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SPD: Es wird Zeit für die Mutigen

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Foto: Metropolico.org

Ein Abend in Pfaffenhofen im März 2016, im Hotel Moosburger Hof, genau an jenem Ort, wo die bayerische SPD im November 1945 wiedergegründet wurde: Ein Treffen der SPD-Basisinitiative Rammbock unter dem Motto „Zeit für die Mutigen[2]“. Der Zuspruch zu dieser Initiative ist ungebrochen. Zahlreiche Ortsvereine, Sympathisanten und Untergliederungen aus ganz Deutschland wollen ihren Beitrag zum Kurswechsel der SPD leisten.

Über die inhaltlichen Fragen sind sich alle so gut wie einig. Die SPD verliert bei den Wahlen weiterhin an Zuspruch, gerät in die Gefahr, auch bundesweit unter die 20%-Marke abzurutschen. Die Führungsriege der SPD hat jahrelang neoliberale Politik betrieben, hat die Rente teilprivatisiert und den größten Niedriglohnsektor in Europa errichtet. Während überall die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, scheut sich die SPD, für Erhöhungen der Vermögens-, der Einkommens und der Erbschaftssteuern einzutreten. Sie unterstützt den Finanzminister, der hartnäckig das prestigeträchtige Symbol der „Schwarzen Null“ verteidigt, obwohl Infrastrukturinvestitionen in zigfacher Milliardenhöhe, allein im Bildungsbereich über 30 Mrd €, erforderlich sind. Die SPD hat die Austeritätspolitik der Kanzlerin gegenüber den Südeuropäischen Staaten mitgetragen, obwohl z.B. Griechenland erst durch die Rettung von französischen und deutschen Banken und durch die erfolgte Umschuldung von den privaten Gläubigern zu EZB, ESM und IWF sich den gewaltigen Sparauflagen der Gläubiger unterwerfen musste.

In der ausführlichen Diskussion in Pfaffenhofen wird häufig die politische Kultur verantwortlich gemacht für den desolaten Zustand der SPD:
Willy Brandts Aufforderung, mehr Demokratie zu wagen, hat Gerhard Schröder sein „schnödes Basta“ entgegengestellt. Merkels Wort von der marktfähigen Demokratie haben Sozialdemokraten nicht energisch widersprochen. Beim SPD-Parteikonvent im letzten Jahr, der über die Vorratsdatenspeicherung entschied, ist Delegierten vor der Abstimmung klar gemacht worden, dass es auch um ihre Parteikarriere und die finanzielle Ausstattung ihres Ortsvereins geht.

Zum SPD-Parteitag im Dezember 2015 hatten die Ortsvereine und Unterbezirke 69 Anträge zu TTIP gestellt, die alle kritisch bis eindeutig ablehnend waren. Der Parteitagsregie ist es dann gelungen, daraus einen wachsweichen Leitantrag zu formulieren, der noch hinter die „Roten Linien“ eines Parteitagskonvents vom September 2014 zurückgefallen ist.
Walter Adam, der Sprecher der Initiative „Zeit für die Mutigen“ hat mit seiner spontanen Kandidatur zum Vorsitzenden der bayerischen SPD den amtierenden Vorsitzenden Florian Pronold, der mit der CSU zusammengehen wollte, herausgefordert, über 30% der Stimmen gewonnen und erinnert im Manifest an das Wort von Willy Brandt: „ Es macht keinen Sinn, eine Mehrheit für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“

Wo sind Sozialdemokraten zweifelsfrei erkennbar? In den Talkshows, seien wir uns darüber im Klaren, dass in diesen ein Großteil der politischen Meinungsbildung stattfindet, sind, z.B. gerade bei der Flüchtlingspolitik alternative, humane Ansätze von uns nicht vertreten worden. Wo ist das eindeutige Bekenntnis zu gesicherten Fluchtwegen und zu offenen Grenzen geblieben? War das unser Ziel, die Grenzen zu schließen? Ist auch diese erbarmungslose Abschottungspolitik alternativlos gewesen? Warum gibt es keine linke Positionierung in der Flüchtlingspolitik?
Die Probleme und die Herausforderungen der Flüchtlingspolitik sind doch die gleichen geblieben. Wir haben nicht einen Ansatz von Konzeption für die Folgen der Migration und für den Westeuropa heimsuchenden Terror.
Anstelle dessen überlassen wir den Rechtspopulisten der AfD das Feld. Sie sind gewählt worden mit großer Unterstützung ehemaliger SPD- und Nichtwähler, die sich von uns nicht mehr angesprochen fühlen.

Thomas Fischer, der unerschrockene Bundesrichter schreibt im Stern[3] über den Zustand unserer Gesellschaft:

Soziale Marktwirtschaft bedeutete in gewisser Weise, dass der Staat ein Gemeinwesen ist. Dass er eben keine bloße “Deutschland AG” im Sinne einer Organisation zur Förderung des Finanzkapitals ist. Heute zerfällt unsere Gesellschaft offenkundig und schnell: Da ist eine kleine Gruppe ganz oben. Darunter die sehr große Gruppe, die wir Mittelstand nennen. Und darunter ein Viertel der Bevölkerung, das immer weiter nach unten durchfällt. Menschen, für die wir uns nicht interessieren. Jetzt zerplatzt die Illusion, dass man in diesem Land, einem Rechtsstaat, gemeinsam Solidarität und Gleichheit in einer freiheitlichen Ordnung verwirklichen kann. Jetzt stellt sich heraus: Es war nur leeres Geschwätz.

Wo sind die Mandatsträger in der SPD, diejenigen, die in den Kommunen, im Landtag großartige Arbeit leisten? Wo sind die Jusos? Sie alle werden feststellen müssen, dass ihrer Arbeit die demokratische Legitimation entzogen sein wird, wenn der Absturz der SPD unvermindert weitergeht. All die Themen, die wir hier dezentral im Kreis Dachau forcieren, die Wohnungsbaupolitik, die Asylpolitik, der öffentliche Nahverkehr, die Bürgerbeteiligung, sie sind so wichtig – aber ihnen fehlt der programmatische Unterbau. Ohne ein wirkliches sozialdemokratisches Profil werden sie wirkungslos bleiben, weil uns nicht mehr zugehört wird.
Nicht einmal der Ansatz einer Diskussion ist uns gelungen, um zu fragen, warum uns der Wählerzuspruch abhanden gekommen ist. Das Fehlen sozialdemokratischen Profils mag auch nur ein Erklärungsmuster darstellen. Aber ich habe nirgendwo andere Argumente vernommen, die es wert wären, sie zu vertiefen.

Nehmen wir uns doch ein Beispiel an dem Vorsitzenden der Labour Partei Jeremy Corbyn[4], der vehement die Sparpolitik der konservativen Regierung unter David Cameron kritisiert und große Unterstützung von jungen Parteimitgliedern und Gewerkschaftlern erfahren hat.
Bernie Sanders bewirbt sich in den USA für die Präsidentschaftskandidatur der demokratischen Partei. Über ihn sagt Wikipedia[5]:

Eines der zentralen Themen von Sanders ist die wachsende „Schere“ zwischen Arm und Reich sowie die damit einhergehende Verkleinerung der Mittelschicht, zu deren Bekämpfung er Steuererhöhungen für Reiche sowie eine Steuer auf Börsenspekulation vorschlägt.

Wie halten wir es mit Yanis Varoufakis, dem ehemaligen griechischen Finanzminister, der in einem kleinen Taschenbuch mit dem Titel „Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“ substantielle Vorschläge zur Überwindung der vier europäischen Krisen, der Bankenkrise, der Schuldenkrise, der Investitionskrise und der Sozialen Krise, gemacht hat? Geht es Europa so gut, dass sich niemand damit beschäftigt?

Die DL21, das Forum der demokratischen Linken in der SPD, ruft in einem Positionspapier[6] dazu auf, das Profil zu schärfen, den sozialdemokratischen Aufbruch zu gestalten und u.a. endlich über die wirklichen Fluchtursachen – und das sind nicht die unmenschlichen Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern in Jordanien oder im Libanon – zu reden:

Die Auswirkungen von Kriegen, Konflikten und Krisen treffen immer mehr auch Deutschland. Ihre Ursachen liegen vor allem in wachsenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen Regionen und Staaten sowie innerhalb einzelner Staaten. Weltweit öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich, Schwach und Mächtig immer weiter. Terror, Gewalt, Vertreibung und Flucht sind Symptome der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Krisen.

Die DL21 fordert u.a.:

Die SPD darf ihren Gestaltungswillen als Partei der sozialen Gerechtigkeit nicht aufgeben.
Die SPD darf sich mit der Schuldenbremse und dem Fiskalpakt in der gegenwärtigen Form nicht abfinden, denn beide Verbote wirken in Deutschland und Europa als Bremse für Investitionen.
In der Rentenpolitik muss die SPD die umlagefinanzierte, solidarische gesetzliche Rente (GRV) wieder zur Hauptsäule der Altersvorsorge machen.
Die SPD muss in allen Ländern Europas einen nachhaltigen Wachstumskurs fördern, nicht auf die noch härteren Sparmaßnahmen setzen.
Die SPD muss sich dafür einsetzen, dass eine drastische Reduzierung der geplanten Aufrüstungspläne der Bundesverteidigungsministerin in Höhe von 130 Mrd. Euro bis 2030 vorgenommen wird.

Die ISM, das Institut Solidarische Moderne, versteht sich als Programmwerkstatt, die „über Parteigrenzen hinweg konkrete und durchführbare politische Alternativen zum Neoliberalismus entwickeln“ will.
Unter der Überschrift „Menschenrechte kennen keine Obergrenzen[7]“ werden die Grundsätze einer humanen Asyl- und Flüchtlingspolitik definiert:

Das ISM tritt ein für offene Grenzen, sichere Fluchtwege und ein Angebot an die Menschen, die nach ungeheuerlichen Entbehrungen und Leid Hilfe in Deutschland suchen. Wir stehen auch dafür, dass die Konflikte und die unhaltbaren ökonomischen Zustände in den Herkunftsregionen der Flüchtenden endlich abgeschafft werden.

Sigmar Gabriel hat einen ganz kleiner Schritt getan, als er dem Finanzminister zusätzliche 5 Mrd € abgerungen hat für eine Integrations-, Wohnungsbau- und Bildungspolitik, die allen Menschen im Land zugute kommt.
Ein großer Schritt muss getan werden beim Entwurf des Programms für den Wahlkampf 2017. Wir müssen unsere Kandidaten für die nächste Bundestagswahl überprüfen: Stehen sie für eine Erneuerung des sozialdemokratischen Profis? Wollen sie mehr soziale Gerechtigkeit? Sind sie gegen weitere Privatisierungen? Lehnen sie die Austeritätspolitik im südlichen Europa ab? Sind sie gegen die Schuldenbremse? Sind sie für mehr öffentliche Investitionen? Sind sie für eine humane Flüchtlingspolitik? Wollen sie die umlagefinanzierte Rente stärken? Sind sie dafür, dass Kapital in unserer Gesellschaft wieder höher besteuert wird als Arbeit?

Rudolf Dreßler[8], SPD-Politiker und ehemaliger Diplomat, gilt laut Wikipedia „als klassischer Traditionssozialdemokrat, nicht unbedingt links, sondern pragmatisch, aber eisern in der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen.“ Er sagt in Monitor[9]:

Die SPD muss sich jetzt entscheiden, was sie will. Welche Art von Partei sie denn im Angebot sein will. Die, die sie mal war, sozialdemokratische Volkspartei oder irgendetwas im neoliberalen Sektor. Und diese Entscheidung steht aus. Sie hat in den letzten Jahre es nicht fertiggebracht, eine programmatische, inhaltliche Diskussion zu führen, die dieses klärt. Und das ist der Punkt, den sie jetzt klären muss. Wenn sie das wieder nicht schafft, wird 2017 verheerend.

Worauf warten wir noch? Ich schreibe diese Zeilen, weil ich mir sicher bin, ohne die SPD wird ein Aussteigen aus dem Neoliberalismus, aus der Privatisierung, aus den Waffenexporten in Krisengebiete und ein Einstieg in mehr Gerechtigkeit, in eine humane Flüchtlingspolitik, in eine zukunftssichere Gestaltung unserer Infrastruktur und eine friedenssichernde Außenpolitik nicht gelingen.

Bildquelle: metropolico.org[10] / CC BY-SA 2.0 [1]

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Endnotes:
  1. [Image]: https://c2.staticflickr.com/4/3894/15122027170_00f9066e01_b.jpg
  2. Zeit für die Mutigen: http://andiemutigen.de/
  3. Stern: http://mobil.stern.de/politik/deutschland/thomas-fischer--die-menschen-fuehlen-sich-zu-recht-verraten-6717930.html
  4. Jeremy Corbyn: http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/grossbritannien-labour-party-jeremy-corbyn-neuer-parteichef
  5. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bernie_Sanders
  6. Positionspapier: http://forum-dl21.de/positionspapier-profil-schaerfen-sozialdemokratischen-aufbruch-gestalten/
  7. Menschenrechte kennen keine Obergrenzen: https://www.solidarische-moderne.de/de/article/455.menschenrechte-kennen-keine-obergrenzen.html
  8. Rudolf Dreßler: https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Dre%C3%9Fler
  9. Monitor: http://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-monitor-interview-mit-rudolf-dressler-spd-100.html
  10. metropolico.org: https://www.flickr.com/photos/95213174@N08/albums/72157641105631135
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