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Ein neues gegenhegemoniales Projekt

Plädoyer für eine neue soziale Grundnorm

von Michael Hirsch[1]

Ansteckbutton der IG Metall von 1984

Beim Versuch, nach 30 Jahren neoliberaler Hegemonie einen neuen progressiven Abschnitt der Moderne zu eröffnen, steht das fortschrittliche Lager vor zwei Problemen. Zum einen ist da die Verstrickung der Regierungslinken aller Länder in die neoliberale Restrukturierung von Staat und Gesellschaft. Zum anderen scheint nicht einmal annähernd eine fortschrittliche gesellschaftspolitische Agenda in Sicht, mit der sich nicht nur progressive Parteien, Bewegungen und Kultureliten, sondern auch die Massen der Bevölkerung begeistern ließen. Die klassische Formel „Soziale Gerechtigkeit“, die im Wahlkampf 2017 eine größere Rolle spielen wird als mittlerweile in Misskredit gefallenen Formeln wie Modernisierung, Wachstum und Beschäftigung, wird dafür nicht ausreichen. Zu sehr ist sie implizit auf die Wiederherstellung vergangener Sicherheiten und Normalitätsvorstellungen bezogen. Viele spüren, dass es an einem zusammenhängenden linken Narrativ über eine bessere Zukunft fehlt. Denn es geht ja nicht nur darum, möglicherweise einmal wieder Wahlen zu gewinnen. Es geht auch darum, die Macht im Falle des Erfolgs für ein fortschrittliches Gesellschaftsprojekt zu benutzen.

Dazu möchte ich einen Teilvorschlag unterbreiten. Er beruht vor allem auf der Wiederbelebung einer arbeitszeitpolitischen Offensive, und operiert mit fortschrittlichen Begriffen von Zeitsouveränität, radikaler Arbeitszeitverkürzung und der Teilbarkeit aller Arbeitspositionen. Er zielt letztlich auf einen anderen Arbeitsbegriff und ein anderes Gesellschafts- und Lebensmodell ab. Meine These ist, dass eine der Schlüsselfragen der Gesellschaft im Zusammenhang von sozialer Frage und Geschlechterfrage liegt. Mein Vorschlag lautet, dass die Änderung der herrschenden Arbeitszeitnormen, die radikale Verkürzung der geltenden Normalarbeitszeiten perspektivisch auf 32, 30, 28, 25 Stunden, ein wichtiges Element der Lösung dieser Schlüsselfrage sein könnte. Auf der organisationspolitischen Ebene ginge es hier um ein Bündnis von Arbeiter- und Frauenbewegung – die viel zu lange getrennt voneinander, ja gegeneinander operiert haben, und in jüngerer Zeit beide von Kapital und neoliberalem Staat vereinnahmt wurden im Rahmen des aktuellen Gesellschaftsprojekts von ‚Wachstum und Beschäftigung’. Im Rahmen dieses Projekts spielte die Steigerung der weiblichen Erwerbsquote eine herausragende Rolle.

Eine Politik der radikalen Arbeitszeitverkürzung hingegen wäre in ein ganz anderes Gesellschaftsprojekt eingespannt. Sozialpolitisch und kulturell segelt es unter der Flagge „Weniger arbeiten, damit alle arbeiten, und besser leben können“ (André Gorz). Entscheidend an diesem Programm ist die exakte Verknüpfung von sozialpolitischen und gleichstellungspolitischen Forderungen: Es geht nicht nur darum, durch eine Verkürzung der Normalarbeitszeiten eine Umverteilung der Erwerbsarbeit zu erreichen, und damit mehr Menschen in reguläre und auskömmliche Beschäftigung zu bringen (mehr soziale Gerechtigkeit). Es geht auch nicht nur darum, dadurch ein besseres Leben für alle, mit mehr freier Zeit, Zeitsouveränität, Muße und kulturellen Sinnpotentialen zu ermöglichen (mehr Lebensqualität). Es geht auch darum, die unbezahlte Arbeit im Rahmen von Haushalten und Familien in Zukunft gerecht zwischen allen Gesellschaftsmitgliedern, allen Männern und Frauen zu verteilen (mehr Geschlechtergerechtigkeit).

Emanzipatorische Politik beschränkt sich nie auf materielle Umverteilungen von Beteiligungsrechten und Einkommen. Sie greift immer auch in kulturelle Werte, Anerkennungsmuster und gesellschaftliche Rollenverteilungen ein. War die bisherige Gesellschaft ganz wesentlich auf die unterstellte Normalität des Lebens des männlichen Vollzeiterwerbstätigen zugeschnitten, welcher von unbezahlten Aufgaben im Rahmen von Haushalts-, Erziehungs- und Sorgearbeit wesentlich freigestellt ist, so wird die zukünftige Gesellschaft auf der prinzipiellen Zuständigkeit aller Gesellschaftsmitglieder für sowohl Erwerbs- wie Haus- und Familienarbeit gegründet. Für diese neue Etappe der Geschlechtergleichheit gilt das Motto: Die Frauenfrage ist eine Männerfrage.

Geschlechtergerechtigkeit durch Verringerung männlicher Erwerbsbeteiligung

Dies würde bedeuten, dass es in Zukunft nicht mehr um spezielle Ausnahmen und Sonderrechte für Frauen, allgemeiner, für Menschen mit eingeschränkter Verwendbarkeit ihrer Arbeitskraft aufgrund familiärer Betreuungsaufgaben gehen kann. Vielmehr greifen wir die Institution geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung als ganze an: Gender als Strukturprinzip der sozialen Organisation. Sämtliche Arbeitspositionen (auch die qualifizierten!) müssten dann prinzipiell mit dauerhaften Arbeitsverpflichtungen in Haushalt und Familie vereinbar, das heißt mit erheblich reduzierten Arbeitszeiten verbunden sein. Geschlechtergleichheit wird es in Zukunft nicht mehr durch die Steigerung der weiblichen Erwerbsbeteiligung geben können, sondern nur noch durch die Verringerung der männlichen.

Es handelt sich bei diesem Reformvorschlag um einen Eingriff nicht nur in die bestehenden (staatlichen wie privatwirtschaftlichen) Tarifnormen, sowie in die staatlichen Sozialversicherungssysteme (welche heute noch diejenigen, die nicht Vollzeit arbeiten, zur Altersarmut verdammen). Es handelt sich auch um einen Eingriff in die symbolische Ordnung der Gesellschaft: in die Normalitätskonstruktionen des Lebens. Anders gesagt, es handelt sich um eine folgenschwere Rekonfiguration des Normalen. Es ist dies die Eigenart sozialer Normen in ihrer nicht nur allgemeinen symbolischen Bedeutung, sondern auch in ihrer Gewalt der zeitlichen Strukturierung des Lebens: dass sie letztlich über die konkreten Formen der Organisation des Alltags entscheiden, und damit zugleich über soziale Rollen- und Anerkennungsmuster. Die Selbstverständlichkeit, mit der unsere Gesellschaft aller Aufklärung und allen Lippenbekenntnissen zum Trotz den Begriff Arbeit immer noch primär mit bezahlter Erwerbsarbeit verbindet, deutet darauf hin. Das emanzipatorische Projekt, das hier skizziert wird, visiert insofern zugleich eine umfassende Restrukturierung des Alltags und eine Umwertung aller Werte. Im Rahmen dieses Programms verlieren auch die traditionell als „weiblich“ konnotierten Arbeiten den inferioren, der Reproduktion der Arbeitskraft bloß dienenden Charakter.

Eine neue soziale Grundnorm

Mit der Forderung einer radikalen Verkürzung der Normalarbeitszeit richten wir eine neue soziale Grundnorm auf. Sie strahlt ebensosehr in die tariflichen Auseinandersetzungen der Gewerkschaften ab (in der Privatwirtschaft ebenso wie im Öffentlichen Dienst), wie in die konkreten Lebensformen aller Einzelnen. Die durch solche Arbeitszeitreduktionen gewonnene freie Zeit stünde dann allen, Männern wie Frauen, zur Verfügung, um ihre Lebensverhältnisse frei zu gestalten und die in ihrem Rahmen anfallenden Arbeiten fair aufzuteilen. Die Lohnarbeit würde dann ihre kulturelle Hegemonie verlieren, ihren kulturell herausragenden Stellenwert – eine Hypothese, vor welcher der gegenwärtig dominierende rechte Flügel der Arbeiterbewegung ebenso zurückschreckt wie der liberale, in den Staatsapparaten bislang dominierende Teil der Frauen- und Gleichstellungsbewegung: Beide sind der maskulinen Bedeutungsökonomie zutiefst verhaftet. Die einen, weil es sich um ihr angestammtes Revier handelt; die anderen, weil sie davon träumen, in dieses Revier einzubrechen. Insofern ist es eine der Schlüsselfragen progressiver linker Politik, ob die fortschrittlichen Teile der Arbeiter- und Frauenbewegung wieder an Stärke gewinnen, und sich im Namen eines gemeinsamen Emanzipationsprojekts miteinander verbünden können. Aus meiner Sicht läge hier der Schwerpunkt einer neuen linken Erzählung.

Eine emanzipatorische Rekonfiguration des Normalen zielt auf eine radikale Reorganisation des Alltags ab. Sie bricht mit der maskulinen Bedeutungsökonomie und ihrem  Glauben an den symbolischen Vorrang der Lohnarbeit vor anderen sozialen Tätigkeiten. Sie zielt auf ein ganz anderes Leben ab; eines, das nicht mehr den Erfordernissen des Arbeitsmarktes und der Reproduktion der Arbeitskraft auf immer höheren Stufen unterworfen wäre. Sie bricht damit aber auch mit dem industriegesellschaftlichen Dual von Lohnarbeit und Familie. Es wäre nur die Hälfte der Emanzipation, wenn die durch allgemeine Arbeitszeitverkürzung gewonnene freie Zeit mehr oder weniger komplett für Haushalt und Familie verausgabt werden müsste. Die Erkämpfung neuer, emanzipierter Rollenmodelle in Geschlechter- und Paarbeziehungen steht immer in der Gefahr, einer spießigen Ideologie der Familie als nützlicher sozialer, demografischer und moralischer Funktion der Gesellschaft zum Opfer zu fallen. Die andere Hälfte der Befreiung ist daher die Befreiung des Lebens insgesamt aus seiner der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion dienenden Rolle. Es geht also nicht nur darum, dass soziale Gleichheit und Geschlechtergleichheit verwirklicht werden. Sondern es geht darum, dass wir alle in die Lage kommen, ein anderes, freies Leben zu führen.


Dieser Beitrag ist zuerst veröffentlicht worden in der April-Ausgabe des “prager frühling” [1].

Dr. phil. habil. Michael Hirsch (* 1966), Philosoph und Politikwissenschaftler, Privatdozent für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen. Er lebt als freier Autor und Dozent im Bereich politische Bildung in München.

Sein 2013 erschienenes Manifest “Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen!” haben wir hier bereits vorgestellt[2]. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher „Symbolische Gewalt. Politik, Macht und Staat bei Pierre Bourdieu” (2017, herausgegeben zusammen mit R. Voigt) und „Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit” (2016).

Bildquelle: Wikipedia [2] |CC BY-SA 3.0 [3]

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Endnotes:
  1. Michael Hirsch: http://www.michael-hirsch-archiv.de/
  2. hier bereits vorgestellt: http://nachdenken-in-muenchen.de/?p=1645
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