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Vom Ahlener Programm über die Globalsteuerung bis zu Sahra Wagenknecht

Unter dem Motto „CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus“ ist ein politisches Programm erschienen, das von seinen „Verfechtern als christlicher Sozialismus bezeichnet“ wird.
Ich bin gespannt und lese dann im Programm:

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. […] Inhalt und Ziel [einer]sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“

Hat da irgendwer die Lehren gezogen aus den Auswüchsen des Kapitalismus, aus dem Machtstreben der Großkonzerne, aus der Profitgier der Finanzmärkte, aus der erniedrigenden prekären Beschäftigung, aus der steigenden Ungleichheit in der Gesellschaft, aus wachsenden Zukunftsängsten und Unsicherheiten?
Ich lese weiter:

„Ziel aller Wirtschaft ist die Bedarfsdeckung des Volkes.
Die Wirtschaft hat der Entfaltung der schaffenden Kräfte des Menschen und der Gemeinschaft zu dienen. Ausgangspunkt aller Wirtschaft ist die Anerkennung der Persönlichkeit. Freiheit der Person auf wirtschaftlichem und Freiheit auf politischem Gebiet hängen eng zusammen. Die Gestaltung und Führung der Wirtschaft darf dem einzelnen nicht die Freiheit seiner Person nehmen. Daher ist notwendig:
Stärkung der wirtschaftlichen Stellung und Freiheit des einzelnen; Verhinderung der Zusammenballung wirtschaftliche Kräfte in der Hand von Einzelpersonen, von Gesellschaften, privaten oder öffentlichen Organisationen, durch die die wirtschaftliche oder politische Freiheit gefährdet werden könnte. […] Bei allen Reformen der deutschen Wirtschaft […] ist das erste und vornehmste Ziel das Wohl des gesamten Volkes. Die deutsche Wirtschaft hat weder in erster Linie dem Wohle einer bestimmten Schicht zu dienen noch dem Auslande.“

Bedeutet das, dass nun auch die sog. Reformen im Arbeitsmarkt wieder für das Wohl der Menschen angepasst werden? Aber dann wurde mir klar, was ich da in der Hand hatte: Ein Programm von 1947: Antonius John, Ahlener Programm der Bonner Republik[1], das Wirtschafts- und Sozialprogramm der nordrhein-westfälischen CDU.

Einen weiteren Punkt aus diesem Programm möchte ich aufgreifen:

„Planung und Lenkung der Wirtschaft wird auf lange Zeit notwendig sein; es ist aber ein Unterschied, ob die Planung und Lenkung im Hinblick auf die Schwierigkeiten der wirtschaftlichen Lage erfolgt oder von Fall zu Fall als notwendig betrachtet wird, oder ob die Planung und Lenkung der Wirtschaft als Selbstzweck angesehen wird. Planung und Lenkung wird auch in normalen Zeiten der Wirtschaft in gewissem Umfang notwendig sein, was sich aus unserer Auffassung ergibt, dass die Wirtschaft der Bedarfsdeckung des Volkes zu dienen hat.“

Praktiziert hat diese Planung und Lenkung der Wirtschaft die Politik in den 60’er und 70’er Jahren. 1967 war Karl Schiller der SPD-Wirtschaftsminister der Großen Koalition unter dem CDU-Kanzler Kurt-Georg Kiesinger. Schiller begründete im Gesetz für Stabilität und Wachstum – übrigens gemeinsam mit dem damaligen CSU-Finanzminister Franz-Josef Strauss – die sog. Globalsteuerung, nämlich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage so zu beeinflussen, dass die Ziele des magischen Vierecks erreicht werden: hoher Beschäftigungsgrad, niedrige Inflationsrate, angemessenes Wachstum und außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Bemerkenswert daran ist, dass das außenwirtschaftliche Gleichgewicht ausdrücklich als Ziel formuliert worden ist. Das heutige Ungleichgewicht unserer Handelsbilanz (2012: 1100 Mrd Exporte und 909 Mrd Importe[2]) verstößt massiv gegen diese Zielsetzung.
Die Grundsätze der Globalsteuerung basierten auf der Lehre von John Maynard Keynes, vor allem auf dem „deficit spending“: Der Staat habe einzuspringen in einer Rezession, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steigern, den Konsum und die Investitionen zu fördern und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Das ist eine Konzeption, die heute vor allem in Südeuropa mit der angeblichen Sparpolitik und der „Verarmungspolitik“ andauernd verletzt wird.

Das zweite Buch, das ich zur Hand nehme, heißt „Freiheit statt Kapitalismus“ und fasst in der Einleitung die Grundsäulen der sozialen Marktwirtschaft zusammen:

1. Der Sozialstaat
„Der soziale Ausgleich darf nicht dem Markt überlassen werden, sondern ist originäre Aufgabe des Staates.“ (S.18)
Dazu finde ich ein Zitat von Ludwig Erhard, so aktuell wie nie zuvor: „Der Tatbestand der sozialen Marktwirtschaft ist vielmehr nur dann als voll erfüllt anzusehen, wenn entsprechend der wachsenden Produktivität […] echte Reallohnsteigerungen möglich werden.“ (S.19)

2. Die Verhinderung wirtschaftlicher Macht
„Nicht in erster Linie gegen den Missbrauch vorhandener Machtkörper sollte sich die Wirtschaftspolitik wenden, sondern gegen die Entstehung der Machtkörper überhaupt. Sonst besitzt sie keine Chance, mit dem Problem fertigzuwerden.“ (S. 20) Wenn die wirtschaftliche Machtstellung also schon vorhanden ist, dann hat sie auch großen Einfluss auf die Politik und wird über den Lobbyismus Regelungen gegen den Missbrauch verhindern.

3. Die persönliche Haftung
Eine „funktionierende Wettbewerbsordnung“ hat den „zentralen Grundsatz: Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen.“ (S.21) Vorgänge wie an den Finanzmärkten, wo große Gewinne erzielt und Verluste der Allgemeinheit aufgebürdet wurden, widersprechen also den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft.
Und weiter heißt es:
„Kostensenkungen zulasten der Beschäftigten werden durch eine entsprechende Verfassung von Betrieb und Arbeitsmarkt verhindert, so dass höhere Gewinne nur aus Innovationsleistungen und höherer Produktivität entstehen können. Jeder Eigentümer haftet für die Folgen seiner unternehmerischen Entscheidungen, im schlimmsten Fall mit dem Verlust seines ganzen Vermögens.“ (S.21)

4. Die gemischte Wirtschaft
Nicht jede Wirtschaftstätigkeit lässt sich über den Wettbewerb organisieren. Da wo Monopole, z.B. aus technischen Gründen, wie bei der Eisenbahn, oder aus organisatorischen Gründen, wie bei der Müllabfuhr die allein wirtschaftliche Lösung darstellen, gilt es, Ressourcenverschwendung zu vermeiden und Monopole nicht in private Hände zu geben. (S.22) Dazu gelten für mich alle Güter der täglichen Daseinsvorsoge, wie Energie, Wasser, Verkehr, Bildung, Gesundheit und Innere Sicherheit.

Wer hat diese Grundsätze, die gerade das Soziale in der Marktwirtschaft ausmachen, aufgestellt? Richtig, es ist Sahra Wagenknecht in ihrem 2011 im Eichborn-Verlag erschienenen Buch „Freiheit statt Kapitalismus[3]“.
Nach all der „Rote-Socken-Kampagne“ – haben wir irgendwo so ein eindeutiges Plädoyer für die Soziale Marktwirtschaft gelesen? Dagegen stehen die Worte der Kanzlerin von der „marktkonformen Demokratie“. Das Soziale im Markt und in der Demokratie kommt hier nicht vor. Hat die CDU ihr Grundsatzprogramm geändert?

Im Koalitionsvertrag der grossen Koalition finde ich einen kleinen Absatz zur Sozialen Marktwirtschaft:

“Die Soziale Marktwirtschaft ist ein wesentlicher Teil unserer freiheitlichen, offenen
und solidarischen Gesellschaft. Mit ihr haben wir einen bewährten Kompass, der
Wohlstand und Vollbeschäftigung ermöglicht und zugleich den sozialen Ausgleich
und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land festigt.” Quelle: Koalitionsvertrag[4]

Wohlklingende Worte! Nur finde ich viel zu wenig Akteure der grossen Koalition, die den sozialen Kompass auch benutzen, die vielen Ausnahmen beim Mindestlohn sind nur ein Beispiel dafür!
Immerhin hatte es die “marktkonforme Demokratie” zum Kandidaten für das Unwort des Jahres 2011 geschafft, und es stehe, so die Jury[5]  für eine bedenkliche Entwicklung der Kultur. Es ist mehr als das: Es ist ein Angriff auf die Grundsätze unserer Gesellschaft.
Sahra Wagenknecht dagegen steht in der Tradition des Ahlener Programms von 1947 und der Globalsteuerung der damaligen Großen Koalition. Warum hört nur keiner auf sie? Die Antwort darauf liefert sie selber: Die Interessen und die Macht der großen Konzerne sind im Zuge des Neoliberalismus dominant geworden.

Endnotes:
  1. Ahlener Programm der Bonner Republik: http://www.kas.de/upload/themen/programmatik_der_cdu/programme/1947_Ahlener-Programm.pdf
  2. 2012: 1100 Mrd Exporte und 909 Mrd Importe: http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/ausfuhrbilanz-2012-deutschland-exportiert-so-viel-wie-nie-zuvor-a-882151.html
  3. Freiheit statt Kapitalismus: http://www.buecher.de/shop/gesellschaft--geschichte/freiheit-statt-kapitalismus/wagenknecht-sahra/products_products/detail/prod_id/36813918/
  4. Koalitionsvertrag: https://www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf
  5. Jury: https://de.wikipedia.org/wiki/Unwort_des_Jahres_%28Deutschland%29#%20Weitere_Kandidaten