Sieht so Erneuerung aus?


Video: Youtube

Am vergangenen Sonntag, den 25.2.18, fand in Ulm die siebte und letzte SPD-Regionalkonferenz zum Mitgliedervotum über eine Große Koalition im Bund statt. Anwesend von der Parteiführung waren die designierte Parteivorsitzende Andrea Nahles und der Interimsvorsitzende Olaf Scholz, zur Zeit (noch) Bürgermeister in Hamburg. Kurze Statements der beiden eröffneten die Veranstaltung – anschließend diskutierten die rund 200 Mitglieder und schrieben Fragen auf, die sie an die Parteiführung stellen wollten. In der letzten Runde gingen Nahles und Scholz von Tisch zu Tisch, um sich den Fragen zu stellen. Hilde Mattheis, die Vorsitzende des Forums Demokratische Linke und GroKo-Gegnerin, durfte nicht dabei sein.

Meine Fragen an Andrea Nahles lauteten:

Wir haben von 1998 bis 2017 die Hälfte der Wähler verloren – sind von 40,9% auf 20,5% im Bund gesunken. Warum diskutieren wir nicht über das Warum? Hat es in dieser Periode nicht eine Agenda 2010 gegeben?

Übrigens: Großer Beifall der zahlreichen GroKo-Gegner beim Stichwort Agenda 2010.

Ich habe in den Medien ein Video von 1997 gesehen von dir, Andrea, in dem du gegen den Neoliberalismus wetterst und die Parteiführung, namentlich Schröder und Clement angreifst. Das Wort Neoliberalismus höre ich von dir, Andrea, heute überhaupt nicht mehr. Ich habe es auch von Martin Schulz im Wahlkampf nicht vernommen. Warum ist das so? Dabei würde ich zumindest heute eine eindeutige Absage an jede weitere Privatisierung der Güter der öffentlichen Daseinsvorsorge erwarten.

Die Antworten, die Andrea Nahles mir gegeben hat, kann ich lediglich als Gedächtnisprotokoll wiedergeben. Ein Video der Veranstaltung gibt es offiziell nicht, obwohl durchgehend gefilmt wurde. Sinngemäß also hier die wesentlichen Äußerungen der zukünftigen Parteivorsitzenden:

Nicht der Neoliberalismus sei das Problem sondern der chinesische Staatskapitalismus.

Der Neoliberalismus habe sich in der Finanzkrise 2008 selber erledigt.

Sie sei 1997 Jusovorsitzende gewesen, danach habe sie die Linken in der SPD formiert.

Sie habe heute eine Tochter, man könne seine Meinung ändern.

Von der Agenda 2010 sei einiges korrigiert, sie möge sich nicht mehr damit beschäftigen.

Natürlich sei sie gegen eine Privatisierung der Wasserversorgung.

Den Zwischenruf “Autobahn” überhörte sie.

Eine Antwort auf meine Fragen, z.B. zum Wahlergebnis 2017 habe ich nicht gehört. Olaf Scholz saß daneben, schwieg und betonte abends bei Anne Will, die SPD werde wieder stärkste Partei werden. In Ulm hat er auch gesagt, die klassische Industriearbeiterschaft gäbe es heute nicht mehr.

Auf der Rückfahrt von Ulm gehen mir so einige Dinge durch den Kopf:

Wir haben ein Prekariat von Aufstockern, von Leiharbeitern, von Hartz-IV-Empfängern, von Mini- und Mehrfach-Jobbern.

Wir haben den Niedriglohnsektor geschaffen – den größten in Europa – und erhöhen durch unsere hohen Exportüberschüsse die Schulden unserer Handelspartner.

Wir haben Tafelnutzer – mehr als 1,5 Mio inzwischen – und die Veranstalter in Esssen lehnen es ab, ausländische Bittgänger zu beköstigen. Hier werden Arme gegen Schwache ausgespielt und die verantwortliche Politik schaut zu.

Wir haben einen großen Pflegenotstand, aber Pflegeheime, die als Profitcenter arbeiten.

Wir haben sozialdemokratische Parteien in Europa, die unter 10% gelandet sind.

Wir haben eine Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan, die zur Privatisierung schreibt:

Öffentliche Güter als institutionalisierte Solidarität, Rückversicherung und Grundlage für eine selbstbestimmte Lebensführung gerade der weniger Betuchten wurden durch eine Welle der Privatisierung stark zurückgestutzt. Wettbewerb prägte kulturell nicht nur in der Wirtschaft (wo er hingehört), sondern in allen Gesellschaftsbereichen (z.B. Bildung, wo er destruktiv wirkt) den Alltag der Menschen, die sich einander infolgedessen gegenseitig prinzipiell als Bedrohung empfinden. Im individuellen Wettbewerb verlieren notgedrungen viele, während es nur wenige Gewinner gibt.

Gesine Schwan appelliert auch an den Mut der SPD, Fehler einzugestehen. Dieses dürfte eine grundlegende Voraussetzung für eine inhaltliche Erneuerung sein.

Und Andrea Nahles muss sich fragen, ob ihr politisches Glaubensbekenntnis noch übereinstimmt mit den Vorgaben der SPD-Grundwertekommission:

Neben der Nichteinführung des Mindestlohns lag der wichtigste Fehler der Agenda 2010 darin, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit das Arbeitslosengeld II auf niedrigem Niveau einzuführen, mit all den demütigenden Auflagen, z. B. das Angesparte offenzulegen und vor der staatlichen Unterstützung zu verbrauchen. Den Arbeitslosen wurde de facto die Schuld für Ihre Arbeitslosigkeit zugeschrieben. Das war eine bis heute anhaltende tiefe Kränkung. Hier muss die SPD aussprechen, dass dies ungerecht und falsch war, um die betroffenen Menschen zurückzugewinnen.
Die Hartz-IV-Regelung verunsichert auch weite Teile des Mittelstandes, die ebenfalls fürchten, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit sozial abzustürzen.

Im Ruhrgebiet gab es mal Lokale, da stand groß “SPD-Kneipe” davor. Heute steht auf dem Schild: AfD.

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24 Gedanken zu „Sieht so Erneuerung aus?

  1. Corinna Wilde

    Vielen Dank für diesen ehrlichen – und auch zu recht tief enttäuschten – Beitrag! Ein kurzer Beitrag, aber es ist alles gesagt.

  2. Ernst Burger

    Das ist eine offene und desillusionierte Zustandsbeschreibung dieser Partei, offensichtlich von einem Sozi. Nur: Da frage ich mich doch: Was tut er denn noch in dieser Partei – andere Parteien sind jedenfalls im Ansatz ehrlicher: Da tut man nicht nur so: Irgendwie links blinken und rechts abbiegen, und dies seit fast 20 Jahren (1998 kam Schröder ins Amt !). Da legt man die Karten gleich auf den Tisch …

    Und außerdem: Ich kann Kühnert nicht mehr hören (auch unabhängig davon, was kürzlich die NachdenkSeiten über seine früheren Statements so berichtet haben): Die Spielwiese der kindlichen Jusos, die irgendwie links tun wollen und – ausnahmslos ! – dann, wenn die Mandatsfleischtöpfe endlich näherrückten, Renegaten wurden, meist übler als ihr Altvorderen (Nahles und Schröder usw. waren auch mal Jusovorsitzende).

  3. Ludger Elmer Beitragsautor

    Lieber Ernst,
    Was tue ich noch in der SPD? Diese Frage hast du mir schon vor Jahren – im Prinzip, wenn auch nicht immer ausgesprochen – gestellt.
    Diejenigen, die sich so äussern wie ich, sind zweifellos in der Minderheit. Aber die Präsenz der GroKo – Gegner am Sonntag in Ulm war wirklich groß und der Beifall auf meine Äusserungen ziemlich enorm – wer mich kennt, weiß, daß ich den Beifall nicht brauche.
    Wenn solche Stimmen – wie meine inhaltlich (und ich halte mich wirklich nicht für wichtig) nicht mehr laut werden in der SPD, dann ist es eben noch schlimmer. Austreten kann man nur einmal. Und das gravierende an der Geschichte ist doch, dass eben solche Stimmen heute vorwiegend von denjenigen geäussert werden, die schon ausgetreten sind – also nicht mehr gehört werden. Und bei der Erneuerung der Partei werden solche Stimmen sehr notwendig sein. Andrea Nahles hat übrigens – mal wieder – sehr erregt auf meine Fragen reagiert.
    Und nebenbei gefragt: Wo ist denn die Alternative für eine politische Betätigung? Deine Ausführungen bestätigen mich gerade sehr darin, in der Partei zu bleiben.

    1. blog1

      Lieber Ludger,
      das Abstimmungsergebnis steht fest. 66% pro GroKo. Keine Jubelstimmung im Willy Brandt Haus. Die Parteispitze freut sich heimlich, still und leise.
      M.E. steht die Ministerliste bereits fest, wurde aber bislang unter der Decke gehalten. Die Devise lautet jünger und weiblicher.
      Kevin Kühnert – der Anführer der NoGroKo-Bewegung – sieht etwas bedröppelt aus. Fast schon hilflos wirkt seine Ankündigung, der Regierung künftig auf die Finger zu schauen. Das wird auch Andrea Nahles tun, die als Fraktionsvorsitzende und künftige Parteivorsitzende nicht in die Regierung wechselt. Jede Woche wird der Deutschlandtrend zum Maßstab ihres Handelns. Geht es mit der SPD nach oben, bleibt sie zurückhaltend, geht es nach unten, dann folgen ihre Schimpftiraden auf Bätschi-Niveau.

      Noch ein paar Worte zur Parteibasis:
      – Ca. 78% haben an der Mitgliederbefragung teilgenommen, d.h. 22% haben der Partei den Rücken gekehrt und sind nur noch Mitglied, weil sie nicht willens oder nicht in der Lage sind, ihr Parteibuch zurückzugeben.
      – Von den 78% haben sich 2/3 für die GroKo entschieden, somit waren 1/3 der abgegebenen Stimmen dagegen. Bei der letzten Mitgliederbefragung in 2013 lag die Zustimmungsquote noch bei knapp 76%.
      – Damit lässt sich festalten, dass die Reformkräfte in der Partei in der Minderheit sind, wohl auch deshalb, weil sie bis auf wenige nicht in der Lage sind, die SPD inhaltlich zu erneuern.
      – Diese Inhaltsleere reflektiert auch die Pateibasis und hat sich demzufolge den pragmatischen Weg eingeschlagen. Wenn man nicht weiß, wo man hin will, bleibt man bei dem, was man hat.
      – Dieses Stimmungsbild spiegelt sich auch in Gesamtbevölkerung in einem „weiter so“ wider. Diese bei vielen Wählern noch vorhandene Sichtweise hat die Union besser adaptiert als die SPD.

      Das verbindende Element zwischen der Union und der SPD besteht in der neoliberalen Denkrichtung. Dies zieht sich durch den gesamten Koalitionsvertrag.

      Jetzt gehörst Du ja zu den GroKo-Gegnern. In 2013 zähltest Du m.W. noch zu den Befürwortern. Du gehörst also zu denjenigen, die ihre Meinung geändert haben. Chapeau!

      1. Ludger Elmer Beitragsautor

        Lieber Werner,
        das Ergebnis ist klarer als erwartet. Marco Bülow verweist im Interview mit dem FREITAG auf die 80% der SPD-Mitglieder, die ich sehr wohl kenne — nicht alle — aus dem Unterbezirk und aus dem Ortsverein, die keinen Mucks sagen aber zweifellos stark durch die Medien und die Appelle an ihre Verantwortung beeindruckt waren — z.B. eine Phoenix-Runde letzte Woche über die SPD mit ausschliesslich vier GroKo-Befürwortern.
        Aber was kommt jetzt? Marco Bülow kündigte auch die Gründung einer neuen Plattform an. Vielleicht kommt ja nun doch etwas in Bewegung – über die Parteigrenzen hinaus – was den Neoliberalismus wirksam angeht.

        1. blog1

          Lieber Ludger,
          einige Anmerkungen zu dem Interview mit Marco Bülow im Freitag:

          1. Was den Mitgliederentscheid betrifft, argumentiert Bülow dahingehend, dass 80% der SPD-Mitglieder sich nicht an Versammlungen bzw. an Diskussionen in den Ortsvereinen beteiligen. Trotzdem haben sich 78% an der Abstimmung beteiligt. Das erklärt auch den Unterschied zwischen dem Mitgliederentscheid und dem Delegiertenvotum, in dem ja nur eine Zustimmungsquote von 56% vorlag.

          2. Die Frage, ob er am 14. März Merkel zur Bundeskanzlerin wählen wird, ließ er offen. Der Stimmenanteil von Schwarz/Rot im Bundestag beträgt 399 Stimmen. Wenn alle Abgeordneten der Opposition gegen Merkel stimmen, dann müssten 45 Abgeordnete der GroKo-Parteien auch gegen Merkel votieren und sie würde die Kanzlermehrheit verfehlen. Ich halte dies für unwahrscheinlich, zumal auch einige Abgeordnete von Bündnis 90/die Grünen Merkel wählen werden.

          3. Der interessanteste Punkt ist die Ankündigung Bülows, eine neue Plattform gründen zu wollen. Es stellt sich nur die Frage, die wievielte Plattform dies sein soll. Da gibt es die DL 21, das Institut solidarische Moderne und nicht zu vergessen die linke Sammelbewegung mit ihren Initiatoren Wagenknecht und Lafontaine. Es ist zu befürchten, dass sich die jeweiligen Plattformen gegenseitig politisch bekämpfen und damit keinerlei Schlagkraft entfalten.

          4. Fest steht für mich, dass diejenigen in der SPD, die sich gegen die GroKo entschieden haben, vor der Frage stehen, wie sie sich außerhalb der SPD für ihre Ziele engagieren können. Innerhalb der SPD erscheint mir eine inhaltliche Erneuerung der SPD unmöglich zu sein. Angesprochen sind jetzt vor allem die Jusos, die jetzt Farbe bekennen müssen, aber auch die „Desillusionierten“ außerhalb der Jusos.

          5. Eine „linke“ Bewegung braucht eine Gallionsfigur, hinter der sich alle versammeln können. Auch ein kongeniales Duo wäre denkbar. Entscheidend wird dabei sein, wie die Linkspartei mit eingebunden werden kann. Das Angebot von Fabio die Masi ist insofern interessant, weil er sich in steuerlichen Fragen und in Handelsfragen ganz gut auskennt. Nur dann, wenn sich 1/3 der SPD-Mitglieder, die Linksfraktion sowie der linke Flügel der Grünen unter einer gemeinsamen Führung und der Zentrierung auf gemeinsame Inhalte zusammenfinden, haben sie eine Chance gegen den neoliberalen Mainstream zu bestehen.

          1. Stefan Frischauf

            Fabio de Masi habe ich als weniger “ausgemachtes Alpha-Tier” erlebt als andere führende “Linke”. Marco Bülow ist sicher der am tiefsten im Ruhrpott und seiner alles andere als “provinziellen” Geschichte verwurzelte Sozialdemokrat. Eigentlich fehlt da noch ein Grüner wie Robert Zion, um da wirklich als “Triumvirat” eine Bewegung zusammenzuführen.
            Gleichwohl – habe selbst in D so viel “Alpha-Tier- und Funktionärs-Gehabe” gerade unter “Linken” erlebt – also bei der Partei der Linken, in der SPD – aber auch bei den Grünen. Und – ein Phänomen wie Jeremy Corbyn, der letztlich seit mehr als 16 Jahren “Oppositionsarbeit” in Labour macht und wohl hoffentlich noch dieses Jahr Neuwahlen im UK erreichen wird – das können wir nicht vorweisen (Ein deutscher Labour-Genosse, der am Finanzstandort London arbeitet prognostiziert Neuwahlen im UK spätestens, wenn May Ende des Jahres einen “Plan” für den Brexit vorlegen muss. Einen “Plan”, der wohl so wie Lord Mountbattens Abzug aus Brit.-Indien 1947 eher planlos daher kommt und so auch viele Traditionalisten im UK noch mehr verstören wird).
            Wohl aber haben wir einige durchaus erfahrene Leute, die eben auch die Ausdauer und Authentizität eines JC benötigen, um da erst einmal außerhalb ihrer Stammparteien wieder eine Bewegung zu formieren.
            Denn – die braucht es wohl – für alle Drei – und für eine eigentlich gar nicht so schwere Verknüpfung grundlegender Ziele.

  4. blog1

    Lieber Ludger,

    vielen Dank für Deinem Kommentar zu der in Ulm abgehaltenen Regionalkonferenz.
    Das Statement von Andrea Nahles überrascht mich nicht. Sie und fast der komplette Parteivorstand hat entweder nicht begriffen, was Neoliberalismus bedeutet oder die Personen sind überzeigt davon, dass die Defizite der SPD-Politik in anderen Bereichen zu suchen sind. Dies zeigt sich auch darin, dass die geringfügigen Korrekturen der Agenda 2010 – z. B. beim Mindestlohn – als vom Parteivorstand als ausreichend bezeichnet werden.
    Kurz nach der verlorenen Bundestagswahl im September hatte der komplette Parteivorstand – damals unter Führung von Schulz – erklärt, dass die SPD sich nur in der Opposition erneuern kann. Einer überwältigenden Mehrheit im Parteivorstand ging es aber nicht um eine inhaltliche, sondern ausschließlich um eine organisatorische Erneuerung. Der Parteibasis wurde suggeriert, dass die ständige Beteiligung als Minderheitspartner in einer GroKo verantwortlich dafür sei, dass die SPD in der Wählerzustimmung so massiv verloren hat. Nur durch diese Sündenbocktheorie konnte sich die damalige SPD-Führung in die nächste Etappe retten.
    Auf diesen Zug sind natürlich auch die Jusos aufgesprungen, weil sie Morgenluft witterten, ihre Positionen stärker zur Geltung zu bringen. Als dann in der Folge Jamaika scheiterte und doch jedem klar denkenden Menschen bewusst sein musste, dass eine weitere Verweigerung an einer Regierungsbildung in eine Sackgasse führen musste, war die Stunde derjenigen gekommen, die eine inhaltliche Erneuerung zu keinem Zeitpunkt wollten und insofern auch kein Problem darin sahen, einer erneuten GroKo zuzustimmen. Man musste nur einen geeigneten Sündenbock finden und der war mit dem Parteivorsitzenden Schulz schön längst vorherbestimmt.
    Es entsprach somit der Dramaturgie des neoliberalen Flügels der SPD, eine Situation zu schaffen, die zwingend einen Fortsetzung der neoliberalen Politik sicherstellt, egal ob nun in der Opposition oder – wie jetzt zu erwarten ist – in der GroKo.
    Die Jusos haben m.E. zu wenig Inhaltliches in die Debatte zur Erneuerung der SPD eingebracht, sieht man von Ausnahmen einmal ab. Ich nenne hier in erster Linien die Ausführungen der Juso-Vorsitzenden aus Berlin. Mit anderen Worten, die GroKo-Gegner sind in die Falle gelaufen, die ihnen die GroKo-Befürworter offeriert haben.
    Nachdem jetzt auch in den Koalitionsverhandlungen wichtige Ministerien an die SPD gegangen sind und ein Softwareprogramm suggeriert, dass 70% des Koalitionsvertrages eine SPD-Handschrift trägt, fallen natürlich weniger informierte SPD-Mitglieder auf dieses Täuschungsmanöver herein.
    Also, machen wir uns nichts vor. Die GroKo wird kommen. Inwieweit dann eine linke Sammlungsbewegung eine Chance haben wird, zu reüssieren, wird sich zeigen. Es gibt, was die Sozialdemokratie in Europa betrifft, nur noch das Modell „Jeremy Corbyn“, das aber nicht 1:1 auf Deutschland übertragen werden kann. Die AFD füllt immer nur die politische Lücke, die ihr von einer grundlegend mehr linken oder grundlegend mehr rechten Politik angeboten wird.

  5. Andreas Schlutter

    Bei den Parlamentswahlen in Frankreich hat die Partie Socialiste im letzten Jahr fast 22 Prozentpunkte im Vergleich zu 2012 eingebüßt, die niederländische Partij van de Arbeid hat 2012 noch 24,8% und im letzten Jahr lediglich 5,7% der Stimmen erhalten. Andererseits hat die SPÖ ihren Stimmenanteil halten können (da waren es v.a. Spaltung und Verluste der Grünen, die der FPÖ in die Regierung verholfen haben). Und auch in Italien wird dem Partito Democratico eine Halten des Stimmenanteils bei den Wahlen am kommenden Wochenende vorausgesagt (und dennoch der wahrscheinliche Verlust der Regierungsmöglichkeit). Sprich: wohin die Reise der SPD im Hinblick auf Wahlergebnisse geht, ist unabhängig vom Eintritt in die Koalition mit CDU/CSU nicht wirklich ausgemacht.
    In meinen Augen liegt das Problem viel tiefer, und es umfasst letztlich genauso Bündnis 90/Grüne als auch DIE LINKE. Es gibt keine adäquaten Antworten der Politik auf die drängenden Probleme und Herausforderungen.
    Die SPD findet schon keine Antwort mehr auf die soziale Frage (“Von der Agenda 2010 sei einiges korrigiert, sie möge sich nicht mehr damit beschäftigen”), konsequenten Umweltschutz sowie Antworten auf den Klimawandel suche ich vergebens. Und wo sind die Ansätze zu einer nennenswerten Friedenspolitik, zum einem globalen Ausgleich zwischen den reichen und armen Ländern? Es ist das Bodenlose der SPD, dass trotz weniger aufrechter Linker in der Partei diesen Reflex auslöst, da bitte nicht zuzugehören. Und dennoch haben bleibt ein Dilemma:

    Der aktuelle Koalitionsvertrag offenbare erneut, dass die SPD als als progressive und innovative Kraft derzeit ausfalle und allenfalls ein Reparaturbetrieb der eigenen Fehler sei. „Aber ohne oder gegen die SPD wird eine Veränderung wohl nicht funktionieren“, sagt Butterwegge. Und deshalb müsse man eben weiter durchhalten und einen langen Atem haben. Auch dieser, etwas blasse Hoffnungsschimmer wirkt wie ein Déjà-vu.

    Es gibt zum Glück ja weitere Optionen als in der SPD politisch zu kämpfen oder sich zurückzuziehen und zynisch zu werden.

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  7. Peter Boettel

    So ist leider die Realität der innerparteilichen Demokratie:
    verabschiedeter Leitantrag beim Parteitag:

    „Unsere Basis entscheidet. Über die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen wird ein verbindliches Mitgliedervotum eingeholt, an dem alle Mitglieder beteiligt werden. Das haben wir beschlossen, und das zeichnet uns als lebendige Mitglieder-Partei aus. Damit dieser Prozess innerhalb der Partei uns stärkt, ist uns wichtig, dass ein Abstimmungsverfahren angesichts der leidenschaftlichen Debatte in der Partei von besonderer Fairness gekennzeichnet ist. Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens wird der Parteivorstand sicherstellen, dass im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit, und vor allem auch im Rahmen von Diskussionsveranstaltungen, die diskursive Bandbreite der Debatte abgebildet wird.“

    Bei den Abstimmungsunterlagen befand sich jedoch nur ein mehrseitiges Schreiben des Vorstandes mit prominenten Unterschriften, in dem empfohlen wurde, mit Ja zu stimmen, andere Äußerungen waren nicht beigefügt.

    Dies habe ich auch bei vorwaerts. de kommentiert, ohne eine Reaktion zu erhalten.

    1. blog1

      Ich zitiere Walter Borjans, den ehemaligen Finanzminister aus NRW “»Wie freundlich, dass das Komma nicht auch noch um zwei Wörter nach vorn gerückt worden ist….So was macht man nicht.«
      Der Begleitbrief des SPD-Vorstands zeigt, wie nervös die Parteispitze ist.
      Ich glaube allerdings nicht, dass der Begleitbrief des SPD-Vorstandes einen nennenswerten Einfluss auf den Mitgliederentscheid haben wird. Das Gleiche gilt im Übrigen für die Aktion der Jusos mit dem Slogan “Tritt ein, sag nein”.
      Im Grunde genommen geht es doch um eine massive Glaubwürdigkeitskrise der SPD-Führungsspitze und somit um eine Entfremdung zwischen der Parteibasis und der SPD-Führung. Diese Glaubwürdigkeitskrise spiegelt sich nicht nur in der Parteibasis, sondern auch in der Gesamtbevölkerung wider. Der einzige Unterschied zwischen der SPD-Mitgliedschaft und der Wählerschaft der SPD besteht darin, dass die Mitglieder der SPD einen speziellen Blick auf die SPD haben, anderenfalls wären sie ja nicht in die Partei eingetreten. Die Wählerschaft interessiert der „Gemütszustand“ der SPD überhaupt nicht. Dies zeigt sich darin, dass die Sozialdemokratie in anderen europäischen Staaten drastisch marginalisiert wurde.
      Anstelle also darüber abzustimmen, ob die SPD-Mitglieder ihrer Parteispitze vertrauen – ich meine damit den gesamten Parteivorstand – oder nicht, wird ein Mitgliederentscheid über den GroKo-Vertrag initiiert, bei dem man trefflich darüber streiten kann, welche Inhalte eine SPD-Handschrift tragen und welche nicht. Das Interessante dabei ist, dass der Auftrag für die Sondierungsverhandlungen für die Verhandlungen mit der Union darin bestand, dass nicht nur über den Inhalt, sondern auch über die Form einer Regierungsbeteiligung verhandelt werden sollte. Heraus kam dann, dass der SPD-Parteivorstand empfahl, Koalitionsverhandlungen und zwar ausschließlich in Form einer Regierungsbeteiligung im Rahmen einer GroKo zu führen. Mit anderen Worten, die Option einer Minderheitsregierung der Union unter Tolerierung der SPD wurde nicht weiterverfolgt. Begründung: „Das war mit der Union nicht zu machen“. Die SPD-Führung hat also mehrfach ihre Basis getäuscht, was sie wirklich im Schilde führt.
      Wie es innerparteilich wirklich ausschaut, hat ja der letzte Parteitag im Januar 2018 gezeigt, in dem sich die dort anwesenden Delegierten denkbar knapp für die Aufnahme von Koalitionsgesprächen aussprachen.
      Welches Ergebnis wird nun der Mitgliederentscheid bringen? Die SPD-Mitglieder wollen auf keinen Fall, dass die Bedeutung der SPD in der Wählerschaft weiter abnimmt. Sie gehören also zu denjenigen, die mit überwältigender Mehrheit die SPD in der letzten Bundestagswahl gewählt haben. Deshalb werden sie sich zähneknirschend für die GroKo entscheiden. Allerdings werden die Zustimmungswerte deutlich unter denen liegen, die 2013 immerhin noch bei ca. 76% lagen. Meine Prognose geht dahin, dass die Zustimmungsquote nahe an dem Delegiertenergebnis im Januar liegen wird.

  8. Henning Höppe

    Toller Beitrag, der Stimmung und Strategie des PV in Ulm gut wiedergibt! Hilde Mattheis kam zwar zu Wort, sogar auf dem Podium — allerdings durfte sie nur zwei Fragen des höchst unprofessionell agierenden Moderatorenteams kurz beantworten.

  9. A. Wiesengrund

    Hallo,

    Ihnen als “linke” Sozi da unten ist, fürchte ich, politisch ebensowenig beizukommen und zu helfen schon gar nicht wie den “rechten§ Spitzensozi da unten. So gesehen, sind sie eine Einheit: deutsche Sozi eben.

  10. Alexander

    Als Nicht-SPD-affiner politikinteressierter Mensch: Das ist nur zum Heulen. Ich würde die SPD nicht wählen, aber ohne sie kann man hierzulande keine positiven Veränderungen umsetzen. Die Antworten von Andrea Nahles sind entweder unglaublich frech oder unglaublich dumm. Die Sache mit dem chinesischen Staatskapitalismus lernt man vermutlich am Kabinettstisch. Andere hätten gesagt: Globalisierung hat auch Schattenseiten, man muss das entsprechend gestalten. Aber schön, wie wahlweise der Russe und jetzt der Chinese schuldig ist. (Wir verschweigen mal, dass der chinesische Staatskapitalismus ziemlich effizient den durchschnittlichen Wohlstand seiner Einwohner mehrt und in der Lage ist, Leistungsbilanzüberschüsse abzubauen.)
    Genau wie Frau Nahles (bin etwas jünger) habe ich inzwischen auch eine kleine Tochter. Aber meine Meinung hat sich seit 1997 nicht geändert. Ich finde immer noch die gleichen Dinge richtig wie damals. Ich fand die Agenda 2010 von Anfang an eine miese Idee und wenn sich eine zukünftige SPD-Vorsitzende damit nicht beschäftigen will, weil ihr vielleicht irgendein Karrierecoach mal beigebracht hat, dass man nach vorne sehen soll und sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigt, dann sollte sie sich einen anderen Coach suchen, denn die (Ex-SPD-)Wähler beschäftigt das sehr wohl und der Kunde ist König. Der Wähler ist hier der Kunde und nicht die Arbeitgeberlobbies.

    Genug aufgeregt. Jemand schrieb, man müsse Lösungen suchen. Ich denke, die meisten sind da, man muss halt machen (auf andere als die üblichen Experten hören?) und gegen Widerstände durchsetzen und Mehrheiten dafür suchen (sorry, Bürgerversicherung, 60% der Leute wollen das). Niemand hat gesagt, dass es einfach ist, Ungleichheit und Armut zu bekämpfen. Aber dafür wird man doch SPD-Vorsitzende?

    Wenn der Parteitag nach solchen Statements seine Mainstream-Kandidaten trotzdem wählt… selbst schuld, nicht zu helfen. Sehr schade. Man erinnere sich der Aufbruchsstimmung, als Lafontaine mal unerwartet Vorsitzender wurde. Da hat man sich auch als Nicht-SPDler, aber links stehende Person, mal gefreut.

    1. Andreas Schlutter

      Apropos Lafontaine, da war ich noch SPD-Mitglied. Und nach dem Desaster mit dem Asylkompromiss von 1993 gab es so etwas wie Hoffnung und Aufbruchstimmung, was dann in den Wahlsieg 1998 mündete. Der Rest der Geschichte ist bekannt und belastet die SPD bis heute.

      1. blog1

        Die Begleitumstände wie Lafontaine sich im Herbst 1995 als Parteivorsitzender in einer Kampfkandidatur gegen Scharping durchsetzen konnte, ist ein Paradebespiel dafür, wie die SPD mit Parteivorsitzenden umgeht, die eine Bundestagswahl verloren haben. Das wäre ja Schulz ähnlich ergangen, wenn bei seiner Wiederwahl auf dem Parteitag am 07.12.2017 ein vergleichbarer Gegenkandidat zur Verfügung gestanden hätte. Aber alle möglichen Gegenkandidaten blieben in der Deckung und warteten genüsslich ab, bis sich Schulz selbst zerlegte, was ja dann auch prompt eintrat.

        Es war kein Geheimnis, dass Lafontaine Scharping zutiefst verachtete. Die Im Bundestagswahlkampf 1994 zur Schau gestellte Troika zwischen Lafontaine, Scharping und Schröder war längst zerbrochen. Nach dem verlorenen Bundestagswahlkampf war für Lafontaine und Schröder klar, dass Scharping weichen musste. Beide „Alpha-Tiere“ hatten wenig inhaltliche Gemeinsamkeiten, außer die Zielsetzung, wieder den Kanzler nach 16 Jahren Kohl zu stellen. Das gelang dann auch, weil Lafontaine Schröder den Rücken freihielt, indem er dafür sorgte, dass in den Bundesländern eine rigorose Blockadepolitik durchgezogen wurde, was der Union auf der Bundesebene erheblich zu schaffen machte. Schröder versprach Lafontaine als Gegenleistung ein Ministeramt und dass Lafontaine weiterhin Parteivorsitzender sein sollte.

        Man kann also festhalten, dass es in der SPD immer nur um die Machtfrage ging. Mit der Agenda 2010-Politik griff Schröder in den neoliberalen Instrumentenkasten und scherte sich einen Dreck um das sozialdemokratische Gewissen der SPD. Gleichzeitig servierte er Lafontaine ab, der dem „Genossen der Bosse“ mit seinen linken Ideen ein Dorn im Auge war. Schröder war und ist ein Spieler-Typ, der rigoros die SPD für seine Politik instrumentalisiert hat. Seine Devise, zuerst komme ich, gilt bis heute. Deshalb scheute er sich nicht, in 2005 Bundestagswahlen vom Zaun zu brechen und kurz nach der verlorenen Wahl in die Dienste von Putin einzutreten. Schröder durchschaute die SPD wie kein anderer und bestärkte ihn in seiner Meinung, dass er sich alles erlauben könne, Hauptsache, die SPD stellt den Kanzler. Selbst bei dem Wahlprogramm-Parteitag im April 2017 ließ man Schröder als Redner auftreten, der dann kurz danach als Aufsichtstrat zu Rosneft wechselte.

        Die Ignoranz von Andrea Nahles, den Neoliberalismus für beendet zu erklären, rührt auch aus dem Umstand, dass sie in 1995 als Juso-Vorsitzende beobachten konnte, wie ihre Partei tickt. Der Machtwechsel von Scharping zu Lafontaine hat sie damals mehr politisch beeinflusst als alle anschließenden Debatten um den Neoliberalismus. Es zeichnet sich ja jetzt ein Bündnis zwischen Nahles und Scholz ab. Scholz, das neoliberale Aushängeschild des Seeheimer Kreises, der Finanzminister in Spe, der den Daumen auf der schwarzen Null hält, Nahles als Partei- und Fraktionsvorsitzende, die für die Erneuerung der Partei zuständig ist. Ihren Hang zur Intrige hat sie bereits bewiesen, indem sie Schulz und Gabriel gegeneinander ausgespielt hat, aber auch schon vorher, als sie Müntefering als Parteivorsitzenden abservierte.

        Insofern wird die SPD den neoliberalen Kurs fortsetzen, den es ja offiziell gar nicht mehr gibt. Die SPD hofft insgeheim darauf, dass in der Union durch den Abtritt von Merkel ein Machtvakuum eintreten wird. Mit der Nominierung vom Annegret Kramp-Karrenbauer als Generalsekretärin hat die CDU eine Kanzlerkandidatin in Position gebracht, die die Pläne der SPD durchkreuzen könnte, zumal Nahles als mögliche Kanzlerkandidatin bei den Wählern höchst unbeliebt ist.
        Viel wahrscheinlicher ist es, dass die SPD weiter marginalisiert wird, weil inhaltlich aus den o.g. Gründen keine Erneuerung stattfinden kann.
        Eine Ablehnung des Koalitionsvertrages hätte die Chance eröffnet, dass ganze andere Leute nach oben gespült worden wären, die dann zwingend einen grundlegenden Politikwechsel hätten umsetzen müssen.

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  12. Stefan Frischauf

    Die Antworten von Andrea Nahles sind geradezu erschreckend. Sie sind aber auch bezeichnend für die völlige Tabuisierung der gravierendsten Probleme, die auch das größte Unbehagen und Misstrauen beim Wähler verursachen.
    Von der CDU weiß man, dass sie in der “marktkonformen Demokratie” festgefahren ist.
    Nahles Äußerungen jedoch gehen unisono in dieselbe Tiefe der Verdrängung.
    “Nicht der Neoliberalismus sei das Problem sondern der chinesische Staatskapitalismus.”
    Die Einseitigkeit dieses Urteils ignoriert völlig unsere wirtschaftliche und geostrategische Lage.
    Abgesehen davon – unsere vormalige “Schutzmacht”, die US kündigen gerade ganz offensichtlich alle gemeinsamen Werte auf. Auch insofern wird der Druck von außen zunehmen.
    Das Ergebnis der Wahlen in Italien – dito.
    Die völlige Ausschaltung aller außen- und innenpolitischen Themen, die die Menschen verunsichern – sie am rechten Rand fischen lassen – das ist wirklich mehr als erschreckend.
    Es bleibt zu hoffen, dass die Groko jetzt nicht länger als 2 Jahre hält.
    Hart wird’s so oder so.

    1. Peter Boettel

      Ein frommer Wunsch, dass die GroKo nicht länger als 2 Jahre hält.

      Natürlich wird Seehofer, wie in der Vergangenheit, immer wieder drohen, die Koalition zu verlassen, wenn seine Ideen nicht realisiert werden. Es wäre in der Vergangenheit ein Segen gewesen, wenn er es getan hätte, dann wären uns Mautbrindt und Glypho-Schmidt erspart geblieben. Und in der Zukunft könnte man ebenso auf Seehofer und Scheuer verzichten.
      Aber die SPD wird ihre Verlässlichkeit gegenüber den Koalitionspartenern wieder einen höheren Rang einräumen als gegenüber den Wählern und an der Koalition festhalten wie ein Ertrinkender an einem Holzbalken, obwohl sie ebenso drohen könnte und damit endlich mal Stärke beweisen würde. Hätte die SPD dies in der letzten Wahlperiode getan, und einige Forderungen durchgesetzt, hätte das Wahlergebnis besser ausgesehen.

    2. blog1

      Lieber Stefan,
      ich antworte auf Deinen Kommentar weiter oben.
      Für die Führung einer linken Sammelbewegung braucht man „Alpha-Tiere“, egal ob weiblich oder männlich. Ich gebe Dir aber Recht, was die Borniertheit linker Politiker betrifft. Dies liegt vielleicht daran, dass die Positionskämpfe um bezahlte Stellen vehementer geführt werden, schließlich sind sie dünner gesät. Hinzu kommt eine gewisse Wagenburgmentalität und die Einstellung, dass die eigene Meinung die einzig richtige ist.
      Zu Jeremy Corbyn: Er war und ist in erster Linie glaubwürdig und steht für seine Überzeugungen ein. Corbyn wurde ja in einer Urwahl im September 2016 zum Parteivorsitzenden gewählt, obwohl er innerhalb der Labour-Abgeordneten keinerlei Rückhalt hatte. Bei seiner Wahl nutzte er die Momentum-Bewegung, die außerhalb der Parteimitglieder sehr aktiv war. Bedingt durch das EU-Referendum und den daraus resultierenden Brexit konnte Corbyn in den Unterhauswahlen im Juni 2017 einen fulminanten Erfolg einfahren, der aber nicht ausreichte, den Premier-Minister zu stellen. Aber immerhin wurden es 40%. Die Tories erreichten trotz schlechtester Performance von Theresa May 42%.
      Seitdem träumt die Linke in Deutschland von ähnlichen Erfolgen. Nur, das Phänomen J.C. ist nicht auf Deutschland übertragbar. Was man J.C. lernen kann, ist seine Glaubwürdigkeit und sein konsequentes Eintreten für soziale Themen, wie z.B. der Erhalt des NHS, der massive Widerstand gegen weitere Privatisierungen bzw. die Verstaatlichung von Gütern der Daseinsvorsorge, die bereits privatisiert sind.
      Wir dürfen nicht übersehen, dass der Neoliberalismus in GB gegenüber Deutschland weit mehr vorangeschritten ist, die Abhängigkeit zu Konzernen in der Finanzdienstleistung weitaus größer ist sowie der industrielle Sektor in GB kaum noch eine Rolle spielt. Nicht zu vergessen ist das Außenhandelsdefizit von GB von sage und schreibe 176 Mrd. €, während Deutschland einen Überschuss von 249 Mrd. € aufweist.
      So unrealistisch das auch klingen mag, ein Bündnis zwischen Kühnert, Wagenknecht und einem Bündnisgrünen vom Zuschnitt eines Jürgen Trittin, halte ich für am Erfolgsträchtigsten. Man wird aber abwarten müssen. Kühnert wird ein Posten im SPD-Präsidium angeboten werden, um ihn kalt zu stellen. Wagenknecht ist in der Linkspartei umstritten und momentan auf Tauchstation. Lafontaine ist innerhalb der SPD eine persona non grata und Trittin ist nicht einzuschätzen.
      Egal,, wer sich jetzt aus der Deckung wagt, er wird gnadenlos vom neoliberalen Mainstream niedergeschrieben. Genau deshalb braucht man Leute, die das aushalten.

  13. Andreas Schlutter

    Unter dem Titel “Das Ableben der SPD” hat Roland Rottenfußer (u.a. Chefredakteur von Hinter den Schlagzeilen) einen bemerkenswerten Artikel verfasst, aus dem ich hier zwei Passagen zitieren möchte:

    Ich bin kein großer Freund der SPD. Sie ist zu systemangepasst, zu lau, zu wenig sozialdemokratisch in der eigentlichen Bedeutung des Wortes. Ja, die SPD hat Verrat an ihrem Klientel, dem kleinen Mann/der kleinen Frau, den abhängig und prekär Beschäftigten, den Arbeitslosen und Armen begangen: vor allem mit Hartz IV, Schröders schäbigem Menschenverelendungsprogramm. Die SPD müsste in sich gehen, bereuen und die Kraft zu einem ganz anderen politischen Kurs finden – dem Gegenwind der neoliberalen Kulturdominanz trotzend. Was die „etablierten“ Medien derzeit machen, zielt jedoch nicht auf eine bessere SPD ab; das Ziel der Kampagne ist vielmehr, dass es künftig überhaupt keine SPD mehr in Deutschland gibt. Jedenfalls keine, die entscheidenden Einfluss auf die Politik nehmen könnte.
    (…)

    Der nun folgende Absturz der SPD auf AfD-Niveau, das „Projekt 18 minus“, das die Presselandschaft und viele Alt-Sozialdemokraten erschütterte, entsprach in gewisser Weise dem Traum vieler Linken, die „alte Tante SPD“ möge für ihren erbärmlichen Verrat – siehe Hartz IV – endlich gebührend abgestraft werden. Sind Verräter nicht schlimmer als „ehrliche Feinde“, verdienen sie nicht unseren zähen, vernichtenden Hass? Viele empfinden so. Aber ich gebe eines zu bedenken: Das Ende der Sozialdemokratie, wie wir sie in über 150 Jahren der Geschichte gekannt haben, wäre ein sehr gefährlicher „Triumph“. Es käme nicht unbedingt etwas Besseres nach.

    Bei aller Kriktik an der und Enttäuschung über die SPD macht dieser Beitrag nochmals deutlich, dass wir als gesellschaftliche Linke derzeit über keine Option verfügen, ohne die SPD irgenetwas zu erreichen.

    Insofern bin ich gespannt, was Marco Bülow diese Woche präsentieren wird – und vor allem auch, mit wem gemeinsam.

    1. Stefan Frischauf

      Lieber Andreas, lieber Werner (blog 1 – ich glaube, Ludger hat Dich schon so angeredet),

      sehr spannende Ergänzungen. Danke.
      Das mit den “rund 20 Jahren mehr Erfahrung mit Neoliberalismus” im UK sagt auch ein Freund von mir aus München, der auf Sardinien lebt. Aber – was ist das – “Neoliberalismus” – oder – ist das nur “kognitive Dissonanz”, unter der Andrea Nahles da “leidet”, wenn sie sagt, “das habe sich 2008 erledigt”?
      “Italien – großes Theater. „Politik – ein schmutziges Geschäft“ – Hauptsache, die Richtigen aus der eigenen Kaste sind an den Futtertrögen und lassen mich auch daran.
      Was wird also die Kontinuität von 1. bis 3. Republik Italiens sein?
      In Deutschland lernt man in den letzten Jahren seine alten „Freunde und Partner“ besser kennen. Italien – ein wunderschönes Land, die größte Dichte an UNESCO-Weltkulturerbestätten. Vielleicht auch beim „Neoliberalismus“ einmal mehr „ideologischer Vorreiter“. Auf seine ganz eigene Art. Ein Land, das die größten Auswanderungswellen gerade von gut ausgebildeten jungen Menschen seit dem 2. Weltkrieg erlebt. Völlig marode Infrastruktur auch im „reichen Norden“. Eine kaum aufhaltbare Überschuldung.”
      https://www.facebook.com/stefan.frischauf.14/posts/1965252960156020
      Will sagen – bin auch gespannt auf Marco Bülows Vorstoß, lieber Andreas und stimme im Hinblick auf die “Alpha-Tiere” mit Dir überein. Aber – wir werden inhaltliche Debatten weit hin auch zum Thema “europäische Solidarität” und mehr aufweiten müssen. Womit wir da auch schon beim Punkt sind, den Du auch nennst, Werner – das UK ist etwas ganz anderes als Kontinentaleuropa hier. Dennoch ist es wichtig, wieder gemeinsame (Etappen-) Ziele auszuarbeiten – so wie es letztlich Anfang der 1970er Jahre auch schon einmal funktioniert hat. Und – von der historischen Situation her gibt es da durchaus analoge Momente.

  14. Pingback: Wohin geht’s nach dem „(Post-) Neoliberalismus“!? | Nachdenken in München

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