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Arbeitszeitverkürzung – Teil eines emanzipatorischen Zukunftsprojekts

„Junger Freund, sie kämpfen für 35 Stunden. Dabei wären zehn Stunden völlig ausreichend, wenn die Menschen vernünftig mit ihren Ressourcen umgingen.“
Oswald von Nell-Breuning, kath. Sozialethiker zu Beginn der 80er zum Kampf um die 35-Stunden-Woche. (zit. nach Heribert Prantl, Wir sind viele, München 2011)

Aktuell gibt es einen Streit zwischen den beiden deutschen Wirtschaftwissenschaftlern Heinz J. Bontrup und Heiner Flassbeck um die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung. Bontrup hatte in einem Interview in der Wochenzeitung „der Freitag[1]“ gesagt, die Gewerkschaften sollten für ein Ende der 40-Stunden-Woche kämpfen.

Flassbeck hat sich schon mehrfach gegen Arbeitszeitverkürzung unter den jetzigen wirtschaftlichen Bedingungen geringen Wachstums ausgesprochen, er setzt stattdessen auf höhere Löhne, um die Binnennachfrage anzukurbeln. „Viele fragen sich sicher an dieser Stelle, ob es dann gar keine Möglichkeit gibt, die Arbeitszeit zu verkürzen, selbst wenn die Arbeitnehmer es alle wollen. Doch, die gibt es schon. Die gibt es genau dann, wenn die Nachfrage der Arbeitnehmer, also die Binnennachfrage boomt“, schrieb er schon vor anderthalb Jahren[2], als er den Offenen Brief „30-Stunden-Woche fordern! Ohne Arbeitszeitverkürzung nie wieder Vollbeschäftigung![3]“ kritisierte. Neben Bontrup hatten diesen u.a. die Professoren Christoph Butterwegge, Friedhelm Hengsbach, Rudolf Hickel, Mohssen Massarrat und viele andere unterzeichnet.

Am 16. Februar 2012 bin ich auf einem Dialogforum der Münchener Rück Stiftung gewesen. Heiner Flassbeck im Gespräch mit Jürgen Trittin und Prof. Ulrich Wengenroth von der TU München. „Rohstoffe und Energie – wird die Erde neu aufgeteilt?[4]“ Mir ist die Ratlosigkeit noch in Erinnerung, warum trotz aller technologischen Fortschritte der Ressourcenverbrauch in den letzten gut 40 Jahren, also seit der Warnung durch den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ an den Club of Rome, nicht gesunken, sondern gestiegen ist. Hier komme ich zum Thema zurück. Die Ankurbelung der Binnennachfrage führt auch zu einem zusätzlichen Ressourcenverbrauch. Natürlich ist es richtig und notwendig, dass z.B. Menschen mit nicht existenzsichernden Löhnen mehr verdienen müssen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Doch insgesamt haben wir in dieser Gesellschaft ein Verteilungsproblem und keinen Nachfragemangel. Der von Flassbeck beklagte Nachfragemangel ist ja auch lediglich ein relativer – nämlich im Verhältnis zwischen Exporten und Importen. Das ist aber die logische Konsequenz aus den Handelsbilanzüberschüssen der deutschen Wirtschaft. Aber in einer zunehmend gesättigten Überflussgesellschaft wäre ja gerade ein geringerer Ressourcenverbrauch statt „kaufen ohne zu konsumieren“ wünschenswert, wie z.B. Harald Welzer[5] es zutreffend beschreibt.

Zum Verteilungsproblem: Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in Deutschland ist seit vielen Jahren relativ konstant, seit 1991 ist sie um 2,6% zurückgegangen, die Zahl der Erwerbstätigen allerdings um 8,6% gestiegen (Daten: Arbeitsmarktbericht Dezember 2013[6]). 16,1% der Bevölkerung gelten nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes[7] als armutsgefährdet. Neben – wen verwundert es – Arbeitslosen sind insbesondere alleinerziehende Frauen hier massiv betroffen. Wir haben eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, viele Teilzeitbeschäftigte würden gerne mehr arbeiten können. Zugleich sind die Reallöhne in den letzten Jahren nicht nur hinter der Produktivitätsentwicklung zurückgeblieben, sondern insgesamt gesunken. Die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften seit Mitte der 90er Jahre und die Agenda 2010 lassen grüßen.

Wir müssen dringend über Arbeitszeitverkürzung reden, und ein wenig vermisse ich, dass auch die NachDenkSeiten hier in eigenen Beiträgen kaum dazu beitragen. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Keynesianer wie neben Flassbeck auch Albrecht Müller und Jens Berger immer noch nach Lösungen innerhalb des kapitalistischen Wachstumszwangs suchen. So als ob es notwendig und ganz natürlich sei, dass die Ein-Ernährer-Familie in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts deshalb obsolet geworden ist, weil als einzige Option nun beide Vollzeit arbeiten und nur so Wohlstand möglich ist. Dabei hat Keynes vor 75 Jahren geschrieben: „Der Gang der Dinge wird einfach der sein, dass es immer größere und größere Schichten und Gruppen von Menschen geben wird, für die sich Probleme wirtschaftlicher Notwendigkeit einfach nicht mehr stellen. Der entscheidende Unterschied wird erreicht sein, wenn dieser Zustand so allgemein geworden ist, dass sich die Natur unserer Pflicht gegenüber unserem Nächsten verändert. Denn es wird vernünftig bleiben, wirtschaftlich zielgerichtet für andere zu handeln, nachdem es für einen selbst aufgehört hat, vernünftig zu sein.“ (Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder[8], erschienen in „The Nation & The Athenaeum“ am 11. und 18. Oktober 1930). Das jetzige auch auf der Linken herrschende Denken führt uns meines Erachtens nicht zu einer zukunftsfähigen Perspektive. Warum also Arbeitszeitverkürzung? Knapp fasst es Susanne Haslinger in ihrem Beitrag „Zeit für neue Arbeitszeiten[9]“ zusammen:

„Arbeit fair teilen

Moderne Arbeitszeit- und Arbeitsmarktpoltik muss sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren und zum einen, jene, die arbeitsbedingt unter stetig steigendem Druck stehen, zu entlasten und andererseits durch eine faire Verteilung von Arbeit neue Arbeitsplätze schaffen.

Eine kluge Verkürzung der Vollarbeitszeit mit entsprechendem Lohnausgleich hat eine Reihe positiver Effekte:

  • eine gerechtere Verteilung von Erwerbsarbeit und somit weniger Arbeitslosigkeit
  • Arbeitsverhältnisse, die für die Beschäftigten gesünder sind und damit auch eine Reduktion der Krankenstände aufgrund psychischer Belastungen
  • eine gerechtere Verteilung der bezahlten und unbezahlten (Care-)Arbeit unter den Geschlechtern und damit eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
  • eine bessere work-life Balance durch mehr Freizeit
  • die Berücksichtigung ökologischer und sozialer Ziele“

Wie also wollen wir leben? Wie unsere Zukunft nachhaltig gestalten? Diese Fragen dürfen wir nicht der herrschenden Politik überlassen. Arbeitszeitverkürzung ist darin ein wichtiger Baustein, um ein „Gutes Leben“ anders zu definieren als durch zusätzlichen Konsum. Was 40-Stunden-Vollzeitbeschäftigten oft fehlt, ist doch gerade die Zeit, für die Familie da zu sein und sich zugleich politisch, kulturell oder sozial zu engagieren. Und die Entwicklungen der letzten Jahre hat die Spielräume nicht gerade erhöht. Zum einen hat es in vielen Bereichen eine Arbeitsverdichtung gegeben, zum anderen führt die Erosion des Normalarbeitsverhältnis zu einer Disziplinierung. Wir lassen uns am Arbeitsplatz immer mehr gefallen, um bloß nicht unseren Job zu verlieren. Genau dies müssen wir wieder umkehren, den Neoliberalismus aus unseren Köpfen vertreiben und uns ein Herz fassen, wieder für emanzipatorische Reformen zu streiten. Die Diskussion darüber hat gerade erst begonnen, so trug ein Antrag der ver.di-Frauen auf dem Bundeskongress 2011 den programmatischen Titel „Mehr Geschlechtergerechtigkeit durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich – weniger arbeiten, damit Alle arbeiten und besser leben können[10]“.

Genau dieses Zitat von André Gorz[11] verbindet die Gewerkschafterinnen mit dem Münchner Philosophen Michael Hirsch. In seinem im Frühjahr erschienenen Manifest schreibt er:

„Die Option für eine andere Ordnung hat nur als klare Option für ein radikaldemokratisches, ökologisches, soziales und feministisches Reformprojekt einen Sinn. Nur wenn insgesamt die gesamtgesellschaftliche Produktions- und Arbeitsmenge reduziert wird, besteht die Möglichkeit für eine Verbesserung ökologischer Nachhaltigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit auf nationaler und globaler Ebene. Im Mittelpunkt eines fortschrittlichen Reformprogramms stehen die Reduktion und die soziale Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeitsmengen, Arbeitsentgelte, Arbeitszeiten und Arbeitsarten. Das bedeutet, es geht auch um ein ganz anderes Zeitregime. Es geht um die Erfindung, um die soziale Konstruktion und Absicherung anderer Lebensverläufe als der bisher als ‚normal‘ geltenden männlichen Lebensläufe lebenslanger Erwerbsarbeit in ‚Vollzeit‘.“

Quelle: Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen![12]

Das diesjährige isw-Forum stand unter dem Thema „Ist Wohlstand ohne Wachstum möglich?[13]“. Genau dieser Frage werden wir nachgehen müssen, wenn wir die neoliberale Doktrin durchbrechen wollen, die jede Situation, ob Wachstum oder Krise dazu nutzt, von unten nach oben umzuverteilen. Sicher brauchen wir Investitionen in unsere Infrastruktur, z.B. in marode Schulen und Schienen. Wir brauchen eine bessere Versorgung und Betreuung in Altenheimen, mehr ErzieherInnen für kleinere Gruppen. Aber hier steht eben gerade nicht Wachstum im Vordergrund, sondern die Frage der Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen zum Nutzen aller und nicht einer kleinen Elite.

Wir müssen reden.

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Endnotes:
  1. der Freitag: https://www.freitag.de/autoren/felix-werdermann/wenn-ich-das-vorrechne-sind-alle-erstaunt
  2. anderthalb Jahren: http://www.flassbeck-economics.de/arbeitszeitverkurzung-mit-vollem-lohnausgleich-warum-werden-immer-wieder-die-gleichen-fehler-gemacht/
  3. 30-Stunden-Woche fordern! Ohne Arbeitszeitverkürzung nie wieder Vollbeschäftigung!: http://www2.alternative-wirtschaftspolitik.de/uploads/m0413.pdf
  4. Rohstoffe und Energie – wird die Erde neu aufgeteilt?: http://www.munichre-foundation.org/de/home/DialogueForums/DialogueForums_Archive/2012DialogueForums/Dialogue_Forums2012_February.html
  5. Harald Welzer: http://nachdenken-in-muenchen.de/?p=199
  6. Arbeitsmarktbericht Dezember 2013: http://www.querschuesse.de/deutschland-arbeitsmarktbericht-dezember/
  7. Statistischen Bundesamtes: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/10/PD14_374_634.html;jsessionid=552F311B6145D7195DB9511D536AEB93.cae1
  8. Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder: http://www.attac.de/fileadmin/user_upload/Kampagnen/jenseits-des-wachstums/Keynes%20Enkelkinder.pdf
  9. Zeit für neue Arbeitszeiten: http://blog.arbeit-wirtschaft.at/zeit-fuer-neue-arbeitszeiten/
  10. Mehr Geschlechtergerechtigkeit durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich – weniger arbeiten, damit Alle arbeiten und besser leben können: http://bundeskongress2011.verdi.de/antraege/antrag.html?cat=A&sort=121&aid=10402
  11. André Gorz: https://de.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9_Gorz
  12. Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen!: http://www.louisoder-verlag.de/louisoder-verlag-buch-detail.asp?pid=444
  13. Ist Wohlstand ohne Wachstum möglich?: http://nachdenken-in-muenchen.de/?p=242
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