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10 Jahre Hartz IV – und die SPD lernt nicht dazu

Gestern früh habe ich meinen Augen nicht trauen können, als ich die Süddeutsche Zeitung in die Hand nahm. Die Schlagzeile des Tages: „SPD will Frieden mit Hartz IV schließen“. Weiter heißt es: „Parteichef Gabriel und Arbeitsministerin Nahles loben die umstrittenen Reformen: Deutschland sei so wieder zum Wirtschaftswunderland geworden.“ Der Gastbeitrag der beiden, der dann auf Seite 6 abgedruckt ist, steht auch online [1] zur Verfügung.

Kein Wort davon, dass der Regelsatz zu niedrig ist. Kein Wort davon, dass vor allem die Sanktionspraxis das Gebot der Menschenwürde verletzt. Stattdessen loben sie die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns sowie die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit so gering ist. Davon, dass 4.394.451 Menschen Arbeitslosengeld II beziehen[1] und ein Leben am oder gar unter dem Existenzminimum führen müssen, davon, dass es ca. 1,3 Millionen Aufstocker gibt, dass mittlerweile über 2,5 Millionen Kinder in Einkommensarmut [2] leben, findet sich natürlich auch kein Wort.

Kurz erwähnt sei, dass die Niedriglohnschwelle [3] bereits 2012 bei 9,30 Euro lag, der Mindestlohn von 8,50 Euro aber erst 2017 voll zum Tragen kommt. Und derzeit gibt es – neben weiterhin gültigen niedrigeren Branchentarifverträgen – viele Ausnahmen: für Jugendliche, für Jobs nach der Langzeitarbeitslosigkeit und einiges mehr. Der Mindestlohn garantiert also in der Regel nicht, dass man in Vollzeit damit seinen Lebensunterhalt in Würde bestreiten kann, und schon gar nicht in Großtstädten wie München [4] und Berlin, wo die Mieten steigen und steigen…

[2]

Grafik: hartz-iv.info[3] via facebook

Zur Höhe des Regelsatzes schreibt der Paritätische:

„Der Regelsatz sei „mutwillig kleingerechnet“ und erfülle nach wie vor nicht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, das zuletzt im Juli 2014 deutliche Nachbesserungen bei der Bedarfsermittlung gefordert hatte. Nach eigenen Berechnungen des Paritätischen sei eine Erhöhung des Regelsatzes um 24 Prozent auf 485 Euro notwendig, um das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern.“
Quelle: Pressemitteilung vom 29.12.2014 [5]

Der Leipziger Armuts- und Sozialforscher Lutz Hausstein [6] geht da noch weiter. Bereits 2010 und 2011 hat er – anders als nach der so genannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe der Bundesregierung – eine ausführliche Bedarfsermittlung unter dem Titel “Was der Mensch braucht” vorgelegt. 2011 druckte der Spiegelfechter [7] diese empirische Analyse ab. Die Fragestellung von Hausstein:

„Wieviel braucht ein Mensch in der Bundesrepublik Deutschland zum Zeitpunkt der Untersuchung zum Leben und damit zur Wahrung seiner grundgesetzlichen Rechte nach Art.1, Art.2 sowie Art.3?“

Damals kam er zu folgendem Ergebnis:

„Diese empirische Untersuchung förderte mit einem aktuellen Bedarf von 697,45 Euro erneut eine eklatante Unterdeckung beim derzeit gültigen Regelsatz von 364 Euro zutage.
(…)
Die rein physische Existenz kann für die Betroffenen zwar aufgrund der nur geringfügigen Differenz zwischen dem Regelsatz und den realen unabweisbaren Kosten als in großen Teilen gesichert angesehen werden. Jedoch wird jede darüber hinausgehende Handlung ebenso zuverlässig ausgeschlossen. Dies betrifft einerseits gesellschaftliche wie auch kulturelle Teilhabemöglichkeiten, welche damit die sozialen Interaktionen der Hilfeempfänger größtenteils verhindern. Gleichfalls sind unter diesen Umständen Ersatzbeschaffungen für defekte Einrichtungsgegenstände oder Elektrogeräte verunmöglicht worden. Dies konterkariert besonders die vor kurzem verordnete Richtlinie, welche zukünftig die Betroffenen zur Rücklagenbildung von 52 Euro für häusliche Anschaffungen verpflichtet. Wird doch genau dies durch die extreme Bedarfsunterdeckung verhindert.“

Demzufolge lag der Regelsatz gut 330 Euro unter dem, was für eine bescheidene Lebensführung in Würde notwendig ist. Die komplette Studie kann hier[4] abgerufen werden.

Auf den NachDenkSeiten war nun am 23.12.2014 [8] zu lesen, dass Lutz Hausstein diese Studie auch dieses Jahr wieder aktualisieren wird:

„Hausstein erfasst mit einer unabhängigen Studie die Kosten einer einfachen Lebenshaltung und Haushaltsführung privater Haushalte. Er kann damit die Defizite zwischen den seit Jahren deutlich unzureichenden Regelsätzen und dem wirklichen Bedarf der Betroffenen nachweisen. Seine Untersuchung kommt daher also nicht zufällig darauf, dass ausnahmslos alle von der Politik bisher angebotenen Hartz-IV-Regelsätze nicht dem tatsächlichen Bedarf entsprechen.

Die neue Bedarfsstudie „Was der Mensch braucht“, mit aktuellen Preisen eines angepassten Warenkorbs, erscheint zu Beginn des Jahres 2015. Da Haustein wirklich unabhängig arbeitet und daher auch keine Stiftung oder gar Partei sich bereit erklärt, diese Studie zu finanzieren, greift er auf die in anderen Bereichen bereits etablierte Methode des „Crowd Funding“ zurück – viele kleine Spender sollen nun als Sponsoren die Studie finanzieren.“

Erfreulich ist, das die Crowd-Funding-Kampagne [9] schon jetzt die Fortführung der Studie sicherstellt. Dennoch ist eine weitere Unterstützung noch bis zum 20.01.2015 möglich.

Zur Sanktionspraxis nach § 31 SGB II gibt es mehrere Autoren, die diese für verfassungswidrig halten. Wie kann man ein Existenzminimum noch kürzen?  Der Philosoph Arnd Pollmann schreibt:

„Abgesehen davon, dass diese Sanktionen fast immer kontraproduktiv sind: Durch sie wird hunderttausendfach ein Versprechen gebrochen, das sich die Sozialgesetzgebung selbst auferlegt hat. “Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht”, heißt es im SGB II. Die Sanktionen konterkarieren diesen Grundsatz: Wenn die in voller Höhe gezahlte Leistung ein Leben in Würde ermöglichen soll, dann senkt jede Reduktion des Regelsatzes das Lebensniveau in Richtung “nackten Überlebens”. Und werden die Bezüge auf null gesetzt, so scheint nicht einmal mehr nacktes Überleben möglich. Eine solche Sanktionspraxis verträgt sich nicht mit dem als “absolut” zu verstehenden Anspruch aus Artikel 1 des Grundgesetzes – die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Quelle: Würde statt Härte[5], DIE ZEIT Nº 41/2014

Wolfgang Neskovic, Bundesgerichtshof-Richter a. D. schrieb schon 2012 gemeinsam mit Isabel Erdem, dass Sanktionen bei Hartz IV unbedingt verfassungswidrig [10] sind.Sie schreiben dort unter anderem:

„Durch das Prinzip des «Förderns und Forderns» wird eine Art Vertragsverhältnis zwischen Staat und Bürger, d. h. zwei völlig ungleichen Partnern, vorgegaukelt: Der Bürger soll sich sein «unverfügbares» Grundrecht durch regelgerechtes Verhalten verdienen. Um sein Recht zu bekommen, muss er eine Gegenleistung abliefern. Dem liegt ein Menschenbild zu Grunde, das von Faulheit und Betrug ausgeht und weder dem realen Menschen noch unserer Verfassung entspricht. Dieses Prinzip führt dazu, dass die grundrechtlich geschützte Wahrnehmung von Freiheitsrechten wie Berufsfreiheit und Selbstbestimmung plötzlich Bestrafung erfährt. Es führt dazu, dass in einem der reichsten Länder der Welt Menschen im Müll nach Pfandflaschen suchen oder in Suppenküchen um Nahrungsmittel betteln. Der Grundsatz des «Förderns und Forderns» ist sozialstaatsfeindlich und mit der Vorstellung allgemeiner Menschenrechte nicht vereinbar.“

Und in der Community des Freitag wurde 2013 die Begründung der Verfassungswidrigkeit [11]von Dipl.-Ing. Ulrich Engelke publiziert. Zitat:

„Das hat Methode, denn Sanktionen erzeugen Druck auf den „Arbeitsmarkt“, machen Lohnabhängige gefügig und schwächen unsere Gewerkschaften. Auch deswegen ist Deutschland Lohndumpingweltmeister. Die Arbeitnehmer in Deutschland haben Angst davor selbst in Hartz-IV zu geraten und trotzdem sind viele für Sanktionen. Die Verhetzung hat die Gesellschaft bereits gespalten und vernichtet das Gefühl füreinander.“

Das Mindeste, was jetzt kommen müsste, wäre ein Sanktionsmoratorium, um diese Hetze und Spaltung zu überwinden. Und die Regelsätze gehören um die von den Paritätischen geforderten 24 % angehoben sowie die Grundlage der Berechnung dringend auf den Prüfstand. Aber statt auf die Hartz-IV-Bezieher zuzugehen und etwas für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu tun, schließt die SPD nun Frieden mit Hartz IV. Offenbar hat sie die Menschen in prekären Lebenslagen schon als potentielle Wähler und Wählerinnen abgeschrieben. So wird wohl der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge Recht behalten:

„Ohne von Hartz IV und der Agenda 2010 abzurücken, wird die SPD nie wieder zu einer Volkspartei. Dass die Sozialdemokraten heute nicht mehr in die Nähe der 45 Prozent kommen, die sie bei der Bundestagswahl 1972 erreichten, liegt an einer Regierungspolitik, die sich gegen Arbeitnehmer und Erwerbslose richtet. Unter der Leistungs- und Konkurrenzorientierung, die Hartz IV verstärkt hat, leiden viele Menschen. Dieses Gesetz der Angst hat Deutschland in eine Gesellschaft der Angst verwandelt. Das hat die SPD einen Kanzler, sechs Ministerpräsidenten, hunderttausende Mitglieder und Millionen Wähler gekostet.“
Quelle: Vom Sozial- zum Suppenküchenstaat[6], neues deutschland 29.12.2014

Für die dringend notwendige Schaffung von Mehrheiten, um die soziale Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, fällt die SPD also aus. Der Druck muss von außen aufgebaut werden.

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Endnotes:
  1. 4.394.451 Menschen Arbeitslosengeld II beziehen: http://www.nachdenkseiten.de/?p=24412
  2. [Image]: http://nachdenken-in-muenchen.de/Wordpress/wp-content/uploads/2018/02/Regelsatz_2015.png
  3. hartz-iv.info: https://www.facebook.com/hartziv.info
  4. hier: http://nachdenken-in-muenchen.de/Wordpress/wp-content/uploads/2015/01/Was-der-Mensch-braucht-2011.pdf
  5. Würde statt Härte: http://www.zeit.de/2014/41/hartz-iv-sanktionen-grundsicherung-menschenwuerde
  6. Vom Sozial- zum Suppenküchenstaat: http://www.neues-deutschland.de/artikel/956709.vom-sozial-zum-suppenkuechenstaat.html
  7. Beitrag versenden: https://nachdenken-in-muenchen.de/?p=1466&wp_email_popup=1