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„Fluchtursachen bekämpfen?“

Warum Länder wie Afghanistan dauerhaft scheitern. Und wir mit ihnen.
„Globalisierung“, die höchstens dem „1%“ Glück bringt.

„Post-Neoismen 6“

(Teil 5 hier[1])

von Stefan Frischauf [1]

[2]

Asheqan wa Arefan, Altstadt Kabul 2009

Die am schnellsten wachsende Stadt in Zentralasien =
das größte Flüchtlingslager nicht nur Afghanistans

Dies betrifft im Falle der noch Anfang der 2000er Jahre 2-3, inzwischen 5-6 Mio. Einwohner zählenden afghanischen Hauptstadt Kabul:

  1. „Kriegsflüchtlinge“ aus den seit erneutem Kippen des Landes 2008/09 immer stärker umkämpften Provinzen.
  2. „Landflüchtlinge“ aus dem Umland, denen die Stadt mit ihrem enormen Wasserverbrauch und Großgrundbesitz dort selbst zusehends das Wasser für Subsistenzlandwirtschaft und andere Formen des Lebensunterhalts abgräbt.
  3. Gleichzeitig „Klimaflüchtlinge“ auch aus dem Umland und von weiter her, die in Folge von ausbleibenden Niederschlägen und Schneeschmelzen von Hindukusch und Pamirgebirge ihren Schollen auf Tälern und Hochebenen des trocken ariden Landes kaum noch Erträge zum Nähren der gesamten Familie abringen können.
  4. „Wirtschaftsflüchtlinge“: siehe 1-3 hier. Man hofft ja schließlich, irgendwo „Boden unter den Füßen“: Sicherheit und ein ganz kleines bisschen Glück zu finden. Zumal die „Wirtschaftsentwicklung ja grundsätzlich dem Glück des Volkes“1[3] dienen soll.

Diese alle suchen also Zuflucht am „sichersten Ort Afghanistans“. Die Hauptstadt mit Sitz von Regierung und nationalen und internationalen Organisationen:
UN und viele andere „Nicht-Regierungs-Organisationen“ (NGOs).

Und diese Migrations- und Fluchtbewegungen sind zudem begleitet von

  1. hohen Geburtenraten, da wir uns in einem Feudalstaat im Umbruch ohne staatliche Sozialversicherungssysteme befinden,
  2. zunehmender „(Neo-)Liberalisierung“ allen Rechts = Aufwertung von Privatrecht (Vermögen, Landeigentum etc.) und Abwertung von traditionellen Formen des Gemeinschaftsrechtes (Dorf- und Stammesrechte wie etwa das Paschtunwali2[4]),
  3. im Zuge dessen denn auch zunehmenden Konflikten bei „öffentlicher und privater Daseinsvor- und -fürsorge“.

Und das alles in einem seit 1955 bankrotten, also lange vor der eigentlichen Definition dieses Begriffes „gescheiterten Staat“. Es handelt sich mithin also um eine „falsche“ oder „Zuschussökonomie“. Ein „gescheiterter Staat“, der

Dazu kommen, bezogen auf Wasser als „Grundelement der Daseinsvorsorge“ jetzt wieder explizit in der Hauptstadt Kabul, aber durchaus stellvertretend ähnlich auch für andere Städte und Gemeinden im Lande geltend:

Die Überlagerung von „globalen mit lokalen Interessen“ in diesem Zusammenhang lässt sich recht gut an der südlich von Kabul gelegenen Provinz Logar3[5] und der Rolle dieser Region auch für die Wasserversorgung der Stadt beschreiben:

Aber genau darin liegt das Hauptproblem nicht nur in Kabul selbst:
Öffentliche Wasserversorgung ohne entsprechend abgestimmte Klärungs- und Wiedergewinnungsverfahren verschärft alle vorher dargelegten Interessenskonflikte.

Fluchtursachen bekämpfen heißt Grundlagen
für Interessensausgleiche vor Ort bilden

Das heißt: es gilt, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, um

  1. den mächtigen „Privatiers“ = „Landlords“ / „potentielle Warlords“ = Feudalherren die Angst vor „kalter Enteignung“ zu nehmen. Dies geschieht durch das Aushandeln und Anbieten von Kompensationsmaßnahmen („Baulasten“, Grundstücksausgleiche etc.). Ausgleichsangebote, die von den Mächtigen die Zustimmung zum Errichten der Vorkehrungen zum Sichern von „Interessen des Gemeinwohls“ erkaufen sollen.
  2. Aber dies geht nur mit staatlicher Autorität, gesichert von nationalen und internationalen Organisationen (UN DP, UN Habitat etc.), die den „mächtigen Privatiers“  das eben auch abringen wollen.
  3. Sodass dann diese gesetzlichen Ausgleiche denn auch exemplarisch anhand von Streitfällen um Ländereien und Grundstücke und deren „allein privatrechtliche“ oder eben „gemeinwirtschaftliche Nutzung“ „mit höchster Autorität“ beschlossen und vertraglich geregelt werden können.

Ein „rudimentäres Bau- und Grundstücksrecht“, das somit in einem „Rechtsvakuum“ installiert wird. Mithin: der Beginn von „ausgleichendem Recht“.
„For the many, not the few“ – „Für die Vielen, nicht die Wenigen“ –
um jetzt mal Labours Motto hier zu zitieren.

Eine nachfolgende Sicherung der (baulichen) Maßnahmen mit bevorzugt einheimischen „bewaffneten Sozialarbeitern“ ist denn auch unabdingbar.
„Vertrauensaufbau“ bei der Installation von Sicherheitsstrukturen aller Art auf Augenhöhe mit Partnern ist denn in dieser Hinsicht auch einmal mehr eines der wichtigsten Stichwörter.

In meinem Falle 2009/10 in Kabul stellte sich die Situation wie folgt dar:

Soweit. So gut. Als Projektleiter von „importierter Spezialistenseite“ war ich für die „technischen Themen“ zuständig. Das junge Management der „NGO“ für die Verhandlungen mit autorisierten Stellen.
Aber just da begannen und endeten die Konflikte:

Diese Schwierigkeiten bei der Umsetzung von „Strategien zur Bekämpfung von Fluchtursachen“ können nur mit erklärtem gegenseitigem Willen und entsprechenden harten Bandagen bei der Durchsetzung von „Gemeinwohl“ überwunden werden. Dass ich selbst bald bewaffneten Schutz gebraucht hätte, das war mir auch klar.
Ob mir dieser gewährt worden wäre? Kann ich nicht sagen. Sei’s drum.

Das Warten auf den Sankt Nimmerleinstag hilft da nicht weiter.
Der „globale Krieg Reich gegen Arm“ geht unbarmherzig weiter. Und wir sollten uns wappnen, endlich die entscheidenden Themen zusammenzuführen.

kann man durchaus zusammenführen. An vielen Orten.

Prämisse ist immer der Wille zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
Mit gleichberechtigten Partnern. Man selbst ist Gast dort. Vertrauen erzeugt beidseitige Sicherheit. Zumal solche Projekte neben dem Anheben von Umweltstandards und sinnvoller Arbeit für das Gemeinwohl so auch neuen Zusammenhalt in zersplitterten Communities zu schaffen vermögen.
Abgesehen vom „Bildungsinhalt“.

Wo ein Wille ist, da zeigt sich auch bald ein Weg.

Es wird Zeit, diese Wege endlich an vielen Orten gemeinsam zu erschließen.
Wege zu besseren Perspektiven für mehr Menschen. Mit zunehmender Bildung und Sicherheit dann können sich auch die Geburtenraten einpendeln. Aber das ist eben keine Aufgabe, bei der morgen direkt Milch und Honig und mehr fließen. Nein. Das ist Aufgabe für mindestens die nächste Generation.
Harte Arbeit. Und kein kampfloses Unterfangen, überhaupt da hinzukommen.
Hier wie dort. In Europa wie auch an unseren Grenzen.

PS.: Die anfangs gemachte Aussage zum „Glück des Volkes“ entstammt so dem 12. Fünfjahresplan der Volksrepublik China von Ende Mai 2011. Damals musste man in China der gewaltigen Immobilienblase entgegensteuern – sie zu einer weichen Landung führen. Dass auch Peking für solche Umsteuerungsprozesse lange braucht und manche Ungerechtigkeit begeht: das ist unumwunden zuzugestehen. Wichtig ist jedoch der erklärte Wille, diese Themen mittel- und langfristig anzugehen.
Ohne dabei in müde Lippenbekenntnisse zu verfallen.
Letztlich war es dasselbe Volk, das ich bei meinem ersten Aufenthalt in China im Spätsommer und Frühherbst 1989 in großer Angst vor Bürgerkrieg und mehr erlebt habe und das, was ich bei meiner Arbeit 2011/12 dort im schönen Hangzhou trotz Blase recht optimistisch in die Zukunft blickend erlebt habe.

Im Geleitwort zu Nadav Kanders Fotobuch zum Bau des gewaltigen Yangtse-Staudammes zitiert der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan einen Chinesen, mit dem der Fotograf sich angefreundet hatte bei den drei Jahre andauernden Arbeiten an diesem Fotobuch:

„Warum müssen wir zerstören, um uns zu entwickeln?“5[7]

Gute Arbeit ist zumeist ein stetiger Annäherungsprozess an „Wahrheiten“.

Wir liegen hier in Europa nun einmal auch geographisch mit China auf einer, der eurasischen Scholle. Und auf der anderen Seite des Atlantiks liegt ein alter Partner, dem man vielleicht auch einmal Grenzen aufzeigen sollte. Zwischen uns und dem „Reich der Mitte“ liegt zudem auch Russland, das bei Weitem die größten Opferzahlen des 2. Weltkriegs zu verschmerzen hatte. Und das auch jetzt sehr viel später gefordert war, in das „schmutzige Geschäft mit den Kriegen“ einzusteigen als diejenigen, die dies stetig schürten. Zumindest in den letzten beiden Dekaden.
Und: die Uni Kabul ist in allen Ingenieurswissenschaften führend in der Region Zentralasien, weil die Sowjets von 1955 bis Mitte der 1970er auch gute Entwicklungsarbeit gerade im Norden Afghanistans geleistet und unter anderem diese Fakultäten mit entsprechendem Curriculum aufgebaut haben.
Was bei vielen wissensdurstigen Afghanen denn auch mit den eigenen, zutiefst verwurzelten Verhandlungsriten vereint wurde.
Mit anderen Worten: afghanische Ingenieure sind zum Teil hervorragende „Sozialarbeiter“. Neben ihren hohen technischen Fähigkeiten.

Die entscheidenden Themen für alle können wir nur gemeinsam schultern.
Da sollten wir hin.
Nicht zu noch mehr schwachsinnigen und grausamen Kriegen.
Kriege, die letztlich nur eine Fortsetzung und zunehmende Eskalation des globalen Krieges „arm gegen reich“ bedeuten.
Und die von den entscheidenden Themen ablenken.
Einer wehrhaften Zukunft für uns und unsere Kinder. Jetzt.

Foto:
Asheqan wa Arefan, Altstadt Kabul 2009, © Stefan Frischauf

Die völlige Konzeptionslosigkeit, wie man da den „Landlords“, also eigentlich auch potentiellen „Warlords“ gegenübertreten solle, bewahrt hier das Bild kompletter städtischer Verwüstung auch noch im Frühjahr 2009.
Die Menschen sind so einmal mehr sich selbst überlassen. Auch dieses Kind, das da schützenden Schatten vor der gleißenden Mittagssonne unter der Burka der Mutter sucht. Etwas Schutz vor feindlichen Elementen, den sonst die traditionell dichte Bebauung des Gassen- und Hofhausgeviertes der Altstadt bieten sollte.

Mit anderen Worten, sinngemäß einen guten Freund von mir hier, Christian Köster zitierend:

„99% aller Menschen überall auf der Welt möchten einfach ihr bescheidenes Leben in Frieden leben.“

Dies sollten wir auch gewährleisten wollen.
Als Gast und Freund: Bruder oder Schwester mit Ländern arbeitend, deren Völker Besseres als Krieg, Zerstörung und Besatzung verdient haben.

Denn nicht nur in Afghanistan leben die Menschen primär von drei Dingen:
Luft, Wasser und Liebe. Ganz gleich, ob „Taliban“ oder „Regimefreund“ oder sonst wer. Dieses Vertrauen auch an anderen Orten aufzubauen, insbesondere nach den großen Kriegen, die wir zuletzt erlebt haben: das ist die große Kunst.
Aber auch historische Notwendigkeit.
Dem „dezentralen Geschehen“ ein Ende bereiten, das vielen hier eben nicht als „3.Weltkrieg“ erschien, weil sie nur Bilder vom „totalen Krieg“ – dem letzten, der von unserem Boden hier ausging und dieses Land auch komplett zerstörte im Kopf hatten.

Diesem 3. Weltkrieg, der aber an vielen Orten grausam genug gewütet hat.
Dazu jedoch müssen wir auch hier aufstehen.
Dazu dann im letzten Teil hier bald.

„Ready to start“

 

Anmerkungen:

  1. ↑[8] Aus einem Vortrag des Botschafters der Volksrepublik China in Berlin zur Einführung des 12. Fünfjahresplan Ende Mai 2011. http://www.china-botschaft.de/det/dszl/baogao/t826701.htm[9]
  2. ↑[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Paschtunwali[11]
  3. ↑[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Lugar_(Provinz[13])
  4. ↑[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Mes_Aynak[15] Die Informationen enden hier 2013/14.
    Auf einer anderen Seite wird davon gesprochen, dass 2016 die Taliban „Schutz der chinesischen Grabungen“ zugesagt haben. In Anbetracht der berechtigt abwehrenden Reaktion afghanischer Regierungsstellen auf diese „Schutzgeldregelung“ scheint der Ort und seine Nutzung weiterhin heiß umkämpft: https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-china-copper/chinese-demands-rebels-and-buddhist-ruins-stall-afghan-copper-dream-idUSKBN0N304320150412[16]
  5. ↑[17] Nadav Kander: Yangtze – The Long River; © 2010 Hatje Cantz Verlag Ostfildern and authors, photos by the artist, words from Introduction by Kofi Annan, German translation

 

Endnotes:
  1. Teil 5 hier: https://nachdenken-in-muenchen.de/?p=4458
  2. [Image]: https://nachdenken-in-muenchen.de/Wordpress/wp-content/uploads/2018/08/Asheqan_wa_Arefan_Altstadt_Kabul.jpg
  3. 1:
  4. 2:
  5. 3:
  6. 4:
  7. 5:
  8. ↑:
  9. http://www.china-botschaft.de/det/dszl/baogao/t826701.htm: http://www.china-botschaft.de/det/dszl/baogao/t826701.htm
  10. ↑:
  11. https://de.wikipedia.org/wiki/Paschtunwali: https://de.wikipedia.org/wiki/Paschtunwali
  12. ↑:
  13. https://de.wikipedia.org/wiki/Lugar_(Provinz: https://de.wikipedia.org/wiki/Lugar_(Provinz
  14. ↑:
  15. https://de.wikipedia.org/wiki/Mes_Aynak: https://de.wikipedia.org/wiki/Mes_Aynak
  16. https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-china-copper/chinese-demands-rebels-and-buddhist-ruins-stall-afghan-copper-dream-idUSKBN0N304320150412: https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-china-copper/chinese-demands-rebels-and-buddhist-ruins-stall-afghan-copper-dream-idUSKBN0N304320150412
  17. ↑: