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Antisemitismus-Vorwürfe

Die Süddeutsche Zeitung hat die Zusammenarbeit mit den Karikaturisten Dieter Hanitzsch beendet, nachdem sie folgende Zeichnung von ihm am Dienstag, 15.05.2018 gedruckt hatte:

[1]

Quelle: Süddeutsche Zeitung/Dieter Hanitzsch

Das eine, was ich in der vergangenen Woche zunächst meinte gelernt zu haben, ist der Punkt, dass nachfolgende Variation der Karikatur offenbar für viele, die sich darüber aufgeregt haben, nicht antisemitisch gewesen wäre:

[2]

Collage unter Verwendung einer Karikatur von Kate Salley Palmer

Gesichtsmerkmale überzeichnen durfte man als Karikaturist bei Kohl und Genscher, darf man bei Merkel, Putin und Trump, aber bei einem israelischen Ministerpräsidenten wird gleich kollektiviert, dass es sich bei einer satirischen Überzeichnung gegen die Juden richtet, also antisemitisch ist.

Befremdet hat mich dann aber doch, wer das Ganze maßgeblich skandalisiert hat, unser Qualitäts- und Leitmedium schlechthin, nämlich BILD:

Dazu zweimal auf Twitter mit Links auf die Schlagzeilen im Online-Angebot:

Mich hat die Sache ein wenig mehr beschäftigt und ich habe lange gezögert, ob und wie ich dazu etwas schreibe. Die Zeichnung ist ja erschienen, nachdem am Rande der Feierlichkeiten im Gazastreifen über fünfzig Menschen starben, erschossen von israelischen Scharfschützen, wie medico berichtet[3]. Ärzte ohne Grenzen beklagen, dass sich bei den Gaza-Protesten am Montag Schussverletzungen in Brust und Kopf häuften[4].

Weiter: die Worte “Nächstes Jahr in Jerusalem” werden traditionell am Ende des Yom-Kippur- und des Pessach-Fests gesungen und besitzen im Judentum eine religiöse Bedeutung. Ausgesprochen wurde sie aber von der ESC-Gewinnerin Netta – und aufgegriffen von Netanjahu, der gesagt hat: “Netta, du bist ein echter Schatz. Du hast dem Staat Israel viel Ehre eingebracht! Nächstes Jahr in Jerusalem!” (Quelle: Netta Barzilai: Shitstorm nach Jerusalem-Ansage [11]). Dazu, also dass es sich um ein Originalzitat von Netanjahu handelt, was Hanitzsch ihm da als Sprechblase verpasst hat, habe ich nichts gelesen in Anbetracht der Vielzahl von Beiträgen und Interviews, die in diesem Zusammenhang erschienen sind.

Dennoch sind mir einige Beiträge aufgefallen, auf die ich hier verlinken möchte:

“Süddeutsche Zeitung”-Karikatur: Typisch jüdisch? Typisch Hanitzsch! – SPIEGEL ONLINE [12]
Zitat:

“Dieter Hanitzsch soll jetzt Antisemit ein? Echt? Gut, möglich ist ja vieles, aber Hanitzsch ist einer, der jahrzehntelang praktisch Hand in Hand mit Dieter Hildebrandt durch die Gegend gesprungen ist – das wäre schon sehr überraschend.
Wesentlich mehr Sinn ergibt eine andere Betrachtungsweise: Ich abonniere seit inzwischen 16 Jahren die “Süddeutsche Zeitung”. Und nach 16 Jahren mit Karikaturen von Hanitzsch bin ich ziemlich sicher: Der Mann ist kein Antisemit. Er ist nur hoffnungslos überschätzt.”

Empörung über Karikatur in “Süddeutscher Zeitung” – “Ich erkenne keinen Antisemitismus” [13]
Interessante Aussagen von Wolfgang Benz, langjähriger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Zitat:

“Ich erkenne keinen Antisemitismus in dieser Karikatur. Aber selbstverständlich: Zwei Experten in Sachen Judenfeindschaft ergibt mindestens drei unterschiedliche Meinungen. (…)
Das Bild, diese Karikatur ist auf jeden Fall ziemlich unfreundlich gegenüber dem Ministerpräsidenten des Landes Israel. Ist das identisch mit Antisemitismus? Ist das identisch mit judenfeindlich? Ist das, wie die Bild-Zeitung vermutet, identisch mit Nazi-Juden-Feindschaft? Ich glaube, da muss man doch sehr stark differenzieren.”

Im Online-Auftritt vom Freitag ist dann ein Interview [14] erschienen, dass ich deswegen interessant finde, weil es hier “über den schmalen Grat zwischen Antisemitismus, Israelhass und Solidarität mit Palästinensern in Deutschland” geht. Der Interviewte, Yossi Bartal, findet die Karikatur zwar antisemitisch (sh. auch Nase und Ohren ganz oben), legt aber – selbst in Jerusalem  geboren – differenziert dar, wie schwierig es ist in Deutschland die israelische Politik zu kritisieren ohne selbst in die Kritik zu geraten. Hier ein Auszug:

“Sie können muslimischen Antisemitismus deshalb nachvollziehen?

Man muss vorsichtig sein mit den Begriffen. Was ich nachvollziehen kann, ist der Hass einiger Palästinenser auf den Staat Israel. Wie ich den Hass der Kurden auf den türkischen Staat nachvollziehen kann, der sie unterdrückt.

Wie kann man einen Staat hassen?

Ganz einfach: wenn der Staat, wie dies aktuell in Gaza passiert, als tödlicher Staat wahrgenommen wird. Mindestens 59 Palästinenser wurden vom israelischen Militär getötet, weil sie an der Grenze von Gaza protestierten, 2700 wurden verletzt. Dieser Staat, das ist für Palästinenser der Stiefel im Gesicht. Dass Israel mehr als nur Repression bedeutet, ist mir als jüdischer Israeli klar, aber diese Erkenntnis von Menschen zu fordern, die seit 70 Jahren von diesem Staat systematisch unterdrückt werden, finde ich extrem zynisch.”

Ganz anders – jetzt ohne Bezug zur Karikatur von Hanitzsch – argumentiert Nirit Sommerfeld [15], die ebenfalls in Israel geboren wurde und in Grafing lebt.

“Ich besuchte immer häufiger die „Besetzten Gebiete“, also Palästina oder besser gesagt die 22 Prozent, die davon übrig geblieben sind und die wir heute als ‚Westbank’ kennen. Dieses Palästina ist zur Hälfte mit illegalen jüdischen Siedlungen bebaut, mit Checkpoints durchsetzt und von einer bis zu acht Meter hohen Trennmauer umzingelt. Die Menschen leben dort unter israelischem Militärrecht – die palästinensischen Menschen, wohlgemerkt. Die jüdischen Menschen – wir nennen sie Siedler – genießen die demokratischen Rechte aller jüdisch-israelischen Staatsbürger.
PalästinenserInnen können kein selbstbestimmtes Leben führen, buchstäblich jeder Schritt ihres Lebens, jeder Augenblick bei Tag und bei Nacht, ist bestimmt durch eine mittlerweile 51-jährige Militärbesatzung. (…)
Doch es geht schon lange nicht mehr allein um Kritik am Staate Israel, die noch am einfachsten als „Antisemitismus“ gelabelt und mit vermeintlich gutem deutschen Politiker-Gewissen abgewürgt werden kann. Es geht um die Beschneidung demokratischer Grundrechte, die über die Hintertüre Einzug hält und sich langsam wie ein Krebsgeschwür ausbreitet.”
(Quelle: Das Ende der Redefreiheit | Rubikon [16])

Damit schließt sich dann doch weder der Kreis zu Dieter Hanitzsch, denn seine Redefreiheit ist der Zeichenstift, wovon ihn nun zumindest in der SZ die Chefredaktion abhält. Zum anderen landen wir hier auch bei BDS [17] (Boycott, Divestment, Sanctions). Boykott-Aufrufe werden gleichgesetzt mit der Nazi-Parole “Kauft nicht bei Juden”, auf die persönlichen Folgen geht Nirit Sommerfeld in ihrem Beitrag ein.

Warum schreibe ich das Ganze überhaupt? Vielleicht, weil Nirit Sommerfeld Recht haben könnte? Ihre Sorge, dass demokratische Grundrechte beschnitten werden, teile ich vor allem im Hinblick auf legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung. Zumal Netanjahu zusammen mit Trump die Konfrontation mit dem Iran zu suchen scheint und Saudi-Arabien an deren Seite steht. Wer soll denn bitte den gewünschten “Regime Change” im Iran verhindern? Es reicht ja offenbar noch nicht, dass Afghanistan, Irak, Jemen, Libyen und Syrien destabilisiert sind.

Darüber hinaus taucht hier wieder einmal das Bild des linken Antisemitismus auf (den es natürlich gibt, wenn es sich z.B. um Israelhass statt -kritik handelt). Gerade die sog. Antideutschen (“Antideutsche sind eine aus verschiedenen Teilen der radikalen Linken hervorgegangene politische Strömung in Deutschland. Sie wenden sich gegen einen spezifisch deutschen Nationalismus, der insbesondere im Zuge der deutschen Wiedervereinigung erstarkt sei. Weitere antideutsche Positionen sind Solidarität mit Israel sowie Gegnerschaft zu Antizionismus, Antiamerikanismus, Islamismus, bestimmten („regressiven“) Formen des Antikapitalismus und Antiimperialismus.” Quelle: Wikipedia [18]) schießen hier sehr schnell gegen Attac, die “neue Friedensbewegung” und alle, die sich kritisch zu Israel äußern bzw. solidarisch mit Palästinensern zeigen wollen (und dies dennoch nicht unkritisch gegenüber den Palästinensern tun).

Insgesamt wird eine Linke, eine im tieferen Sinne demokratische und solidarisch orientierte Bewegung damit geschwächt, werden doch immer wieder Ressourcen durch innere Auseinandersetzungen gebunden anstatt sich mit den Folgen des ausbeuterischen, umweltzerstörenden und kriegerischen globalen Kapitalismus und der Konkurrenz zwischen darin eingebetteten Staaten zu beschäftigen.

Gut, die SZ steht jetzt nicht im Verdacht zur Linken zu gehören. Und dennoch trifft sie die Antisemitismus-Keule wohl zu Unrecht. Die Empfindlichkeit der Redaktion [19] allerdings, die zur Beendigung der Zusammenarbeit geführt hat, ist wiederum auch bezeichnend für eine Gesellschaft, in der eine Karikatur ein solches Empörungsvolumen auslösen kann, die aber nichts gegen strukturellen Rassismus tut, die die AfD mittlerweile auf zweistellige Wahlergebnisse hochgespült hat.

Da gefällt mir sehr die Haltung von Tobias Riegel auf den NachDenkSeiten [20], wenn er schreibt:

Wenn die oben beschriebene – durch die deutsche Geschichte gerechtfertigte – „Ungleichbehandlung“ des Antisemitismus ein bestimmtes Maß überschreitet, wird sie zur Heuchelei. Und dann kann man die „Süddeutsche Zeitung“ durchaus fragen, warum die Beleidigung des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan als „Ziegenficker“ ein Beitrag zur „Kunstfreiheit [21]“ sein soll, die Darstellung Netanjahus mit großen Ohren aber ein schweres Delikt. Oder man könnte Außenminister Heiko Maas fragen, warum er sich höchst emotional zu einem Fall äußert [22], bei dem ein jüdisches Mädchen an einer Berliner Schule gemobbt worden sein soll, wenn er sich gleichzeitig (als Außenminister) noch nie zum täglichen Schul-Mobbing gegen andere Minderheiten geäußert hat.

Hier soll keineswegs die gleiche Strenge gegen islamfeindliche Karikaturen gefordert werden, die gegen „antisemitische“ Werke praktiziert wird. Im Gegenteil – alle sollen ihr Fett wegbekommen. Und: Mehr Gelassenheit auf allen Seiten ist gefragt. Wäre es nicht an der Zeit, die extremen Empfindlichkeiten, die vielen gesellschaftlichen Gruppen hierzulande medial anerzogen wurden [23], behutsam wieder zurückzufahren? Justiziable Äußerungen gegen Juden oder andere Minderheiten müssen streng geahndet werden. Aber abgesehen davon: Das hysterische mediale Eintreten gegen jede verbale oder künstlerische „Entgleisung“ kann sich in ihrer Wirkung auch verkehren – die Hypersensibilität bedeutet dann keinen Schutz mehr für die betroffene Gruppe, sondern das Gegenteil: Wenn Worte übermäßig aufgeladen werden, verschlimmert das auch die Verletzung bei den Betroffenen, wenn diese Worte gebraucht werden.

Der Begriff Antisemitismus ist zudem unscharf, vgl. die ausführliche Darstellung bei Wikipedia [24]. Und deshalb versteht selbst jede/r reflektierte und politisch bewusst denkende Mensch im Zweifel darunter etwas anderes. Und die besondere Empfindlichkeit, die es in Deutschland zu Recht gibt, ist leider viel zu schnell emotional, wodurch die Antisemitismus-Keule so leicht als Waffe eingesetzt werden kann. Stattdessen wäre doch gerade eine gelingende Kombination aus Sensibilität und Rationalität hilfreich, konstruktive Debatten zu führen. Aber das passt ja nicht in die heutige Aufmerksamkeitsökonomie und liefert keine Schlagzeilen.


Anmerkung in eigener Sache:
Wir respektieren grundsätzlich das Urheberrecht. Allerdings ist die Karikatur von Dieter Hanitzsch und die Reaktion der Süddeutschen Zeitung Gegenstand einer breiten Debatte. Insofern überwiegt hier unseres Erachtens das öffentliche Interesse, was eine Wiedergabe in unseren Augen gerechtfertigt erscheinen lässt. Und die bearbeitete Grafik unter Verwendung einer Zeichnung der amerikanischen politischen Karikaturistin Kate Salley Palmer [25] dient lediglich zur Verdeutlichung und soll die Werke der beiden Künstler in keiner Weise schmälern.

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Endnotes:
  1. [Image]: https://nachdenken-in-muenchen.de/Wordpress/wp-content/uploads/2018/05/Hanitzsch_Netanjahu-Karikatur.jpg
  2. [Image]: https://nachdenken-in-muenchen.de/Wordpress/wp-content/uploads/2018/05/Hanitzsch_Netanjahu-Karikatur_bearbeitet.jpg
  3. medico berichtet: https://www.medico.de/newsletter-system/052018-schwarzer-montag-in-gaza/
  4. häuften: http://www.sueddeutsche.de/politik/israel-im-oberen-bereich-1.3983805
  5. Beitrag versenden: https://nachdenken-in-muenchen.de/?p=4294&wp_email_popup=1