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Mit Marx über die Digitalisierung nachdenken

Von Tobias Hinterseer [1] und Bernd Wimmer

[1]Die Digitalisierung der Arbeitswelt bietet ein hohes emanzipatorisches Potenzial. Um dieses erkennen und für eine solidarische Gesellschaft eintreten zu können, hilft uns ein alter Bekannter weiter: Karl Marx. Seine Gedanken zum technischen Fortschritt sind aktuell wie eh und je.

Als Friedrich Engels am offenen Grab von Karl Marx stand, sprach er von einem „unermesslichen Verlust für das kämpferische Proletariat“ und hielt fest: „Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!“.

Er sollte Recht behalten. Marx’ Ideen hatten im 20. Jahrhundert einen immensen Einfluss und ließen ihn zu einem der wichtigsten Philosophen der Neuzeit werden. Während er spätestens nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus vielerorts in Verruf geriet, ist er im Zuge der Auseinandersetzung mit der Wirtschaftskrise 2008 ff. wieder salonfähig geworden.

Doch nicht nur seine allgemeinen Betrachtungen zur kapitalistischen Logik, auch seine expliziten Gedanken zur Rolle der Technik bzw. Maschine sind heute von höchster Bedeutung. Sie geben wichtige Impulse zur Beurteilung neuer digitaler Technologien, die die sogenannte Digitalisierung der Arbeitswelt einleiten.

Die Angst vor der Maschine

Studien zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf Arbeitsmarkt und -verhältnisse gibt es mittlerweile genügend. Je nach Neigung und Vorliebe kann der Leser / die Leserin zwischen apokalyptischen Prognosen und Zweckoptimismus wählen. Wie auch die Einschätzungen dieser Studien aussehen, gemein ist ihnen die zentrale Frage nach der Zukunft der Arbeit bzw. Arbeit der Zukunft. Mit dieser Frage ist für viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eine Angst verbunden: Die konkrete Angst, den Job zu verlieren, durch eine Maschine oder einen Algorithmus ersetzt zu werden.

Diese Angst ist verständlich, weil das „Recht auf Arbeit“ in kapitalistischen Verhältnissen ein Existenzrecht ist und eine existenzielle Forderung nach einer über den Tag hinausgehenden Sicherung des Lebensunterhalts bedeutet.

Die Maschine als Utopie

Doch im technischen Fortschritt liegt auch ein Potenzial. Marx sah in der Technik die Chance, die notwendige Arbeit zu verringern und dadurch Emanzipation zu ermöglichen: „Je mehr die Produktivität der Arbeit wächst, um so mehr kann der Arbeitstag verkürzt werden“. Maschinen sind deshalb für Marx „das gewaltigste Mittel, die Produktivität der Arbeit zu steigern, d. h. die zur Produktion einer Ware nötige Arbeitszeit zu verkürzen“.

Die Erreichung von Freiheit ist für Marx die große Chance der Technik: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“. Technik könne laut Marx so eingesetzt werden, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeit, die durch den Menschen verrichtet wird, auf ein Minimum reduziert wird. Dadurch werde ihm ein Höchstmaß an Freiheit und Selbstbestimmung garantiert.

Können wir also aufatmen? Bringt uns die Digitalisierung und ihre starke Automatisierung die Freiheit? Daran darf zu Recht gezweifelt werden.

Das Produktivitätsparadoxon

Die Digitalisierung ist keine Naturgewalt. Erst der Gebrauch und Umgang mit neuen Technologien entscheidet über ihre Auswirkungen. Man kann deshalb nicht von einer Neutralität der Technik ausgehen. Herbert Marcuse hat im Anschluss an Marx analysiert: „Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird; die technische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im Begriff und Aufbau der Techniken am Werk ist“.

Es ist deshalb wichtig zu verstehen, dass die Hoffnung auf und der Einsatz für eine „gute Digitalisierung“ unweigerlich mit der Kritik und der (zumindest gedanklichen) Loslösung von der kapitalistischen Verwertungslogik verbunden sein muss. Sowohl Technikdeterminismus als auch Technikoptimismus sind zurückzuweisen. An ihre Stelle muss ein historisches Denken, also die Berücksichtigung des gesellschaftlichen Rahmens treten.

Denn es zeigt sich, dass durch die kapitalistische Anwendung von digitaler Technik nicht Herrschaft abgebaut, sondern vielmehr ausgedehnt wird. Auch das hat Marx treffsicher festgehalten: „Es liegt in der Natur des Kapitals, einen Teil der Arbeiterbevölkerung zu überarbeiten und einen anderen zu verarmen.“ Zugespitzt formuliert: Während sich die Einen heute ins Burn-Out[2] schuften, werden die Anderen nach dem Credo der Leistungsgesellschaft[3] zu Sinnlosen erklärt.

Marx nennt es eine „ökonomische Paradoxie“, dass der verstärkte Einsatz von Technik, das „gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit“, unter kapitalistischen Verhältnissen, „alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals [verwandelt]“. „Arbeitet, um noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten: Das ist das unerbitterliche Gesetz der kapitalistischen Produktion.“

Eine andere Technik(anwendung)

Marx hatte gewiss eine freie Gesellschaft als Lösung für die durch den kapitalistischen Gebrauch von Technik verursachten Probleme im Kopf. Nicht mehr Freizeit, die immer nur eine Seite der Arbeitszeit sein kann, sondern mehr freie Zeit gilt es demnach zu verwirklichen.

Vieles erscheint heute nicht mehr so klar, wie es zu Marx’ Zeiten der Fall war. Der Arbeitsfetisch und die Ausdehnung des Nutzenkalküls auf sämtliche Lebensbereiche haben bei allem Elend und aller destruktiven Kraft des Kapitalismus allein die Vorstellung einer anderen Gesellschaft und Welt erschwert.

Die Grenzen zwischen Arbeit und Leben verschwimmen heute im digitalen Strom zunehmend. Heraklits Formel panta rhei – „alles fließt“ dient der digitalisierten Gesellschaft als Erfolgsrezept: Alles ist ständig in Bewegung und work is (always) in progress. So wird jede Zeit zur (potenziellen) Arbeitszeit.

Marx’ Erkenntnis, dass der Arbeiter zu Hause ist, wenn er nicht arbeitet und wenn er arbeitet nicht zu Hause ist (was er als Entfremdung bezeichnet hat), gewinnt in der „flüssigen“ (flexiblen) Arbeitswelt an Bedeutung. Ob im Urlaub am Strand, am Wochenende auf dem Sofa, im Krankenstand im Bett – arbeiten darf bzw. eher muss man heute immer. Aber auch die Grenze zwischen Arbeitskraft und (Privat)Person sowie zwischen Arbeiter/Arbeiterin und Unternehmer/Unternehmerin verschwimmen.

Für emanzipatorische Politik

Es braucht eine andere Gesellschaft, die den Weg weist und zumindest für mehr Verteilung von Arbeit, Zeit und Teilhabe bei gleichzeitiger Reduktion von Sozial- und Gesundheitskosten sorgen kann. Eine emanzipatorische Politik will nutzlose Arbeit vermeiden und die gesellschaftlich sinnvolle und notwendige Arbeit gleich verteilen. In dieser Hinsicht ist Marx’ Kritik ein Wegweiser im Zeitalter der Digitalisierung:

Wie Marx schon feststellte, können also technologische Innovationen zur gesellschaftlichen Emanzipation beitragen, solange sie nicht rein nach der Logik des Marktes und der Kapitalvermehrung eingesetzt werden, sondern im Interesse der Allgemeinheit. Dafür braucht es eine Utopie, die eine andere Gesellschaft skizziert. Ohne Vision einer anderen Gesellschaft werden wir die gesellschaftlichen Krisen nicht bewältigen können. Marx mag uns beim Denken helfen. Fangen wir damit an.


Dieser Beitrag ist zuerst auf blog.arbeit-wirtschaft.at [2] erschienen. Er steht unter einer Creative-Commons-Lizenz vom Typ  Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International [3] (CC-BY-SA 4.0).

Bild: eigenes Werk unter Verwendung von lizenzfreien Bildern (Pixabay/Wikipedia)

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Endnotes:
  1. [Image]: http://nachdenken-in-muenchen.de/Wordpress/wp-content/uploads/2017/07/marx_binary.jpg
  2. Burn-Out: http://blog.arbeit-wirtschaft.at/unsere-arbeit-unsere-zeit/
  3. Leistungsgesellschaft: http://blog.arbeit-wirtschaft.at/arbeiterinnenbildung-gegenbewegung-zur-entsolidarisierten-leistungsgesellschaft/
  4. Arbeitszeitreduktion: http://blog.arbeit-wirtschaft.at/fortschritt-bedeutet-arbeitszeitverkuerzung-der-ansicht-waren-schon-marx-und-keynes/
  5. Verteilung von Arbeit: http://blog.arbeit-wirtschaft.at/faire-verteilung-der-arbeitszeit/
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