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Sieht so Erneuerung aus?


Video: Youtube

Am vergangenen Sonntag, den 25.2.18, fand in Ulm die siebte und letzte SPD-Regionalkonferenz zum Mitgliedervotum über eine Große Koalition im Bund statt. Anwesend von der Parteiführung waren die designierte Parteivorsitzende Andrea Nahles und der Interimsvorsitzende Olaf Scholz, zur Zeit (noch) Bürgermeister in Hamburg. Kurze Statements der beiden eröffneten die Veranstaltung – anschließend diskutierten die rund 200 Mitglieder und schrieben Fragen auf, die sie an die Parteiführung stellen wollten. In der letzten Runde gingen Nahles und Scholz von Tisch zu Tisch, um sich den Fragen zu stellen. Hilde Mattheis, die Vorsitzende des Forums Demokratische Linke und GroKo-Gegnerin, durfte nicht dabei sein.

Meine Fragen an Andrea Nahles lauteten:

Wir haben von 1998 bis 2017 die Hälfte der Wähler verloren – sind von 40,9% auf 20,5% im Bund gesunken. Warum diskutieren wir nicht über das Warum? Hat es in dieser Periode nicht eine Agenda 2010 gegeben?

Übrigens: Großer Beifall der zahlreichen GroKo-Gegner beim Stichwort Agenda 2010.

Ich habe in den Medien ein Video von 1997 gesehen von dir, Andrea, in dem du gegen den Neoliberalismus wetterst und die Parteiführung, namentlich Schröder und Clement angreifst. Das Wort Neoliberalismus höre ich von dir, Andrea, heute überhaupt nicht mehr. Ich habe es auch von Martin Schulz im Wahlkampf nicht vernommen. Warum ist das so? Dabei würde ich zumindest heute eine eindeutige Absage an jede weitere Privatisierung der Güter der öffentlichen Daseinsvorsorge erwarten.

Die Antworten, die Andrea Nahles mir gegeben hat, kann ich lediglich als Gedächtnisprotokoll wiedergeben. Ein Video der Veranstaltung gibt es offiziell nicht, obwohl durchgehend gefilmt wurde. Sinngemäß also hier die wesentlichen Äußerungen der zukünftigen Parteivorsitzenden:

Nicht der Neoliberalismus sei das Problem sondern der chinesische Staatskapitalismus.

Der Neoliberalismus habe sich in der Finanzkrise 2008 selber erledigt.

Sie sei 1997 Jusovorsitzende gewesen, danach habe sie die Linken in der SPD formiert.

Sie habe heute eine Tochter, man könne seine Meinung ändern.

Von der Agenda 2010 sei einiges korrigiert, sie möge sich nicht mehr damit beschäftigen.

Natürlich sei sie gegen eine Privatisierung der Wasserversorgung.

Den Zwischenruf “Autobahn” überhörte sie.

Eine Antwort auf meine Fragen, z.B. zum Wahlergebnis 2017 habe ich nicht gehört. Olaf Scholz saß daneben, schwieg und betonte abends bei Anne Will, die SPD werde wieder stärkste Partei werden. In Ulm hat er auch gesagt, die klassische Industriearbeiterschaft gäbe es heute nicht mehr.

Auf der Rückfahrt von Ulm gehen mir so einige Dinge durch den Kopf:

Wir haben ein Prekariat von Aufstockern, von Leiharbeitern, von Hartz-IV-Empfängern, von Mini- und Mehrfach-Jobbern.

Wir haben den Niedriglohnsektor geschaffen – den größten in Europa – und erhöhen durch unsere hohen Exportüberschüsse die Schulden unserer Handelspartner.

Wir haben Tafelnutzer – mehr als 1,5 Mio inzwischen – und die Veranstalter in Esssen lehnen es ab, ausländische Bittgänger zu beköstigen. Hier werden Arme gegen Schwache ausgespielt und die verantwortliche Politik schaut zu.

Wir haben einen großen Pflegenotstand, aber Pflegeheime, die als Profitcenter arbeiten.

Wir haben sozialdemokratische Parteien in Europa, die unter 10% gelandet sind.

Wir haben eine Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan, die zur Privatisierung schreibt [1]:

Öffentliche Güter als institutionalisierte Solidarität, Rückversicherung und Grundlage für eine selbstbestimmte Lebensführung gerade der weniger Betuchten wurden durch eine Welle der Privatisierung stark zurückgestutzt. Wettbewerb prägte kulturell nicht nur in der Wirtschaft (wo er hingehört), sondern in allen Gesellschaftsbereichen (z.B. Bildung, wo er destruktiv wirkt) den Alltag der Menschen, die sich einander infolgedessen gegenseitig prinzipiell als Bedrohung empfinden. Im individuellen Wettbewerb verlieren notgedrungen viele, während es nur wenige Gewinner gibt.

Gesine Schwan appelliert auch an den Mut der SPD, Fehler einzugestehen. Dieses dürfte eine grundlegende Voraussetzung für eine inhaltliche Erneuerung sein.

Und Andrea Nahles muss sich fragen, ob ihr politisches Glaubensbekenntnis noch übereinstimmt mit den Vorgaben der SPD-Grundwertekommission:

Neben der Nichteinführung des Mindestlohns lag der wichtigste Fehler der Agenda 2010 darin, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit das Arbeitslosengeld II auf niedrigem Niveau einzuführen, mit all den demütigenden Auflagen, z. B. das Angesparte offenzulegen und vor der staatlichen Unterstützung zu verbrauchen. Den Arbeitslosen wurde de facto die Schuld für Ihre Arbeitslosigkeit zugeschrieben. Das war eine bis heute anhaltende tiefe Kränkung. Hier muss die SPD aussprechen, dass dies ungerecht und falsch war, um die betroffenen Menschen zurückzugewinnen.
Die Hartz-IV-Regelung verunsichert auch weite Teile des Mittelstandes, die ebenfalls fürchten, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit sozial abzustürzen.

Im Ruhrgebiet gab es mal Lokale, da stand groß “SPD-Kneipe” davor. Heute steht auf dem Schild: AfD.

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