnenen Öls durch die US war. Einer der vielen Anlässe, warum er dann auch mal wieder in “Beugehaft” war im “Land der unbegrenzten Möglichkeiten”, der “gescheiterten Demokratie” der US, wie der ehemalige CNN-Kriegsreporter Chris Hedges diese abgewirtschaftete Weltmacht nennt. Und Fracking und die Keystone XL sind Kernelemente der „neuen“, seit 2001 wahrlich nicht zimperlich nach innen und außen vorangetriebenen Energiepolitik der US.
Nicht nur zu „Trumponomics“ und der „Kanonenboot-Sanktionspolitik“, bei der ein Handelskrieg nach dem anderen vom mächtigsten Fernsehzuschauer der Welt vom Zaun gebrochen wird, hört man hierzulande kaum „grüne Gegenrede“: Dr. Jill Stein, wohl die prominenteste Grüne in den US, grüne Präsidentschaftskandidatin dort 2012 und 2016 sagt:
„Es ist an der Zeit, Julian Assange als den zu bezeichnen, der er ist: ein politischer Gefangener, der für die Veröffentlichung von Informationen verfolgt wird, die Verbrechen der Mächtigen offenlegen.
Demokraten, Republikaner und globale Eliten verabscheuen ihn für die Darstellung von Kriegsverbrechen und Korruption.
Es ist an der Zeit, für seine Freiheit zu kämpfen, um unsere eigene Freiheit zu schützen!“ 2
Insofern – „grüne Pläne”, “transatlantischer Gehorsam” und “Globalisierung” als entsprechende internationale Zusammenarbeit funktionieren so absolut nicht.
Vielleicht bedarf es jedoch so nicht einmal des beherzten Protests aus dem Kinky Reggae- und Rastafarian-Land Jamaica. 3
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Der Boden unter den Füßen
10 Thesen zur „Bodenfrage“, die ein junger Kollege von mir, Florian Hertweck bei der Eröffnung der Ausstellung „Gerecht. Sozial. Bezahlbar“ – Strategien für „bezahlbares Wohnen in der Stadt“, eine „Initiative des Bundes deutscher Architekten (BDA) Düsseldorf“ an die Wand geworfen hat.
Seine 10 Thesen wurden von manchen da eher als – „zu intellektuell“ abgetan.
Das sind sie aber in keinem Falle. 4
Und ein anderes Extrem zeigt zudem, wie engmaschig da viele Orte der Welt mit der Frage nach Raum- und Bodennutzung verknüpft sind: In Zusammenhang mit San Francisco als teuerster Stadt der US wird von „Super-Gentrifizierung“ gesprochen. „Gentrifizierung“ an sich zerstört schon die Seele einer Stadt. Eines Staates, in dem Stadt und Land friedliches Zusammenleben, -wohnen und -arbeiten ihrer Bewohner ermöglichen sollen. Die Regel jedoch bewirkt eine „freiwillige Selbstauslieferung an ‚freie Märkte’“. Für immer mehr Bewohner ergeben sich aber daraus eher „unfreiwillige Landverluste“.
Das “Land der unbegrenzten Möglichkeiten” zeigt, wie dringend die Frage nach Grund und Boden als “Gemeingut zur Daseinsvorsorge einer vielseitigen und vielschichtigen Gesellschaft” überhaupt einmal gestellt werden muss. 5
Bei all diesen Themen geht es in erster Linie um Sicherheit auf der sinkenden Titanic. Dass kaum noch Rettungswesten da sind, das hört man ja allenthalben. „Selbst dran Schuld“: auch daran hat man sich gewöhnt. Und viele Menschen spüren eben, dass man sie einfach fallen lassen wird, wenn’s hart auf hart kommt. Und: dass das Leben hart, aber unfair ist, das haben auch schon die meisten erfahren.
Allerorten. „Teile und Herrsche“ eben. Bis zum bitteren Ende.
„Weltweit ist ein wirtschaftspolitischer Trend zu beobachten, die öffentlichen Mittel für gemeinnützige Projekte zu reduzieren. Gleichzeitig gibt es oftmals Proteste, wenn es um den Bau von Sozialwohnungen oder Obdachlosenunterkünften in der Nachbarschaft geht.“ Das sagt Patrice Derrington, Direktorin des Center for Urban Real Estate an der New Yorker Columbia University. 6
„In diesem Zusammenhang sollte man auf das Buch „The Invisible Hand? How Market Economies Have Emerged and Declined Since AD 500“ des Wirtschaftshistorikers Bas van Bavel verweisen. … Van Bavels Feststellungen stehen im Widerspruch zur neoliberalen Vorstellung eines Markts als neutralem Mechanismus, der es scheinbar jedem ermöglicht, daran teilzunehmen, um Wohlstand zu erlangen. Nach van Bavels Meinung sind stattdessen Unfreiheit und Ungleichheit der Regelfall. Ausnahmen gibt es nur in den Gesellschaften, die sich nach dem Bottom-up-Prinzip organisieren. In diesen gleichberechtigten Gesellschaften, in denen die Kontrolle nicht mehr ausschließlich in den Händen des Königs, des Adels oder anderen Eliten liegt, kann sich ein offener Markt entfalten: ‚Wir müssen die Vorzüge des Markts erhalten, aber der Dominanz der Eliten entgegenwirken.’“ 7
„Almende“, „Güter der öffentlichen Daseinsvorsorge“ und „Infrastrukturen“: überall da gibt es reichlich Baustellen, die stetig ignoriert oder in eine immer mehr ungewisse Zukunft zu Lasten der Kids, die jetzt mit „Fridays for Future“ ja zu Recht lauter geworden sind verschoben werden. Schwarze Nullen schaffen nichts weg. Außer der Zukunft selbst. Die wird von Amateuren immer weiter verlindert oder zerspahnt.
Globale Probleme benötigen Weitblick auch beim Herangehen an Lösungen. Nicht aber billige Dogmen, die allen teuer zu stehen kommen. „Strukturwandel“ und der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und Um- und Mitwelt-zerstörenden Produktions- und Verpackungsweisen erfordern vor allem Vertrauensaufbau und damit auch Wecken der Bereitschaft zum gemeinsamen Umbau.
Wehrhafte und resiliente Programme und Strategien für eine „Neu-Organisation internationaler und interkultureller Zusammenarbeit“ sind dabei genauso dringend von Nöten wie der Aufbau solcher Initiativen mit den eigenen Landsleuten. Auch und gerade vor dem Hintergrund sich rasant beschleunigender Entwicklungen wie dem Klimawandel und der dafür erforderlichen Erhöhung von Schutz und Widerstandskräften der Menschen an vielen – an allen Orten.
„Die Befindlichkeit des Landes“
Ein Konzertmitschnitt dieses sehr subtilen Stücks der Einstürzenden Neubauten von 2000 aus der Hamburger Elbphilharmonie 2017 verdeutlicht die ganze Paradoxie: die Elbphilharmonie wurde mit rund Faktor 8 der ursprünglich veranschlagten Kosten fertiggestellt. 8 Dem Steuerzahler musste also tief in die Tasche gegriffen werden für den Bau dieses zweifelsohne Weg weisenden Bauwerks am „Tor zur Welt“, im Hamburger Hafen.
Gäbe es auch einen ernst zu nehmenden paritätischen Bildungsauftrag für „arme und mittellose Menschen“, dann müsste es immer entsprechende feste Kartenkontingente für diese in der Elbphilharmonie geben. Sagen wir mal: Mindestens ein Drittel. Und mindestens zwei Freikonzerte für „arme und mittellose Menschen“ dort im Jahr.
Gesten dieser Art, die dauerhaft installiert und nicht schon im Vorfeld aus Gründen der Parteiräson zerredet würden, wären ein Anfang, um Menschen und ihr Vertrauen allmählich wieder zu gewinnen.
„Hinter ihr die Zukunft aufgetürmt“. 9
Andrea Nahles Entscheid verdient Respekt. Viele Menschen, die von Anbeginn an ihre Karriere auf einem einzigen Gebiet verfolgt haben, fallen nach Ausscheiden aus diesem linearen Verlauf in ein tiefes Loch. Aber es gibt immer Alternativen. Das sollten auch Politiker lernen, um so ihre Verlustängste zu bewältigen. Schließlich ist die Welt auch der Wähler und Nicht-Wähler viel bunter und vielfältiger als alles, was da mit ihrem Job und ihrer Karriere verheiratete Menschen in Verwaltungsmachtpositionen jemals erträumt hatten.
Insofern ein Blumengruß von zwei Hibiscusblüten meines Hinterhofausblicks hier.
Für Andrea Nahles. Und für all die anderen, die da bald noch abtreten werden müssen in einem System, das so einfach nicht mehr trag- und arbeitsfähig ist.
Anmerkungen:
- „Es grünt so grün“: Kommentar zur Europawahl vom 28.05.2019 https://makroskop.eu/2019/05/europawahl-es-gruent-so-gruen/ [2]
- https://www.facebook.com/drjillstein/posts/2957268800979957 [3] und
https://www.standard.co.uk/news/uk/julian-assange-showing-symptoms-of-psychological-torture-un-expert-to-say-a4155791.html [4] - https://www.dailymotion.com/video/x2ofz6r [5]
- Florian Hertweck ist Architektur-Professor an der Uni Luxemburg und leitet da auch den Master-Studiengang für europäische Urbanisierung und Globalisierung. https://wwwen.uni.lu/research/flshase/identites_politiques_societes_espaces_ipse/research_institutes/institute_of_geography_and_spatial_planning/staff2/florian_hertweck [6]
- https://www.heise.de/newsticker/meldung/Milliardaere-und-Armut-Das-grosse-Tech-Beben-spaltet-San-Francisco-4432272.html [7]
- „Kreation, Kalkulation, Spekulation – Eine kurze Geschichte der Immobilienentwicklung“: Baumeister, Das Architektur-Magazin, 116. Jahrgang; B6 – 2019: kuratiert von Reinier de Graaf, Partner im 1975 von Rem Koolhaas u.a. gegründeten „Office for Metropolitan Architecture (OMA)“. S. 38; https://www.baumeister.de/baumeister-oma/#IMG_5629-631×440 [8]
- Jacqueline Tellinga, Vorstandsmitglied des Verbandes Niederländischer Stadtplaner (BNSP) in ihrem Plädoyer für Selbstbaukonzepte am Beispiel von Almere, B6 – 2019: S. 129.
- https://www.youtube.com/watch?v=z_5t_ILQufw [9]
- Textzeile aus „Die Befindlichkeit des Landes“:
https://genius.com/Einsturzende-neubauten-die-befindlichkeit-des-landes-lyrics [10]
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