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Köln Hauptbahnhof, Silvester 2015

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Bild: i.sabah.de

Am Silvesterabend 2015 ist es in Köln am Hauptbahnhof zu schweren Ausschreitungen gekommen. Frauen sind mehrfach von jungen Männern, die als arabisch und nordafrikanisch aussehend bezeichnet wurden, sexuell belästigt und beraubt worden. Angeblich waren auch Flüchtlinge unter den Tätern. Die überforderte Polizei konnte kaum eingreifen und den Frauen Schutz bieten. In den Medien sind diese Ereignisse als neue Dimension des Rassismus gewertet worden.


Nachstehend einige Einschätzungen der Mitglieder unserer Münchner NachDenkerGruppe:

Thomas sagt, dass sich für ihn der Umgang mit seinen Arbeitskollegen seit den Ereignissen in Köln geändert hat, er schreibt:

Ich habe große Probleme und brauche Hilfe. Mir macht dieser (gefühlte) Rechtsruck unserer Gesellschaft (in meinem Alltag) sehr zu schaffen und ich kann mich ganz schwer dagegen abgrenzen….
Ganz konkret: ich habe zwei Kollegen, Jan und Steffen. Jan ist in meinen Augen ein Rassist, das sieht Steffen auch so, bisher. Jan ist mit Stürzenberger befreundet und mit Jans Kommentaren hab ich große Probleme. Mal gelingt es mir dagegen zu halten, mal Argumente zu setzen, mal nicht emotional zu werden und mal nicht… So weit so “normal”. Mit Steffen hatte ich einen Kollegen, der gefühlt auf “meiner” Wellenlänge lag. Faktisch war er wohl eher zwischen mir und Jan angesiedelt.
Seit gestern weiß ich, dass sich für Steffen nach den Ereignissen von Köln alles geändert hat… Ich habe argumentiert, gemacht und getan, aber ich fürchte, er ist auch “verloren”, wie viele dieser Tage…
Wären es Freunde, ich würde sie aussortieren. Aber es sind Kollegen, ich arbeite mit ihnen zusammen, bin zum Teil auf sie angewiesen, bin opportun…
Damit tue ich mich sehr schwer. Vielleicht machen wir den Umgang im Alltag mit dem Rechtsruck bei einem Treffen mal zum Thema… Denn wenn der nicht funktioniert, dann klappt alles andere was wir durchdenken und uns vornehmen auch nicht.

Ludger stellt fest, dass er auch diesen Rechtsruck fühlt und dass die Polizei bei derartigen Vorfällen überfordert ist:

Warum rutscht in einer derartigen Situation (Flüchtlinge, Terrorismus, Krawalle, Mob-Phänomene wie in Köln, aber auch anderswo) die politische Landschaft so dramatisch nach rechts? Warum sehen wir plötzlich diese Exzesse, auch von Migranten und Flüchtlingen? Möglicherweise ist da einiges verschwiegen worden, wenn man so eine der letzten Seiten Drei der SZ liest, dann sind die Zustände rund um den Kölner Hauptbahnhof schon seit geraumer Zeit skandalös, wörtlich “das größte Pissoir” der Republik – hier haben sich Verantwortliche weggeduckt. Und die Kürzungen bei der Polizei (schwacher Staat, Privatisierung) wirken sich nun auch aus, nachdem auch andere Aufgaben massiv Kräfte abgezogen haben.
Gestern war ich auf einem Treffen des SPD-Unterbezirks hier im Kreis Dachau und wir haben vier Stunden lang die aktuellen bundespolitischen und lokalen Themen beackert – mit einer durchgehenden Tendenz, dass wir im Rechtsruck keineswegs nachgeben dürfen und auf der sozialdemokratischen Seite standhaft bleiben müssen, z.B. beim in Frage gestellten Familiennachzug. Widerspruch kommt dann immer von den “Praktikern”, z.B. von den Bürgermeistern – ja es gibt hier SPD-Bürgermeister – die Sanktionen gegenüber Flüchtlingen fordern. Wer die Ereignisse in Dachau und in Karlsfeld verfolgt hat, braucht sich wohl um Sanktionen keine Gedanken zu machen, die werden automatisch kommen, wenn Traglufthallen – ohne Frischluft und ohne Tageslicht – als Flüchtlingsquartiere herangezogen werden, dann sind Krawalle doch unvermeidlich und die Aggressionen machen sich auch woanders Luft.
Andererseits ist das, was jetzt passiert – die Exzesse werden thematisiert, weil auch Migranten und Flüchtlinge dabei waren – Wasser auf die Mühlen der schweigenden Mehrheit, die immer gesagt, gedacht hat, das geht nicht gut mit den Flüchtlingen und es wird Zeit, dass die “Gutmenschen” aufhören mit ihrer Willkommenskultur. Jetzt haben diese Leute ein Ventil und möchten wohl am allerliebsten bei Pegida mitlaufen. “Warum integrieren wir eigentlich?” fragte mich ein Freund unlängst. “Die Menschen müssen eines Tages wieder zurückgehen.” Und ein anderer hat mir gesagt, “ich werde jetzt AfD wählen”. Und meine Gegenfrage “Was soll das bringen?” brachte nur ein Achselzucken hervor. Ja – es herrscht Ratlosigkeit.
Da ist es umso schwieriger, wirkliche Integration, z.B. dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge zu betreiben, weil das wiederum als “Gutmenschen-Willkommens-Aktionen” verschrien wird und andererseits natürlich klar ist, dass die katastrophale Unterbringung Gewalt provoziert.

Ja – es heißt in diesen Tagen, verdammt standhaft zu sein – und dazu gehört natürlich auch vollständige Aufklärung und Bestrafung der Täter, aber auch bitte erst die Überprüfung, ob die bestehenden Gesetze ausreichen.

Christa fühlt sich ziemlich hilflos und fordert neue Gedanken und Utopien für Europa und die erforderliche Integration der Flüchtlinge. Sie sagt:

Dass es nach wie vor viele Unterstützer der Flüchtlinge gibt, ist richtig – aber sie werden in Zukunft sicher viel moralische und politische Rückendeckung brauchen. Ich fühle mich derzeit angesichts der Nachrichten aus Köln, Syrien usw. ziemlich hilflos, glaube aber auch, dass wir uns um neue Ideen/ Utopien Gedanken machen müssen. Im Alltag bin ich eher dabei die Vorwürfe von Links und Rechts bezüglich der Ereignisse von Köln immer wieder auf die entscheidenden Punkte zurückzuführen – eine Äußerung wie die von Jakob Augstein, der von „ein paar Grapschern“ spricht, ist dabei ärgerlich und macht eine Diskussion über die Hintergründe nur schwieriger. Auch davon sollten wir uns distanzieren.

Ingeborg fragt, ob es eine Kooperation gibt, die sich gegen Frauen richtet?

Für mich liegt der Hauptakzent auf der sexistischen Seite – diese Seite anzusprechen konzentriert die Diskussion auf ein sowohl aus auch, nämlich den Sexismus in unserer und der arabischen und afrikanischen Kultur.
Was mich aber besonders bewegt, ist die Frage, warum die Polizei nicht eingriff und die Unterstützungsangebote der Landeszentrale für polizeiliche Dienste nicht annahm, obwohl – wie zu hören ist – die Beamten sogar tödliche Angriffe befürchteten. Warum bringt die Polizei es fertig, Anzeigen von Frauen zu unterdrücken? Herrscht hier ein korporativer Sexismus?

Werner differenziert, er thematisiert den polizeilichen Einsatz, die sexuell motivierten Übergriffe und die politische Dimension:

Was den polizeilichen Einsatz betrifft: Im Bahnhof selbst ist die Bundespolizei zuständig, außerhalb des Bahnhofs ist es die Landespolizei. Die Koordination zwischen beiden Seiten hat offensichtlich nicht funktioniert. Die Polizei außerhalb des Bahnhofs war wohl total unterbesetzt. Nur sie hätte die Übergriffe verhindern können oder die Bundespolizei hätte die aussteigenden Fahrgäste unter Polizeischutz stellen müssen bis genügend Polizeikräfte vor Ort sind. Warum nicht nach der sich abzeichnenden Eskalation unmittelbar ein oder zwei Hundertschaften der Bereitschaftspolizei an Ort und Stelle waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Frage, die sich stellt, wurden diese Einheiten von der Polizei vor Ort angefordert. Wenn ja, warum passierte nichts?

Zum Thema sexuell motivierter Übergriffe: Wenn eine Horde junger Männer gleich welcher Nationalität sich zusammenrottet, womöglich einzelne unter Alkohol stehen, kommt es zwangsläufig zu sexuellen Übergriffen, weil sich die Gruppenmitglieder untereinander aufstacheln. Die Psychologen nennen dieses Phänomen Gruppendynamik.
Im Gegenzug ist es dann schwer, einen einzelnen Schuldigen zu identifizieren. Das wissen die Täter auch und werden dadurch noch enthemmter.
Offensichtlich ist es so, dass auch sonstige kriminelle Handlungen (z.B. Diebstahl) begangen wurden. Hierzu bedarf es eines gewissen Organisationsgrades innerhalb der Täterschaft. Es haben sich wohl schon kriminelle Banden gebildet. Es stellt sich die Frage, ob hier eine Testphase innerhalb der kriminellen Gruppierungen unter den Migranten gefahren wurde und zwar dahingehend, ob die Polizei in der Lage ist, derartige Menschenansammlungen wirksam kontrollieren zu können. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch in Hamburg und Stuttgart ein vergleichbares Szenario vorlag.

Die politische Dimension: Zunächst einmal ist das Szenario in Köln, Hamburg und Stuttgart Wasser auf die Mühlen der rechten Szene und deren politischem Arm, der AfD.
Entscheidend für die politische Stimmung im Land sind nicht die Flüchtlingshelfer auf der einen Seite bzw. der rechte Mob auf der anderen Seite. Entscheidend ist die schweigende Mehrheit, die sich weder an einer Demo beteiligt noch öffentlich Stellung bezieht. Diese schweigende Mehrheit hat schön längst eine innere Abwehrhaltung zu der Flüchtlingsthematik eingenommen. Das wurde nur bislang von den Leitmedien ignoriert. Die Frage, die sich stellt, ist warum? Die Stimmung in der Bevölkerung ist im Übrigen schon länger gekippt. Aus einer wohl wollenden Haltung zu Anfang wurde Skepsis und ist aktuell bei offener bzw. verdeckter Ablehnung angelangt. Wir dürfen z.B. nicht übersehen, dass gerade in den Unterschichten enorme Abstiegsängste bestehen. Es gibt kaum bezahlbare Wohnungen an den Standorten, wo Arbeitsplätze vorhanden sind und im Niedriglohnbereich werden die Migranten in Konkurrenz zu den dort Beschäftigten treten. Auf der anderen Seite kassiert ein Immobilieneigentümer im Durchschnitt € 300 je Flüchtling und Monat. In Einfamilienhäuser werden bis zu 15 Personen untergebracht – darunter nicht selten allesamt junge Männer – ohne vorher die Nachbarschaft zu informieren. Das generiert Unmut auch beim so genannten Normalbürger und treibt die Betroffenen zur AfD.

Die AfD wird nun die Karte spielen, dass der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger zu schützen. In März dieses Jahres stehen 3 Landtagswahlen (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt) an. Man muss kein großer Prophet sein, um vorherzusagen, dass die AfD bei allen 3 Wahlen über 10% kommen wird. Wir nähern uns französischen Verhältnissen an. Die große Koalition wird also weiter unter Druck geraten. Die Folge wird eine verschärfte Gesetzgebung sein, verbunden mit einer massiven Einschränkung unserer Freiheits- und Bürgerrechte.
Die AfD wird dennoch bei allen etablierten Parteien Stimmen abgraben, in erster Linie aber bei der CDU, weil Bundeskanzlerin Merkel dort eine Reizfigur ist. Merkel ist innerparteilich stark angezählt und kann sich nur dadurch halten, dass sie sich auf ihre Gegner Schritt für Schritt zubewegt und es zu ihr auf bundespolitischer Ebene keine Alternative gibt. Intern wurde der Umsturz mit Schäuble als Bundeskanzler längst anvisiert. Nur Schäuble will nicht, aus welchen Gründen auch immer. In dem Moment, wo die Umfrageergebnisse für die CDU massiv in den Keller gehen, wird Merkel entmachtet, so oder so.
Ein bisschen frage ich mich schon, warum gerade in linksintellektuellen Kreisen die Meinung vorherrscht, dass die Entwicklungen in Ungarn, Polen und partiell auch in Frankreich nicht auch in Deutschland möglich sein sollen. Diese Ignoranz wird beispielsweise der Linkspartei noch auf die Füße fallen.
Es ist die Zeit der Populisten, Hetzer und Angstmacher, weil die andere Seite deren Wirkungsgrad herunterspielt bzw. gar nicht zur Kenntnis nimmt. Wenn man sich zu lange mit sich selbst beschäftigt, verliert man allzu gerne den Blick für die Realität.

Werner bezweifelt aber, dass es einen Rechtsruck gibt:

Der Rechtsruck, den ihr gefühlt oder real beschreibt, ist in Wirklichkeit keiner. Eine rechte Gesinnung, sehr oft verbunden mit rassistischen Elementen, war schon immer existent, Rund 25% (vielleicht auch mehr) der Bevölkerung sind offen oder verdeckt für rechtes Gedankengut empfänglich.
Was jetzt zu beobachten ist, ist lediglich der Umstand, dass diese Grundeinstellung ein Ventil gefunden hat und zwar die Flüchtlinge. Nicht umsonst haben die Nazis sich die Juden auserkoren und sie als Sündenböcke für alles Schlechte in der Welt stigmatisiert. Rechte Gesinnung braucht einen Sündenbock, um davon abzulenken, dass man selbst inhaltlich nichts zu bieten hat.

Maike schildert leidvolle Erfahrungen, die sie als Frau erlebt hat. Sie sagt, die Männer kümmern sich zu wenig um den Schutz der Frauen:

Als junge Frau war ich genau wie die Frauen in Köln von dem Phänomen (sehr) häufiges Opfer sexueller Belästigung durch muslimische Männer, deren Geschmack ich offensichtlich entsprach (angeblich sah ich einer Bollywood-Schönheit irgendwie ähnlich). Mein Eindruck war: Für die ist Deutschland ein großer Freizeitpark mit frei verfügbarem Freiwild. Besonders schlimm war das in der Gegend um den Hauptbahnhof, da habe ich mich zeitweise gar nicht mehr hingetraut. Dort gab es auch diese Grüppchen wie in Köln, die dann einen Kreis um die Frau bilden….
Anmache und Begrapschen gab es aber auch im öffentlichen Nahverkehr (ich wurde durch den ganzen Zug verfolgt, schweinisch beglotzt, einmal hat einer sogar vor mir onaniert), in bestimmten Stadtvierteln, und überall wo es Baustellen gibt.
Am Hauptbahnhof habe ich schließlich durch die dortige (sehr nette) Polizei Hilfe bekommen. Mir wurde aber auch gesagt, rechtliche Handhabe hätte ich keine, denn Beleidigungen, den Weg versperren und Begrapschen sei völlig legal. Daher ist auch der Handlungsspielraum der Polizei sehr begrenzt. Aber wenn ich um Hilfe schreie, würden sie herbeieilen und ihr möglichstes tun. Das hat auch geholfen, bald standen da keine Männer-Grüppchen mehr, und Anmache erlebte ich am Hauptbahnof nur noch selten.
Leider gibt es nicht überall in München soviel Polizei.

Dieses rechtliche Problem besteht mit Sicherheit immer noch, und wird von den Medien geflissentlich ignoriert.

Dabei ist genau das entscheidend: DIESE GESETZESLAGE MUSS SICH UNBEDINGT ÄNDERN! Erst dann haben Frauen die Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen.

Auch von der Gesellschaft brauchen die betroffenen Frauen/Mädchen mehr Unterstützung. Wenn ich dieses Problem im (nicht betroffenen) Bekanntenkreis ansprach, kam häufig die Antwort, das seien seltene Einzelfälle (kommt das hier jemandem bekannt vor?), und sowieso nicht schlimm, da solle ich mich mal nicht so haben. Als Frau muss man mit so was auch mal umgehen können. Wenn man erzählt, wie belastend man das findet, ist man halt nicht belastbar genug, und damit sowieso unten durch in dieser Gesellschaft.
Ganz schnell wurde man schon damals in die rechte Ecke gestellt, sobald man sich über muslimische Ausländer, und deren Macho-Verhalten kritisch äußert.(passiert jetzt bestimmt auch, aber jetzt möchte ich den Mund nicht mehr halten) Heute ist das sicher noch extremer geworden.

Nachdem es in Köln so viele Frauen betraf, und außerdem viel gestohlen wurde (und das ist als Problem immerhin allgemein gesellschaftlich anerkannt), hat es das Thema der sexuellen Belästigung nun doch mal in die Zeitung geschafft.

Leider wurde auch hier von verschiedenen Seiten versucht, das tatsächliche Ausmaß des Leidens der betroffenen Frauen zu verharmlosen. Die rechtliche Lage und der Handlungsspielraum der Polizei wird falsch dargestellt. Weiterhin wird gerne heruntergespielt, wie hoch der Anteil an muslimischen Männern ist, und dass die Probleme keineswegs neu sind.

Auch hier bei den Nachdenkseiten-Mails ist weniger die Diskriminierung und Schutz von Frauen ein Thema, als vielmehr Pegida und das übliche “Aber wir stehen auf der richtigen Seite”-Gedöns.
Sicher alles wichtig, aber sollten im Zusammenhang mit Köln nicht die Opfer im Vordergrund der Diskussion stehen?

Warum ist die sexuelle Diskriminierung von Frauen ein solches Tabuthema, dass es selbst jetzt noch unbedingt vermieden werden muss – selbst angesichts derart krasser Ereignisse?

Daniela macht sich Gedanken, inwieweit die Problematik des Frauenbilds muslimischer Männer in unserer Gesellschaft von der linken Seite des politischen Spektrum so wenig thematisiert wird.

Offensichtlich ist es schwierig, “links” zu sein und sich gleichzeitig kritisch zu dem Frauenbild muslimischer Männer zu äußern. Ich glaube, eine Diskussion darüber, dass mit den vielen Flüchtlingen auch viele Männer mit einem herabwürdigenden Frauenbild ins Land kommen, wäre dringend notwendig – gerade bei den Linken (nicht nur der Partei). Jakob Augstein hat die Haltung vieler Linker mit seinem Twitterkommentar auf die Spitze getrieben. Dass er mit dem Thema so umgeht, disqualifiziert ihn meines Erachtens in dieser Frage. Aber Tatsache ist, dass diese Problematik von vielen Linken schlichtweg verdrängt oder nicht gesehen (oder was auch immer …) wird.
Nun werden vielfach die Auswüchse des Oktoberfests zitiert, und ohne bayerischer Bierseligkeit, die “halt mal” zu Übergriffen führt, auch nur im Geringsten das Wort zu reden – was da in Köln und anderswo passiert ist, hat, wie ich finde, schon noch einmal eine andere, schlimmere Qualität.
Zu sagen: “Ja, wir wollen und werden Flüchtlingen helfen, die so Schlimmes erlebt und alles verloren haben – und trotzdem kommen da massive Probleme auf uns zu!” sollte nicht nur möglich sein, sondern auch aktiv in die Gesellschaft hineingetragen werden, dann würden sich verunsicherte Menschen vielleicht (!) weniger ausschließlich bei der politischen Rechten aufgehoben fühlen.
Vor drei Jahren war ich für zwei Wochen in Indien. Zurück auf dem Münchner Flughafen – und übrigens zuvor schon beim Zwischenstopp in Dubai, wo in den Zeitschriftenläden all diese Lifestyle-Magazine der westlichen Welt herumlagen – hatte ich gelinde gesagt einen Kulturschock. Was für eine dekadente Gesellschaft, was für ein schreckliches Frauenbild, das wir da selbst produzieren! Und was für eine übersexualisierte Gesellschaft! Man kann nur erahnen, wie es Menschen aus anderen Ländern und Kulturen (nicht nur muslimischen) geht, wenn sie zu uns kommen. Selbstverständlich soll das gar nichts rechtfertigen. Man denke auch an die Frauen aus diesen Ländern und an die Männer, die keine sexuellen Übergriffe im Sinn haben. Für die ist das ja genauso schlimm. Auch etwas, worüber unsere Gesellschaft mal selbstkritisch nachdenken sollte.

Andreas verweist darauf, dass unsere Gesellschaften, die westliche und die muslimische, von Gewalt geprägt sind:

Maike, dein Erfahrungsbericht ist eindrücklich. Und ich spüre darin die Ohnmacht, die du offensichtlich gehabt haben musst. Sexuelle Gewalt gegen Frauen (und gegen Kinder) ist auch in unserer Gesellschaft – leider – Alltag und wird immer noch viel zu stark tabuisiert. Der Unterschied ist wohl der, dass “westliche”, “christliche” Männer dies weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit tun ( -> Sexueller Missbrauch, Vergewaltigung in der Ehe etc.) und zusätzlich Gewalt androhen, um Stillschweigen zu erhalten. Deshalb funktioniert es so einfach, jetzt die Vorfälle aus Köln, Hamburg und Stuttgart hochzupushen. Die Täter dort haben es in der Öffentlichkeit getan, das machen “wir” aber nicht. Insofern, bei aller Verwerflichkeit der Taten (ich will auch gar nichts relativieren), liegt daran ein Bruch mit unserer verlogenen Kultur.
Unsere Gesellschaften – sowohl im entwickelten Kapitalismus hier im “globalen Norden” als auch in der islamischen Welt – sind geprägt von Gewalt, nur haben wir nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs nach und nach zivilere Umgangsformen entwickelt, einige Rechte sind erkämpft und durchgesetzt worden. Allerdings erodiert das Zivile schon seit Langem, ob man Rostock-Lichtenhagen Anfang der 1990er oder jetzt die vielen Brandanschläge nennen soll.
Da auch wir in gewalttätigen Gesellschaften (Armut, Hartz IV, Perspektivlosigkeit etc) leben, gibt es offenbar viele Männer, die ihre körperliche Überlegenheit schamlos ausnutzen. Eine grundsätzliche Änderung wird kaum gelingen, wenn wir uns nicht mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verfasstheit als solches beschäftigen. Vieles hängt mit den Veränderungen im Zuge der Agenda 2010 zusammen. Insofern Widerspruch zu Werner, der von einer konstanten Quote von rund 25% spricht, die für rechtes Gedankengut empfänglich sind. Die Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche durch eine falsche, an den Interessen der Eliten ausgerichteten Politik führt auch zu mehr Ressentiments in Teilen der Bevölkerung ( ->Studie “Gruppenbezogene Menschlichkeit” bzw. der FES). Auf Dauer ist der Widerspruch zwischen der Demütigung von Hartz-IV-EmpfängerInnen oder der Verarmung des griechischen Volkes nicht kompatibel mit einer toleranten Flüchtlingspolitik. “Wer nicht arbeitet, soll nichts essen” steht im Widerspruch dazu, dass Asylbewerber Leistungen bekommen, nur weil sie da sind. Dazu passt die jetzige Diskussion, Sozialleistungen für EU-Ausländer einzuschränken.
In etwa die Hälfte der Flüchtlinge bekommt keine Aufenthaltserlaubnis, sie sind nur geduldet. Da oft tatsächliche Abschiebehindernisse vorliegen (Identität, Nationalität), können sie auch nicht ausreisen. Sie leben in der Regel in Unterkünften, haben weniger Geld als Hartz-IV-EmpfängerInnen und bekommen nur in Ausnahmefällen eine Arbeitserlaubnis. Die Politik schafft also geradezu ideale Bedingungen, dass Ghettos entstehen, eine Integration bei dieser Gruppe ist ja geradezu nicht gewünscht.

Barbara vermisst ein Konzept für die Integration, über Willkommenskultur und wirtschaftliche Interessen hinausgehend:

Tatsächlich halte ich es für ungemein naiv zu glauben, dass man Menschen, die in einer für unsere Begriffe sexistischen, homophoben und auch sonst in vielerlei Hinsicht (Religionsausübung, Familienstrukturen) völlig anders gearteten Kultur sozialisiert worden sind, schnell und gründlich in unsere libertine, laizistische, individualisierte Gesellschaft integrieren kann. Vielleicht geht man davon aus, dass die Menschen, einmal in Deutschland, Kopftuch und Konventionen erleichtert abwerfen und begeistert den westlichen Lebensstil annehmen. Das halte ich für einen großen Irrtum. Wir neigen immer dazu, unsere Lebensweise absolut zu setzen, als notwendiges Ergebnis einer Entwicklung, die andere noch nicht erreicht haben, aber eigentlich anstreben. Nach meinen Erfahrungen mit muslimischen Araber/innen wage ich das sehr zu bezweifeln. Ich habe in Nordafrika – wohlgemerkt unter gebildeten und relativ europäisierten Menschen – generell eine tiefe Verachtung gegenüber dem westlichen Lebensstil wahrgenommen. Am deutlichsten natürlich im Bereich der Sexualmoral. Ich bezweifle, dass man Menschen, Männern wie Frauen, mit einer solchen Sozialisation mal so nebenbei in einem Integrationskurs beibringen kann, dass die Sorte Frau, die sie bisher als Nutte zutiefst verachtet haben, bei uns als emanzipierte und selbstbestimmte Frau das Idealbild darstellt. Wir selbst würden auch nicht nach einem Zweiwochenkurs unser bisheriges Weltbild umkrempeln. Nebenbei bemerkt erscheint es mir eigentlich auch nicht fair, einen Kriegsflüchtling einfach mal zwangszuintegrieren, damit es bei uns mit der Demographie wieder stimmt, es genügend billige Arbeitskräfte gibt und alles ein bisschen bunter wird. Aber das ist eine andere Geschichte.
Unter diesem Aspekt frage ich mich immer mehr, wie das neue bunte Deutschland nun konkret aussehen soll und wie der Widerspruch aufgelöst werden soll, dass wahrscheinlich eine Vielzahl von Flüchtlingen gerade die Werte, die ihren engagiertesten Befürwortern so wichtig sind, kaum teilen bzw. sogar dezidiert ablehnen (hier wäre auch noch ein verbreiteter Antijudaismus zu nennen; was ich von Arabern über Juden gehört habe, wäre in Deutschland z.T. justitiabel). Ich frage mich auch, warum das nirgendwo thematisiert wird. Wo gibt es Beispiele für gelungene Integration großer Gruppen von Muslimen in westliche Gesellschaften? Was können wir aus der türkischen Einwanderung nach Deutschland lernen? Inwiefern ist wirklich die gewünschte Vermischung anstelle von Parallelgesellschaften zu erwarten? Ich lese z.B. kaum etwas zu den durchaus massiven Problemen der türkischstämmigen Frauen, die zwischen den unterschiedlichen Kulturen zerrissen werden, ohne dass da eine generelle Annäherung in Sicht wäre – eher im Gegenteil.
Und zur Situation der Frauen hier: Ich habe schon vor Köln Klagen von jungen Frauen über zunehmende aufdringliche Anmache durch Ausländer gehört. Seitdem hat das natürlich noch eine andere Qualität gewonnen, weil die alte Grundannahme, dass man unter Menschen sicher vor Angriffen ist, nicht mehr gilt. Ein diesbezügliches Vertrauen wird sich nur sehr schwer wieder herstellen lassen. Vielleicht haben wir das Privileg, uns als Frauen anders als in vielen anderen, nicht nur muslimischen Ländern völlig frei im öffentlichen Raum bewegen zu können, als zu selbstverständlich hingenommen. Man wird abwarten müssen.
Dass die Gesellschaft über diese Vorfälle nun noch weiter gespalten wird, weil nun auch noch Flüchtlingsunterstützer/innen und Feminist/innen gegeneinander aufgebracht wurden, macht auch nicht gerade Hoffnung.
Übrigens habe ich natürlich nichts dagegen, dass Flüchtlingen, die ja zudem im Normalfall aus von “uns” destabilisierten und/oder wirtschaftlich ruinierten Ländern stammen, geholfen wird. Ich sehe da nur bisher keine brauchbaren Konzepte. Mit punktueller Mildtätigkeit in einer unangenehmen Kombination mit Profitgier (die deutsche Wirtschaft ist ja begeistert) wird man dieses Massenproblem nicht nachhaltig lösen können.

Was folgt aus diesen Antworten, die bei Frauen und Männern so unterschiedlich sind? Die Männer sprechen über Rassismus am Arbeitsplatz, über den gesellschaftlichen Rechtsruck und die soziale Situation. Die Frauen sehen eher die kulturelle Seite, welche Unterschiede gibt es wirklich zwischen der arabischen, muslimisch geprägten Welt und unserer Zivilisation? Einen Kritikpunkt finde ich besonders bemerkenswert: Die “Linken” betonen zu sehr die soziale Dimension, aber Integration ist viel mehr als “nur” die Sprache und der Arbeitsplatz. Stehen wir wirklich auf der richtigen Seite?

Endnotes:
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