Die Nachrichten über die Griechenland-Krise folgen fast im Minuten-Takt. Von vielen wird zu Recht die Politik der deutschen Regierung kritisiert. Doch darüber hinaus, was läuft eigentlich in Europa falsch? Sehr schnell, wenn man sich die Wirtschaftsdaten anschaut, stellt man fest, dass Deutschland seit Jahren ungestraft gegen die Regeln verstößt. Heiner Flassbeck [1] zum Beispiel wird nicht müde darauf hinzuweisen. Im Folgenden möchten wir, gerade weil die Nachrichten so eine kurze Verfallsdauer haben und weil nicht nur Griechenland und die anderen Defizitländer Verantwortung für die Schieflage in der Euro-Zone tragen, einen Beitrag dokumentieren, der vor zwei Monaten auf den NachDenkSeiten erschienen ist und der Beachtung finden sollte.
Wenn die EU-Gesetze konsequent angewendet würden, müsste Deutschland mit Strafzahlungen rechnen wegen der Gefährdung der Stabilität der Eurozone und der Nichteinhaltung des gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahrens im fünften Jahr in Folge. Ein Kommentar von Ambrose Evans-Pritchard aus dem britischen Telegraph[1] ins Deutsche übersetzt von Carsten Weikamp.
Deutschlands aktueller Handelsbilanzüberschuss ist außer Kontrolle. Die Frühjahrsvorhersage der Europäischen Kommission zeigt, dass er dieses Jahr alle Rekorde brechen wird, indem er auf einen neuzeitlichen Höchststand von 7,9% des BIP steigen wird. 2016 wird er immer noch bei 7,7% sein.
Vage Versicherungen, dass der Überschuss mit der Zeit schon nachlassen werde, haben sich wieder einmal nicht bewahrheitet. Das Land ist jetzt der größte Übertreter der Stabilitätsregeln der Eurozone. Es sähe sich Strafsanktionen gegenüber, wenn die Einhaltung der Gesetze der EU-Verträge konsequent durchgesetzt würde.
Brüssel hat Deutschland letztes Jahr aufgefordert, seine “Hausaufgaben” zu machen, aber davon abgesehen, Maßnahmen zu ergreifen. Wir werden sehen, ob es Jean-Claude Junckers Kommission dieses Mal besser machen wird.
Wenn nicht, könnten Zyniker zu Recht daraus schließen, dass die großen Länder in Europa nach eigenen Regeln spielen, und dass Deutschland sich allen Regeln widersetzen kann.
Der Strafmechanismus der Europäischen Währungsunion ist auf jeden Fall in höchstem Maße politisch. Die Geschichte der Schuldenkrise in der Europäischen Währungsunion zeigt, dass die Behörden durchgängig die Interessen der Gläubiger stärker verfolgen als den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand (eine ganz andere Sache).
Das fünfte aufeinanderfolgende Jahr liegt Deutschlands Überschuss über 6% des BIP. Das gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichtsverfahren der EU sieht vor, dass die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten soll, wenn dies drei Jahre in Folge passiert, außer es gäbe einen klaren Grund, das nicht zu tun.
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Es gibt in diesem Fall wenig mildernde Umstände. Deutschlands Überschuss kommt nicht durch Einmaleffekte zustande. Der Überschuss bleibt selbst dann riesig, wenn die niedrigen Importkosten für Energie herausgerechnet werden. Es ist ein chronischer struktureller Missbrauch, der die Währungsunion mit der Zeit unsteuerbar werden lässt und der sicher gefährlicher für die Einheit der Eurozone ist als alles, was in Griechenland passiert.
“Die Europäische Kommission sollte ihre Zurückhaltung aufgeben: Deutschland sollte bestraft werden”, sagt Simon Tilford vom Centre for European Reform.
“Ihr Überschuss sollte genauso behandelt werden wie zuvor die Defizite der südlichen Länder, als eine vergleichbare Bedrohung der Stabilität der Eurozone. Das Beunruhigende ist, dass der Überschuss in dieser Phase des Wirtschaftskreislaufs schnell sinken müsste”, sagte er.
Deutschlands Arbeitslosenquote ist mit 4,7% auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Deutschland müsste deshalb einen Anstieg des Konsums erleben. Der findet aber nicht statt, weil der Ausgleichsmechanismus blockiert ist. Das zeigt, dass die Europäische Währungsunion in Schieflage ist und dazu verdammt, von Krise zu Krise zu taumeln, selbst in der Erholung.
Jede Erholung in Südeuropa wird zum Aufbau von Ungleichgewichten innerhalb der EWU führen und dadurch genau solche Kapitalflüsse, Kreditfinanzierungen und Spekulationsblasen nach sich ziehen, die die Krise erst ausgelöst haben.
Der Internationale Währungsfonds hat letztes Jahr gewarnt, dass der deutsche Überschuss – damals 8,25% des BIP, wenn man es auf den Zyklus anpasst – für die EWU als ganze zerstörerisch wirkt. Er ist zwischen drei und sechs Prozentpunkten höher als „erwünscht“ oder durch Fundamentaldaten gerechtfertigt wäre. Es ist nicht einmal in Deutschlands eigenem wirtschaftlichen Interesse, und es macht es den Krisenstaaten der EWU noch schwerer, sich aus den Schwierigkeiten heraus zu kämpfen.
Dem IWF zufolge ist der deutsche Wechselkurs nach der Handelselastizitätstheorie um ganze 18% unterbewertet, und zwar bereits vor dem letzten Einbruch des Euro. Dies war durch Drücken der Löhne in den frühen Jahren der Währungsunion erzielt worden, womit der Süden unterboten wurde.
Die Anstrengungen Frankreichs, Spaniens, Italiens, Portugals und Griechenlands (das super-wettbewerbsfähige Irland ist in dieser Sache irrelevant), verlorenen Boden zurückzugewinnen, indem sie zu einem späteren Zeitpunkt dasselbe tun, ist genau das, was das EWU-System zwischen 2011 und 2014 als ganzes in einen quasi-deflatorischen Absturz manövriert hat.
Deutschland leugnet, ein Wiederholungstäter bei der Nichteinhaltung des gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahrens zu sein. Es gibt zwar zu, dass Effekte der Währungsunion zu einer Unterbewertung geführt haben, verneint aber, dass dies eine Folge „politischer Verzerrungen“ sei, geschweige denn die einer vorsätzlichen, zynischen, egoistischen Strategie merkantilistischer Ausbeutung.
Es ist kein Mysterium, warum das Ungleichgewicht schlimmer wird. Die deutsche Gesetz- und Steuerstruktur ist ausgerichtet zugunsten von Produktivität und Exporten, nicht von Konsum. Es ist das Spiegelbild Großbritanniens. Keine der Formeln ist gesund.
„Deutschland sollte die Steuern auf niedrige Einkommen und die Mehrwertsteuer senken. Es hat einen beträchtlichen fiskalischen Spielraum. Es entscheidet sich aber dagegen“, sagt Tilford.
Berlin lehnt ab, die blasse Nachfrage durch zusätzliche öffentliche Ausgaben auszugleichen. Die „Ordoliberalen“ im deutschen Finanzministerium steuern stattdessen einen Haushaltsüberschuss von 0,6% des BIP an, in einer beinahe religiösen Glorifizierung des Sparens.
Und das, obwohl der Nord-Ostsee-Kanal zerbröckelt und Deutschlands Infrastruktur langsam auseinanderfällt. Marcel Fratzscher, Leiter des DIW und Autor von ‘Die Deutschland-Illusion“, stellt fest, dass die Investitionen seit den frühen 1990ern von 23% auf 17% des BIP zurückgegangen sind.
Deutsche Überschüsse waren zu Zeiten der D-Mark kein Problem. Von Zeit zu Zeit machte das Land eine Neubewertung, die das Problem behob. Wie Deutschland seine inneren Angelegenheiten regelte, war im wesentlichen seine eigene Sache. Wie der IWF aber wiederholt festgestellt hat, ist das in einer Währungsunion eine ganz andere Sache. Der deutsche Überschuss ist die Wurzel der Kluft zwischen Nord und Süd in der EWU.
Nach dem gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahren – das Deutschland zum Gesetz gemacht hat, weil es dachte, dass es höchstens einmal gegen Defizit-Sünder zur Anwendung käme – kann die Eurozone Deutschland anweisen, einen „Aktionsplan“ vorzulegen, um den Überschuss abzubauen. Wenn das nicht geschieht, sitzen EU-Minister zu Gericht über Deutschland. Sie können Berlin zwingen, eine Sicherheit von bis zu 0,1% des BIP (2,4 Mrd. Euro) auf ein spezielles Konto zu hinterlegen, während es auf Bewährung ist. Das Geld kann schlussendlich eingezogen werden, wenn nichts getan wird.
Man braucht nicht extra zu erwähnen, dass solche Sanktionen Entrüstung im Bundestag hervorrufen würden und das Risiko, in Deutschland den politischen Konsens für den Euro zu zerstören. Viele deutsche Bürger glauben bereits heute, dass ihr Land zu viel dafür ausgibt, Südeuropa aus der Klemme zu helfen.
Wir verfolgen mit Interesse, wie Herr Juncker sich durch dieses tückische politische Riff manövrieren wird, besonders, da er seinen aktuellen Posten deutscher Gunst zu verdanken hat. Es war Kanzlerin Angela Merkel, die ihn voriges Jahr gegen britische Einwände ins Berlaymont gehievt hat. Abgesehen von einigen honorige Ausnahmen – wie zum Beispiel Herrn Fratzscher – weigert sich die deutsche Politikelite nach wie vor, zur Kenntnis zu nehmen, dass etwas falsch an der Überschuss-Politik ist, nicht einmal, dass es Bedarf gibt, das Thema überhaupt einmal zu diskutieren.
Die Weigerung, die Dinge aus den Augen der anderen zu sehen, strapaziert überall in der Welt die Geduld. Deutschland hat China in den Berichten des US-Finanzministeriums an den Kongress abgelöst als Erz-Bösewicht in Sachen Währungsmanipulationen, aus offensichtlichen Gründen.
Chronische Überschüsse sind eine Art, Nachfrage von anderswo zu stehlen. Sie exportieren Arbeitslosigkeit in andere Länder. Das ist in Zeiten „langanhaltenden Stillstands“ und exzessiven globalen Sparens von Belang. Gesellschaften haben das Recht auf Vergeltung, wenn das erst außer Kontrolle gerät.
Ebensowenig ist diese merkantilistische Politik für Deutschland selbst sinnvoll. Die Überschüsse werden im Ausland in Kapitalflüssen mit negativem Ertrag recyclet, wodurch der Wohlstand erodiert, den das Land in den nächsten zehn Jahren brauchen wird, wenn der steile demografische Rückgang kommt. Historiker werden auf die Ära Schröder/Merkel als eine Folge grober politischer Schnitzer zurückblicken.
Je früher Deutschland seinen Fiskalfetischismus aufgibt und sein eigenes Geld zum eigenen Wohl im eigenen Land investiert, um so besser wird das für alle sein.
Der Beitrag ist zuerst auf den NachDenkSeiten[3] erschienen und steht unter Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial [2].
Beitrag versenden[4]- Telegraph: http://www.telegraph.co.uk/finance/comment/ambroseevans_pritchard/11584031/Germanys-record-trade-surplus-is-a-bigger-threat-to-euro-than-Greece.html
- [Image]: http://www.nachdenkseiten.de/upload/bilder/140515_01.jpg
- NachDenkSeiten: http://www.nachdenkseiten.de/?p=26113
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