Wenn sich Wikipedia mehr mit der Kritik an der Gemeinwohl-Ökonomie als mit einer Würdigung der Idee und der Darstellung von Chancen beschäftigt, dann muss wohl was dran sein an diesem alternativen Konzept.
Das Buch des Gründungsmitglieds von attac Österreich, Christian Felber, ist nun in einer überarbeiteten Neuauflage als Taschenbuch erschienen.
Was Stéphane Hessel, der französische Resistance-Kämpfer und politische Aktivist, dazu sagt, auch das verschweigt Wikipedia:
Die gegenwärtige Wirtschaftsordnung ist eine Gefahr für die Demokratie, für den sozialen Frieden und die Menschenrechte. Es ist wichtig, aufzustehen und sich über die Praktiken der Finanzindustrie zu empören, über die sogenannten freien Märkte, die Ungerechtigkeit hervorrufen; und über den fortschreitenden Demokratieverlust. Genauso wichtig ist es, sich zu engagieren für demokratische, solidarische und ökologische Alternativen. Die Gemeinwohl-Ökonomie ist ein vollständiges Alternativmodell, das all diese Werte vereint und bereits in der Praxis Fuß fasst. Ich rufe alle Menschen, denen die Menschenwürde, die Demokratie, und der blaue Planet ein Anliegen sind, auf: Engagiert Euch für konkrete Alternativen! Engagiert Euch für die Gemeinwohl-Ökonomie! (Text auf der Rückseite des Buches)
Die Kurzanalyse zu Beginn des Buches verweist auf die innere Spaltung – sowohl der Individuen als auch der Gesellschaft. Die Philosophie der freien Marktwirtschaft propagiert Gewinnstreben und Konkurrenz, während unser Wertekompass Begriffe wie Ehrlichkeit, Respekt, Zuhören, Empathie und Kooperation umfasst. Und zahlreiche Gesetze, Regulierungen und Abkommen von Nationalstaaten, der EU und der Welthandelsorganisation WTO schreiben vor, dass die Wirtschaft nach Finanzgewinn und Konkurrenz streben soll.
Doch in der kapitalistischen Marktwirtschaft werden die Mächtigeren geradewegs dazu ermutigt, ihren Vorsprung, das Machtgefälle, auszunutzen, denn daraus – aus dem Streben nach dem eigenen Vorteil und der daraus resultierenden Konkurrenz – ergibt sich erst die ganz spezielle “Effizienz” des Marktes. (Seite 17)
Felber zitiert eine wissenschaftliche Metastudie, deren mehrheitlicher (78%) Befund aussagt, dass Konkurrenz eben nicht die effizienteste wirtschaftliche Methode ist sondern Kooperation, weil diese über eine gelingende Beziehung und über Anerkennung und Wertschätzung motiviert.
Und es folgt ein Seitenhieb auf die Garde der Ökonomen:
Keiner der nobelpreisgekrönten Ökonomen hat jemals mit einer Studie bewiesen, dass “Wettbewerb die effizienteste Methode ist, die wir kennen”. (Seite 19)
Diese Behauptung stammt von Friedrich August von Hayek, dem österreichischen Ökonomen, der als bedeutender Vertreter des Neoliberalismus gilt. Eine empirische Studie dazu hat er allerdings nie geliefert.
Es liest sich wie eine Beschreibung des Neoliberalismus, wenn Felber sagt, dass der Wettbewerb nur funktioniert, wenn es auch Verlierer gibt und viele Angst haben, zu verlieren, nämlich die soziale Sicherheit und den Arbeitsplatz.
Bestehende Machtverhältnisse werden nur in Frage gestellt werden können, wenn die Menschen sich solidarisieren und kooperieren anstatt die Ellbogen auszufahren.
Felber führt auf die 10 Krisen des Kapitalismus:
- Der Wachstumszwang des Kapitalismus führt zur Bildung von Großkonzernen. Diese missbrauchen oft ihre Marktmacht, schotten die Märkte ab, blockieren Innovationen und verdrängen Konkurrenten aus dem Markt.
- Sind nur noch wenige große Marktteilnehmer vorhanden, kooperieren diese gerne – sprechen Preise ab und vereinbaren Marktanteile. Sie wissen, Kooperation – taktisch – ist vorteilhaft für sie.
- Standorte konkurrieren über Sozial-, Steuer- und Umweltdumping, das generiert Standortvorteile. Nationalismus entsteht anstatt offener, globaler Märkte.
- Preise spiegeln nicht tatsächliche Kosten und Nutzen wider sondern die Marktverhältnisse. Öffentliche und Gemeinschaftsgüter haben keinen Preis (saubere Luft, Artenvielfalt, Sicherheit). Sie können kostenlos genutzt und zerstört werden.
Wer einen größeren Schaden anrichtet als andere, verschafft sich einen Wettbewerbsvorteil. (Seite 23)
- Das Machtgefälle zwischen den Marktakteuren fördert die Ungleichheit und vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich.
- Der Kapitalismus befriedigt nicht die Grundbedürfnisse, die Zahl der Hungernden ist weltweit hoch – liegt heute bei 843 Millionen. Dort, wo keine Kaufkraft ist, wird der Bedarf an Nahrung, Bildung, medizinischer Versorgung und Wohnung nicht gedeckt.
- Umweltschutz steht nicht auf der Prioritätenliste des Kapitalismus. Der Zustand aller Ökosysteme (Meere, Flüsse, Gebirge, Wälder) hat sich seit 1950 drastisch verschlechtert.
Der Kapitalismus zerstört, da er blind die Vermehrung des Finanzkapitals und nicht das Wohl aller anstrebt, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen und der Wirtschaft. (Seite 25)
- Der Kapitalismus predigt die Anhäufung materieller Werte. Geldverdienen wird zum eigentlichen Sinn, Konsumzwang und Kaufsucht dominieren.
- In der kapitalistischen Wirtschaft werden Egoismus und Konkurrenzverhalten belohnt, diese “Werte” übertragen sich auf alle Bereiche der Gesellschaft.
“Der kapitalistische Charakter formt den Gesellschaftscharakter”, formulierte bereits Erich Fromm. (Seite 25)
- Über Lobbyismus, Medienkonzentration und Public Relations werden Partikularinteressen bedient. Die Demokratie ist das Opfer.
Alle Verfassungen dieser Erde stimmen überein, das Ziel des Wirtschaftens ist die Förderung des Gemeinwohls. Dieses Prinzip will die Gemeinwohl-Ökonomie in der realen Wirtschaftsordnung umsetzen – nicht mehr und nicht weniger.
Das Problem ist, dass wirtschaftlicher Erfolg in der Volkswirtschaft, in der Betriebswirtschaft und bei jeder Investition mit monetären Indikatoren definiert und gemessen wird. Dabei ist das Geld doch nicht das Ziel des Wirtschaftens sondern nur das Mittel.
Möglicherweise ist das der zentrale Systemfehler der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung. Bei der Erfolgsmessung werden Ziel und Mittel verwechselt. (Seite 29)
Wie kann man nun in der Gemeinwohl-Ökonomie den Erfolg einer Wirtschaft messen? Felber zieht dazu das Gemeinwohl-Produkt für die Volkswirtschaft und die Gemeinwohl-Bilanz für das Unternehmen heran.
Die Werte, die in der Gemeinwohlbilanz gemessen werden, entstammen den Verfassungen demokratischer Staaten: Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und demokratische Mitentscheidung.
Erstellt wird dann eine Gemeinwohl – Matrix, in der diese Grundwerte gespiegelt werden an Personengruppen. Diese sind von der Tätigkeit eines Unternehmens betroffen. Es sind Zulieferer, Geldgeber, Mitarbeiter, Kunden, Kommunen, zukünftige Generationen und die Umwelt einschließlich des Klimas.
Diese Gemeinwohl-Matrix [1] ist grob definiert und liefert den Wertekanon zur Beurteilung von Investitionen, Unternehmen und Volkswirtschaft.
Immerhin: In Deutschland erstellen schon 300 (von vier Millionen Unternehmen) eine Gemeinwohlbilanz, in Österreich sind es 220 (von 350.000).
Definiert sind auch die Kriterien, die herangezogen werden bei der Bildung der Gemeinwohlbilanz: Es sind u.a. die partizipative Entwicklung (breite Bewegung statt Experten), die Ganzheitlichkeit (alle Grundwerte sind gefordert, nicht nur ökologische), Messbarkeit (also objektive Bewertung) und Öffentlichkeit (online abrufbar).
Daraus resultiert das Ergebnis der Gemeinwohlbilanz, eine bestimmte Punktzahl, die jedem Unternehmen und all seinen Produkten und Dienstleistungen zugordnet wird wie ein Label.
Wer erstellt denn nun die Gemeinwohlbilanz? Finanzbilanzen werden heute intern gebildet, extern geprüft und dann vom Staat und dem Finanzamt akzeptiert. So ähnlich lauft es bei der Gemeinwohlbilanz, die vom Unternehmen, am besten von allen Mitarbeitern, aufgestellt, von einem internen Gemeinwohlbeauftragten und extern von einem Gemeinwohl-Auditor testiert wird.
Aus der Bilanz wird abgeleitet die Körperschaftssteuerstufe, die Zolltarifstufe und die Kreditkonditionenklasse. Je besser das Ergebnis, umso lukrativer die finanziellen Rahmenbedingungen.
Gewinne sind erlaubt in der Gemeinwohlökonomie, entscheidend ist ihre Verwendung. Gewinne können genutzt werden für Investitionen, allerdings nur für solche, die einen sozialen und ökologischen Mehrwert schaffen, zudem generell zur Rücklagenbildung, zur Aufstockung des Eigenkapitals, zur Ausschüttung an die Mitarbeiter und für Darlehen an Mitunternehmen.
Nicht erlaubt sind Finanzinvestments, die Ausschüttung von Gewinnen an Eigentümer, die nicht im Unternehmen arbeiten, Firmenaufkäufe und -fusionen sowie Parteispenden.
Allerdings, im Kapitel über erlaubte und nicht erlaubte Gewinnverwendungen sind eine Menge an Restriktionen und Bedingungen aufgeführt.
Wie weit wir von den Grundzügen einer Gemeinwohlkökonomie entfernt sind, zeigt ein Kommentar in der SZ vom 8.8. zur Frage, wie sich die Firma Daimler angesichts der US-Sanktionen gegen den Iran verhalten soll:
Börsennotierte Unternehmen sind zuerst einmal ihren Aktionären verpflichtet, denen an einer positiven Entwicklung des Unternehmens und steigenden Aktienkursen gelegen ist.
Dieser eine Satz spiegelt das komplette Dilemma der kapitalistischen Wirtschaft wider: Zuerst kommt die Rendite.
Ganz anders liest sich das dann am gleichen Tag – mal wieder im Feuilleton-Teil [2], der einen Appell von namhaften Wissenschaftlern an die Weltgemeinschaft unter dem Eindruck neuer bedrohlicher Klimaszenarien enthält:
Wir schlagen eine tiefe Transformation vor, die auf einer fundamentalen Neuorientierung der menschlichen Werte beruht, von gerechter Verteilung, Verhalten, Institutionen, Wirtschaft und Technologie.
Es ist nicht so, daß wir nicht wüssten, wo wir stehen und welche Wege wir gehen müssten: Die Gemeinwohlökonomie stellt einen wesentlicher Baustein einer dringend notwendigen Transformation dar.
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