“Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr und gefragter Kommentator für deutsche und ausländische Medien” (so der Klappentext).
Die herausragende These seines Buches lautet, der Traum von der Verwestlichung der Welt ist ausgeträumt, statt Ordnung zu stiften habe der Westen Chaos geschaffen.
Es gibt weder globale noch regionale Institutionen, die wirklichen Einfluss haben. Die Machtfülle von multinationalen Konzernen und Finanzmärkten ist nicht einzuhegen.
Obwohl oft behauptet wird, dass die chaotischen Zustände im Nahen und Mittleren Osten oder in Teilen Afrikas von den dortigen Akteuren zu verantworten seien, wird vom Westen nach wie vor die Demokratisierung als Konfliktlösungsstrategie propagiert, als ob es das westliche Scheitern in Afghanistan, im Irak und in Libyen nicht gegeben hätte.
Schon in der Einleitung des Buches zieht Masala eine erste Konsequenz:
Wir können uns nicht aussuchen, wer in anderen Teilen der Welt die Macht besitzt.
Es muss wieder Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Länder ausgeübt werden – anstatt sog. humanitäre Interventionen und Regime Changes anzustreben. Auch wenn Regeln verletzt werden, es gibt keine übergeordnete Instanz, die das Verhalten sanktionieren könnte.
Die Illusionen des Westens – so der Titel des ersten Kapitels – bestehen darin, dass er geglaubt hat, man könne liberales Gedankengut universalisieren und auch noch damit die eigene Sicherheit steigern. Unterstellt hatte schon Francis Fukuyama (Buchtitel: Das Ende der Geschichte), dass die Prinzipien und die Institutionen einer liberalen Grundordnung nach dem Fall der Mauer 1990 nicht mehr in Frage gestellt würden.
Ein wohl noch größerer Irrtum wird offenbar, wenn geglaubt wurde, dass eine Welt unter US-Vorherrschaft besser sei als eine Welt mit einer anderen Dominanz, weil die USA eben ein demokratischer Staat seien und daher unbedingt führen müssten. Dieser Führungsanspruch hat sich allerdings darin gezeigt, dass damit weitestgehend amerikanische Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen legitimiert wurden.
Ausdruck dieser Politik war, dass z.B. Kredite seitens des Internationalen Währungsfonds an Bedingungen geknüpft wurden, die eine Liberalisierung des politischen und wirtschaftlichen Systems der Empfängerländer bedeuteten.
Geändert hat sich diese Situation mit dem Auftreten Chinas als Alternative zum IWF. Chinas Motivation lag logischerweise in seinem Hunger nach Rohstoffen, es verband aber damit Investitionsprogramme in den unterstützten Ländern und stellte keine politischen Bedingungen. Im Zeitraum 2000 bis 2011 leistete China in Afrika Entwicklungshilfe von rund 75 Mrd US-Dollar, die USA von rund 90 Mrd US-Dollar.
Praktiziert wurden vom Westen doppelte Standards: in der Rhetorik für Menschenrechte, Demokratie und freie Marktwirtschaft, realpolitisch aber wurden nur Wahlergebnisse akzeptiert, die sicherstellten, dass es weiterhin eine Innen- und Außenpolitik gibt, die dem Westen zusagt, so in Algerien 1991, in der Türkei 1996, in den Palästinensischen Autonomiegebieten 2006 oder in Afghanistan 2009, als trotz eines massiven Wahlbetrugs der Westen die Präsidentschaftswahl von Hamid Karzai als legitim anerkannte.
Und schlimmer noch: Je strategisch wichtiger ein Land ist, desto eher ist der Westen geneigt, eklatante Menschenrechtsverletzungen stillschweigend zu billigen – wie in Saudi-Arabien. Dieses Land dient dem Westen als machtpolitischer Gegenpol gegen den Iran und als Stabilisator des Ölpreises.
Ausgehebelt ist somit das Prinzip der souveränen Gleichheit von Staaten. Der Demokratiegedanke selbst hat großen Schaden genommen.
… so beginnt man zu ahnen, warum die Demokratie als Prinzip gesellschaftlicher Selbstorganisation in den vergangenen Jahren einen erheblichen Vertrauensverlust erfahren hat und von vielen Staaten, aber auch von Individuen als ein ideologischer Kampfbegriff wahrgenommen wird, der letzten Endes nur dazu dient, die Macht des Westens zu perpetuieren.
Es gibt kaum eine Phase in der jüngeren Geschichte, in der so viel militärisch interveniert wurde wie nach dem Fall der Mauer. Angeführt wurden die kriegerischen Eingriffe meist von den US-Amerikanern (Panama 1989, Irak 1991, Somalia 1993, Bosnien 1994, Afghanistan 2001, Irak 2003), aber auch Russen (Ukraine 2014, Georgien 2008) und Saudis (Jemen 2015) haben eingegriffen.
Die militärisch gesehen einzige Supermacht, die USA, haben nach 9/11 aufgerüstet. Der Militärhaushalt stieg damals von 287 Mrd US-Dollar auf 530 Mrd US-Dollar.
Die militärischen Aktionen werden mit Luftschlägen und Spezialstreitkräften durchgeführt, das Leben der eigenen Soldaten wird so weitgehend geschont, eine funktionierende Flugabwehr haben die angegriffenen Länder durchweg nicht. Präsident Obama hat die militärische Palette durch den Einsatz von Drohnen erweitert – innenpolitisch geduldet, weil eigene Opfer vermieden werden.
Zusammengearbeitet haben die Angreifer oft mit fragwürdigen Partnern, z.B. mit der Kosovarischen Befreiungsarmee (UCK), der afghanischen Nordallianz oder syrischen Kurden (YPK).
Durch die Auswahl problematischer Hilfstruppen verkehren sich die politischen Ziele der intervenierenden Koalitionsstaaten oftmals in ihr Gegenteil. Anstatt Stabilität in einem Land zu produzieren, wird bestehende Instabilität verlängert. Anstatt Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen, wird nur einer anderen diktatorischen Gruppierung zur Eroberung der Macht verholfen.
Die militärische Ausübung von Luftschlägen hat auch nie impliziert, dass es eine Nachkriegsstrategie gab. Eine – zweifellos ebenfalls fragwürdige – Besetzung über mehrere Jahre und eine damit ermöglichte friedliche Stabilisierung ist weder im Irak noch in Afghanistan realisiert worden. Als Folge sind nach den Kriegen wiederum ethnische Konflikte in den betroffenen Ländern entstanden.
Wenn die Besatzer aber keine Friedenssicherung betreiben können und wollen, dann formiert sich gegen sie der Widerstand, weil offenbar ist, dass sie lediglich ihre eigenen Interessen – politische, militärische und ökonomische – verfolgen.
Somit ist auch in der westlichen Bevölkerung die Akzeptanz der Militärinterventionen deutlich gesunken. Ein Einsatz von Bodentruppen ist ausgeschlossen, da mit großen Risiken verbunden, während eine eigentliche Bedrohung des Westens nicht gegeben ist.
Wie liegt der Fall bei den sog. R2P-Interventionen? “Responsibility To Protect” bedeutet, dass Interventionen erforderlich sind, wenn Menschen systematischer Verfolgung und exzessiver Gewalt ausgesetzt sind und der verantwortliche Staat seiner Schutzfunktion nicht gerecht wird. Völkerrechtsspezifische Norm ist R2P allerdings nicht.
Der Angriff auf Libyen 2011 lief unter dem Deckmantel der Humanität, nämlich die Zivilbevölkerung vor Angriffen libyscher Regierungstruppen zu schützen. Umgewandelt wurde der militärische Auftrag dann in die Legitimation für einen Regime Change und das Ergebnis ist bekannt. Libyen befindet sich heute im Bürgerkrieg, der Staat ist zerfallen und bildete forthin die Basis für die Expansion des Islamischen Staates.
Somit ist der Hass auf den Westen gewachsen, der radikale Islamismus hat sich in vielen Ländern zur gesellschaftspolitischen Alternative entwickelt und gelernt hat der Westen gar nichts. Nach den Pariser Attentaten im November 2015 hat Frankreich seinen Einsatz gegen den IS durch Bodentrupppen intensiviert. Die EU stand einhellig dahinter.
Der Widerspruch in der Argumentation von Masala wird da deutlich, wo er die strategische Dimension der westlichen Eingriffe vermisst und die mangelnde Bereitschaft, Bodentruppen einzusetzen, kritisiert. Damit seien militärische Erfolge verspielt worden. Wenn es eine Illusion war, durch Kriege Ordnung schaffen zu können, dann waren es doch strategische, also grundsätzliche und keine methodischen Fehler.
Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes schien es geboten, das nun fehlende Gleichgewicht der Mächte mit einer Stärkung der internationalen Organisationen zu beantworten. Hier müsste und sollte es doch die Chance geben, Vereinbarungen zu treffen und deren Einhaltung transparent zu überprüfen.
Aber es waren zwei Ereignisse, verantwortet vom Westen, die eine Abkehr von einer Führung und Gestaltung internationaler Politik durch die Vereinten Nationen dokumentierten: Die NATO intervenierte im Kosovo ohne dass es ein Mandat des Sicherheitsrates gegeben hätte. Völkerrechtlich illegal war ebenso die Irak-Invasion, obwohl noch der untaugliche Versuch da war, sie durch die angeblichen Beweise, Sadam Hussein arbeite an der Herstellung von Giftgas, vor dem Sicherheitsrat zu legitimieren.
Internationale Ordnungspolitik war betrieben worden im Alleingang und außerhalb der etablierten Institutionen.
Eine weiterer Rückzug aus internationaler Koordinierung ergab sich im Fall der Osterweiterung von EU und NATO. Russische Bedenken wurden nicht ernst genommen. Das stärkste Militärbündnis der Welt hat sich in Richtung Moskau ausgedehnt, hat einseitig Fakten geschaffen.
Aus EU-Sicht wird ein weiteres Dilemma deutlich: Die weitere Integration – politisch, sozial, ökonomisch, über den reinen Binnenmarkt hinaus – kann den Bürgern nicht mehr vermittelt werden. Da muss wohl die europäische Aufrüstung als Alibiveranstaltung herhalten, den gemeisamen europäischen Kitt sichern.
Aus Sicht der Großmächte wird allerdings eine Reform und Stärkung internationaler Organisationen nicht funktionieren – ganz einfach, weil sie Machtverlust bedeuten würden.
Unter dem Stichwort “Verrechtlichung” fragt Masala, ob es nun wenigstens einen Prozess gebe, in dem eine internationale Kooperation basierend auf rechtsstaatlichen Prinzipien angestrebt werde. Es gibt zwar eine Menge internationaler rechtlich abgesicherter Zusammenarbeit, z.B. in der Telekommunikation oder beim Handel, aber das Beispiel der Strafgerichtshöfe, die auf Druck der USA eingerichtet wurden, um gravierende Menschenrechtsverletzungen zu ahnden, zeigt eindeutig: Es handelt sich hier wohl eher um Siegerjustiz – in den Fällen Ruanda (1994), Kosovo (2000), Ost-Timor (2009), Sierra Leone (2002) und Kambodscha (2003). Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak hat sich kein Gerichtshof befasst, obwohl viele zigtausende Zivilisten umgekommen sind. Und das gleiche gilt, Masala will wohl Ausgewogenheit herstellen, für das Verhalten russischer Soldaten in der Ostukraine.
Masala beschließt das Kapitel über die westlichen Illusionen – der Demokratisierung, der militärischen Interventionen, der Institutionalisierung und der Verrechtlichung – mit dem ernüchternden Befund:
Der Traum von der Verwestlichung der Welt ist heute ausgeträumt, auch wenn er in den Meinungsspalten der Zeitungen noch in voller Blüte steht. Zurück blieb die neue Unordnung, die die internationale Politik noch lange Zeit kennzeichnen wird.
Diese Politik des Westens unter der Führung der USA war immerhin berechenbar. Nachdem nun auch internationale bzw. multilaterale Verträge – Klimaschutzabkommen, Iran-Atom-Abkommen – einfach so gekündigt werden, bleibt die Frage an die Europäer: Sind sie bereit und fähig zu einer emanzipatorischen Außenpolitik, die Abrüstungsinitiativen und Friedenssicherung priorisiert? Oder haben sie gar nicht bemerkt, dass im Iran ein weiterer Regime Change geplant ist?