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Im ersten Beitrag[2] über Thomas Pikettys Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert[3]“ ist herausgestellt worden, welch wesentlicher Bestandteil der Sozialstaat in einer modernen und entwickelten Gesellschaft darstellt, um durch ein effizientes Steuersystem die notwendigen Ausgaben für Infrastruktur, Bildung und Gesundheit zu finanzieren.
Kapitel 14 in Piketty’s Buch ist überschrieben mit „Die progressive Einkommensteuer überdenken“.
Piketty nennt zwei große „fiskalische Neuerungen des 20. Jahrhunderts“, einmal die progressive Einkommensteuer, die aber „heute ernsthaft bedroht ist“, weil es den Steuerwettbewerb der Länder gebe und weil sie nicht vernünftig durchdacht sei, und zweitens die progressive Erbschafts- und Schenkungssteuer.
Der Autor stellt fest, die häufig kleinen europäischen Staaten hätten heute ein Minimum an steuerpolitischer Koordination zustande gebracht, während es in den Vereinigten Staaten und Großbritannien seit den 1970er Jahren eine große Senkung der ehemals vorhandenen Progression der Einkommenssteuer gegeben hat.
Für Europa bringt er das Beispiel Frankreich im Jahre 2010:
Die Gesamtbelastung der Pflichtabgaben auf Einkommen und Vermögen hat 47% betragen. Davon haben die 50% mit den geringsten Einkommen 40% – 45% der Abgaben getragen, ca. 45% – 50% haben die nächsten 40% der Einkommens- und Vermögensbesitzer gezahlt. Die Belastung sinkt allerdings für die 5% mit dem höchsten Einkommen und vor allem für die reichsten 1% ständig und liegt für die wohlhabendsten 0,1% heute gerade bei 35%.
Gründe sind die Höhe der Verbrauchssteuern und Sozialabgaben (gleich drei Viertel der Abgaben in Frankreich), die leichte Progressivität für die mittleren Einkommen und die wachsende Bedeutung der Kapitaleinkommen, die in weitem Umfang nicht progressiv besteuert werden.
Wenn man berücksichtigt, dass ererbtes Vermögen von wachsender Bedeutung ist, dieses Vermögen aber tatsächlich überall sehr viel weniger stark belastet ist als die Einkommen, dann wird deutlich, dass die Kurve der Belastung an der Spitze noch regressiver ist als unter ausschließlicher Heranziehung der Einkommenssteuer.
Für Piketty gilt, dass die progressive Steuer nicht nur ein „konstitutives Moment des Sozialstaats“ ist, sondern dass „sie eine zentrale Rolle für seinen Fortbestand im 21. Jahrhundert spielt“. Da sie in den meisten Ländern stets nur in Notlagen und in Kriegssituationen erhoben wurde, ist sie nie ausreichend erörtert und begründet worden. Sie ist umso mehr gefährdet, weil es der Steuerwettbewerb ganzen Einkommenskategorien erlaubt, sich ihr zu entziehen. Damit ist sein Fazit deutlich: Die progressive Steuer und der Sozialstaat sind intellektuell und politisch stark gefährdet.
Piketty schildert die Entwicklung der progressiven Einkommenssteuer.
In Preußen liegt zwischen 1891 und 1914 der Spitzensteuersatz bei konstant 3%, er steigt auf 4% von 1915 bis 1918 und wird um 1919/20 radikal erhöht auf 40%.
In den USA wird der Spitzensatz 1918/19 auf 67%, später sogar auf 77% erhöht.
In Großbritannien lag er 1909 bei 8% und erreicht am Ende des Krieges 40%.
Bis zum ersten Weltkrieg galt in allen Industrieländern die Überzeugung, dass ein angemessener Steuersatz nicht über 10% liegen dürfte.
Zwischen den beiden Weltkriegen hat es in allen Ländern sehr hohe Spitzensteuersätze gegeben, vornweg die USA, die Sätze zwischen 70% und 80% hatten. Auch wenn diese Sätze nicht geeignet sind, wirklich große Steuereinnahmen zu generieren, veranlassen sie Piketty zu einer grundlegenden Argumentation:
„Die progressive Steuer ist daher eine relativ liberale Methode des Abbaus von Ungleichheiten, eine Einrichtung, die den freien Wettbewerb und das Privateigentum respektiert. Sie modifiziert private Anreize in einer mitunter radikalen Weise, aber sie tut dies nach vorhersehbaren Regeln, die im rechtsstaatlichen Rahmen im Voraus festgelegt und demokratisch ausgehandelt werden. In gewisser Weise stellt die progressive Steuer einen idealen Kompromiss zwischen sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit her. Es ist darum kein Zufall, wenn die angelsächsischen Länder, die in ihrer Geschichte den individuellen Freiheiten besonders verpflichtet waren, im 20. Jahrhundert die Steuerprogression am weitesten vorangetrieben haben.“
In den USA gibt es 1942 den Victory Tax Act, der Spitzensteuersatz steigt auf 88% und bis 1944 auf 94%. Er liegt in den 1960er Jahren bei 90%, danach bei 70% bis zur Mitte der 1980er Jahre:
„Insgesamt liegt zwischen 1932 und 1980, also fast ein halbes Jahrhundert lang, der Spitzensatz der bundesweiten Einkommensteuer in den Vereinigten Staaten durchschnittlich bei 81%.“
Frankreich und Deutschland dagegen haben seit den 1940er Jahren Spitzensätze, die zwischen 50% und 70 % liegen, aber nie auf 80% oder 90% steigen.
Eine hohe Progressivität zeigt sich in den angelsächsischen Ländern bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer. In den USA liegt der höchste Steuersatz von den 1930er bis in die 1980er Jahre zwischen 70% und 80%. In Frankreich und Deutschland ist er nie über 30% bis 40% gestiegen.
Rekordwerte gab es in Großbritannien bei der Einkommenssteuer: 98% für die höchsten Einkommen während der 1940er Jahre und auch in den 1970er Jahren.
Aber auch in Deutschland betrug der Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer 90%, und zwar zwischen 1947 und 1949, als er von den alliierten Besatzungsmächten bestimmt wurde. Als Deutschland 1950 seine Fiskalsouveränität wiedererlangt, fällt der Spitzensteuersatz binnen weniger Jahre auf kaum über 50%.
Eine durchgreifende Änderung der Steuergesetzgebung in den USA und in Großbritannien findet statt zwischen 1980 und 2010: Die amerikanischen und britischen Höchststeuersätze sinken – von 80% bis 90% zwischen 1930 und 1980 – auf 30% bis 40%.
Piketty sagt: „Die angelsächsischen Länder haben mit ihren Reichen seit den 1930er Jahren Jojo gespielt.“
In der Gesamtheit der Industrienationen ist dann ein Zusammenhang festzustellen, der eindeutig ist: Von den 1970er bis in die 2000er Jahre ist das Sinken des Spitzensteuersatzes eng verknüpft mit dem Anstieg des Anteils des obersten Perzentils der Bevölkerung am Nationaleinkommen. Piketty bezeichnet dieses als eine „fast perfekte Korrelation“:
„Die Länder, die ihren Spitzensteuersatz am stärksten gesenkt haben, sind dieselben, in denen die höchsten Einkommen – und namentlich die Vergütungen der Führungskräfte großer Unternehmen – am stärksten gestiegen sind. Und umgekehrt sind in den Ländern, die ihren Spitzensteuersatz nur leicht gesenkt haben, die höchsten Einkommen sehr viel weniger gestiegen.“
Wie ist das zu erklären? Piketty sagt, dass es bei sehr hoher Besteuerung keine großen Bestrebungen gibt, höhere Einkommen zu fordern und zu gewähren, da der große Anteil des Zuwachses ohnehin direkt in die öffentlichen Kassen geht.
„Seit den 1980er Jahren hat sich das Spiel grundlegend geändert, und alles scheint darauf hinzuweisen, dass die Führungskräfte begonnen haben, große Anstrengungen darauf zu verwenden, alle Beteiligten zu überzeugen, ihnen erhebliche Gehaltserhöhungen zu gewähren, was angesichts der objektiven Schwierigkeiten, den individuellen Beitrag der Führungskraft eines Unternehmens zu dessen Produktion einzuschätzen, oft gar nicht so schwierig ist – zumal die Bildung von Vergütungsausschüssen häufig eine sehr inzestuöse Angelegenheit ist.“
Einen Einfluss auf die Entwicklung von Wachstum und Volkseinkommen haben aber diese Gehaltserhöhungen der Führungskräfte nicht gehabt:
„Das Sinken des Spitzensteuersatzes und der Anstieg der höchsten Gehälter scheinen (den Vorhersagen der Angebotstheorie entgegen) die Produktivität nicht angekurbelt zu haben – oder zumindest nicht so sehr, dass es auf gesamtwirtschaftlicher Ebene statistisch nachweisbar wäre.“
Den letzten Absatz in diesem Kapitel überschreibt Piketty mit: „Den Spitzensteuersatz überdenken“. Welcher Grad der Steuerprogression ist wünschenswert? Er sagt:
„Unseren Schätzungen zufolge läge das ideale Niveau des Spitzensatzes in den Industrieländern über 80%.“
Piketty glaubt, dass ein Satz von 80% für Einkommen von über 500.000 oder 1 Mio Dollar dem amerikanischen Wachstum „nicht nur nicht schaden, sondern ihm Auftrieb geben und zu einer spürbaren Eindämmung ökonomisch unfruchtbaren (ja schädlichen) ökonomischen Verhaltens führen könnte.“
Die Größe der USA müsse ausreichen, so Piketty, um eine derartige Steuerpolitik durchzusetzen, in Europa sei das wohl schwieriger, da die vielen Kleinstaaten in der Steuerpolitik kaum kooperieren.
Die 80% Spitzensteuersatz würden, so Piketty, schnell ihren Zweck erfüllen und die entsprechend hohen Vergütungen drastisch einschränken. Die US-Wirtschaft würde damit keine Produktivitätseinbußen haben. Das Geld würde dann für niedrige Löhne zur Verfügung stehen. Die angestrebte Umverteilung sei also erreicht.
Aber Piketty fordert noch mehr. Um die notwendigen Steuereinnahmen für Bildung und Gesundheit zu erzielen, müssten die Steuersätze für weniger hohe Einkommen, zum Beispiel mehr als 200.000 Dollar, auf 50% bis 60% festgesetzt werden.
Optimistisch ist Piketty nicht, dass es eine derartige Entwicklung geben könnte. Er befürchtet sogar, dass wir aus der Geschichte der progressiven Steuer im vergangenen Jahrhundert lernen müssen, „dass ein Abdriften in in die Oligarchie eine sehr reale Gefahr darstellt.“
Der oberen amerikanischen Gesellschaft stellt er insgesamt kein gutes Zeugnis aus:
„Und auch wenn die Quellenlage dürftig ist, gibt es zumal Grund zu der Annahme, dass die politische Klasse der Vereinigten Staaten (gleich welcher politischen Richtung) sehr viel reicher ist als die der europäischen Staaten, ja Welten vom amerikanischen Durchschnitt entfernt – was eine Erklärung dafür sein könnte, dass sie regelmäßig ihr Privatinteresse und das der Allgemeinheit miteinander verwechselt.“
Wenn wir von progressiver Besteuerung sprechen, so sagt uns Piketty, müssen wir alle Steuerarten im Auge haben: Die Einkommenssteuer, die Vermögenssteuer, die Erbschaftssteuer und auch die Mehrwertsteuer. Nur die Summe dieser Steuern und ihr Anteil am jeweiligen Einkommen erlaubt die Einschätzung, ob Progressivität vorliegt oder nicht.
Hinzu kommt: Die Sozialabgaben der Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung sind gedeckelt über die Beitragsbemessungsgrenze. Diese Abgaben haben also nicht mal einen proportionalen sondern einen regressiven Charakter.
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