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Heute regieren wieder die Reichen und Mächtigen, sagt Michael Hirsch. Uns wird noch vorgespielt, dass es um die Gleichheit von allen geht. Dabei leben wir schon längst in einer Oligarchie vergleichbar mit der im 19. Jahrhundert. Wir nennen sie heute nur alternativlos statt gestaltend einzugreifen. Die Alternative könnte aber ein gutes Leben sein, in dem wir nicht nach mehr Geld und Macht streben und darüber Anerkennung und Einfluss erreichen, sondern ein gutes Leben, in dem ALLE die Zeit und den Raum haben, mitzugestalten, gemeinsam. Zeit für Freunde und Familie, für kreative Weiterentwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir leben gnadenlos unter unserem Niveau und verehren, was uns und unsere Umwelt zerstört.
Interview von
von Betondelta mit dem Philosophen Michael Hirsch über sein Manifest: „Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen“, erschienen im Louisoder Verlag[2].BETONDELTA: Sie kritisieren in Ihrem Manifest die marktkonforme Demokratie. Was verstehen Sie darunter?
MICHAEL HIRSCH: Wir leben im Übergang zu einer neoliberalen Epoche. Das, was man mal soziale Marktwirtschaft genannt hat, kennt relativ starke politische Regulierungsinstrumente. Die jetzige Ordnung ist dagegen stark durch Marktzwänge, vor allem internationaler Art, gesteuert. Es wird auch politisch zunehmend kommuniziert, dass es keine Alternative gäbe. Wenn man sich diesen bestimmten, äußeren Zwängen unterordnet, führt das zur Erosion der ganzen demokratischen Veranstaltung.
Was ändert dieser Epochenwechsel für uns?
Die Idee der sozialen Marktwirtschaft ist: Wohlstand für alle. Das sollte über Wirtschaftswachstum, Arbeitsplatzsicherung und einer Nivellierung von sozialen Unterschieden erreicht werden. Diese Ordnung wurde aber vor zehn oder fünfzehn Jahren aufgegeben und seitdem erleben wir gravierende soziale Unterschiede. Man geht davon aus, dass dieses Projekt der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr kompatibel ist mit denjenigen kapitalistischen Strukturen, in denen wir heute leben.
Alle großen Parteien in allen westlichen Ländern haben sich im Prinzip damit abgefunden. Und in diesem Moment gehen wir in eine oligarchische Gesellschaftsordnung zurück wie sie vor der Einführung der Demokratie und vor der Einführung von großen Sozialversicherungssystemen und progressiver Besteuerung existiert hat – Typ 19. Jahrhundert könnte man sagen.
Was bedeutet das: Typ 19. Jahrhundert?
Es gibt eine sehr selektive Interessenpolitik. Diese Gesellschaftsordnung dient nur ganz bestimmten Teilen der Gesellschaft. Ablesen lässt sich das beispielsweise an zwei Phänomen.
Zum einen sind die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten von Bildung, Einkommen und Vermögen wieder ungefähr auf dem Stand von vor 100 Jahren. Insofern könnte man die Reduzierung von Ungleichheit, die damals in Gang gesetzt wurde, als gescheitert erklären. Viele Kommentatoren tun aber immer noch so, als ob wir eine kleine Krise hätten. Die Demokratie als gesellschaftliches Projekt, in der Form, wie sie gedacht wurde, aus einer Mischung von sozialer Gleichheit und demokratischer Beteilung, ist aber tot.
Zum anderen schlägt sich das jetzt in dramatisch gesunkenen Wahlbeteiligungen in unteren Bevölkerungsgruppen nieder. Das sind quasi genau die Leute, die früher sowieso nicht wählen durften. Sie wählen heute freiwillig nicht mehr, haben sich verabschiedet, weil sie zu Recht den Eindruck haben, dass ihre Interessen in diesem Typ marktkonformer Demokratie gar nicht mehr repräsentiert werden.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts, vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, war die Argumentation, warum man den Frauen oder unteren Bevölkerungsklassen das Wahlrecht nicht zugesteht, dass sie durch die Herrschenden bzw. ihre Ehemänner oder durch ihre Eltern vertreten werden.
Man dachte früher, es wäre schädlich, wenn man alle mitbestimmen lässt, weil die gar nicht wissen, was gut ist.
Das ist die Reinform der ökonomischen Trickle-down-Theorie: Man sagt, wir senken die Steuerlast für Vermögende und machen gute Investitionsbedingungen, weil wir darauf spekulieren, dass dann für alle was abfällt. Wenn ein Unternehmen gute Geschäfte macht, gehen wir davon aus, dass das auch den Arbeitnehmern und ihren Familien zu Gute kommt. Eine vulgäre wirtschaftspolitische Doktrin, würde ich das nennen und sie entspricht ungefähr der Doktrin des Frühindustrialismus. Man dachte früher, es wäre schädlich, wenn man alle mitbestimmen lässt, weil die gar nicht wissen, was gut ist.
Demokratie gibt es nur als expliziertes Projekt der radikalen Verringerung sozialer Unterschiede. Demokratie ist ein Projekt zur Abschaffung von solchen Verhältnissen, in denen einige Menschen unmündig sind und andere nicht. In denen manche Menschen per se abhängig sind vom Willen anderer. Egal ob das jetzt mein Ehemann ist als Frau oder der Arbeitnehmer, der von der Gnade des Investors oder Unternehmers abhängig ist, der diesen Arbeitsplatz vielleicht noch fünf Jahre weiter laufen lässt. Es geht um die Abschaffung dieser Arbeitsverhältnisse als solcher, die Ungleichheit produzieren und Abhängigkeit von anderen.
Warum protestieren wir nicht mehr gegen diese Ungleichheiten?
Ich würde das als einen paradoxen Bewusstseins-Modus beschreiben: Wir beklagen uns über soziale Ungleichheiten, Verwerfungen aller Art, Ausplünderungen der Natur, Ausbeutung der dritten Welt, Imperialismus. Aber die Ursache von ungebremster kapitalistischer Akkumulation, von all diesen ökologischen, sozialen und anderen Verwerfungen, verehren wir. Das ist unser Gesellschaftsmodell. Wir regen uns nur reaktiv, resignativ über diese Phänomene auf. Die Medien übernehmen beispielsweise diese Aufgabe, dass sie immer wieder eine tolle Reportage bringen, wie entsetzlich alles ist. Aber es gibt im Großen keine seriösen Theorieformen oder kulturelle Praktiken, die sich explizit gegen die Ursache des Ganzen richten. Man wird immer noch gesellschaftlich geächtet, wenn man sich tatsächlich über gesellschaftliche Alternativen Gedanken macht. Dann manövriert man sich immer noch ins gesellschaftliche Abseits.
Deswegen werden Gutmenschen immer als uncool angesehen und man macht Witze über sie. Aber was genau verehren wir?
Wir verehren die ungebremste Vitalität, die darwinistische Idee der Gesellschaft. So gesehen haben wir aufgegeben vernünftig menschlich gestalten zu wollen. Damit verehren wir aber auch die Naturburschen, die vitalen Leistungsträger dieser Gesellschaft, die Klonkrieger des Neoliberalismus, die 60, 70, 80, 90 Stunden pro Woche arbeiten, die irre Reichtümer anhäufen. Diese Leute verehren wir. Die Stars, die Supermenschen, die Übermenschen dieser neuer Ordnung. Das ist ein krasser Biologismus und in dieser sozialdarwinistischen Doktrin ist es dann auch legitim, dass es die Opfer gibt.
Wir verehren also nicht nur die Sieger, wir verachten auch die Verlierertypen. Mehr oder weniger offensichtlich. Der Sozialstaat hat mittlerweile diesen stigmatisierenden Zug bekommen: Die, die abhängig werden von Hilfe, werden öffentlich einer Missachtung unterworfen, obwohl ja genau umgekehrt die Verfassungsidee soziale Gleichheit, gleiche Anerkennung und Würde aller ist.
Wie prägt diese Haltung unseren Alltag?
Wir opfern unsere Lebensqualität bei dem Versuch, diesen Leistungsansprüchen, die immer größer werden, zu genügen. Wir setzen uns damit selber und gegenseitig unter Druck. Dieser Druck wird kommuniziert: Im Alltag, am Arbeitsplatz, zwischen Freunden und Kollegen als ein Standard, der stets zu erhöhen ist.
Jedes einigermaßen seriöse Fortschrittsprojekt kann nur in der sukzessiven Begrenzung von Arbeitsmengen beruhen. In einem Projekt für Lebensqualität und Gleichheit, in dem man sagt: Wir versuchen diesen Druck der Verhältnisse auf uns abzuschaffen. Stattdessen sind die meisten in einer Spirale der Mehrarbeit gefangen und dieser Stress ist das dominierende Motiv im Alltag. Stress ist das eine, aber das eigentlich dominierende ist ein unglaublich straff durch getakteter Alltag mit einer chronischen Zeitnot. Dann werden die Löhne immer mehr gekürzt, so dass man noch mehr arbeiten muss, für weniger Geld. Die Leute sind abgelenkt, weil sie entweder versuchen, auch verehrt zu werden oder sie sind mit dem Kampf ums Überleben beschäftigt.
Aber es gibt doch Widerstand?
Ja, aber zu wenig. Weiterlesen auf Betondelta[4]
Michael Hirsch ist Philosoph und lebt in München. Er lehrt derzeit als Privatdozent für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen.
Betondelta[5] ist eine Plattform, auf der Ideen hin und her gespielt werden, damit sie nicht flöten gehen: die vielen kleinen und großen aus dem digitalen Strom zwischen Schnickschnack, Popkultur, Netz-Trash und Politik.
Die drei Macher[6] von Betondelta wollen die Perspektiven wechseln, Geschichten zusammenfügen, wieder aufbrechen, drehen und wenden. Auf Record drücken, Gegenwart mitschreiben, speichern, teilen und gucken, was passiert.
Herzlichen Dank an Emily Thomey und Sergej Bojew für die Möglichkeit, hier dieses spannende Interview in Teilen wiederzugeben.
Bildquellen: Verlagsfoto; Marco Monetti [2] – CC BY-ND 2.0 [3]
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