Bin ich eine Fluchtursache?

Foto: mightymightymatze

Von Judith Amler

Als Bürger*innen einer der reichsten Volkswirtschaften der Erde, aber auch einfach als Menschen mit Herz und Verstand, haben wir Verantwortung: Wir haben zuallererst die heute ganz konkret gefragte Verantwortung, Flüchtlingen, die bei uns Schutz vor Krieg, vor Verfolgung und vor Elend suchen, zu helfen und sie wo es geht zu unterstützen. Da können wir als Bürger*innen ganz viel tun.1 Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht, das sowohl in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung als auch in unserem Grundgesetz verankert ist – das Gebot der Nächstenliebe trifft jeden von uns persönlich!

Wir haben aber auch die Verantwortung für Fluchtursachen: Die Bundesregierung und die EU predigen spätestens seit zweien der schlimmsten Flüchtlingskatastrophen, bei denen im April 2015 binnen zweier Wochen viele hundert Men­schen im Mittelmeer ertrunken sind, dass wir die Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpfen müssen. Und was machen diese Institutionen? Sie versenken Boote, auf de­nen Menschen flüchten könnten, und sie machen die Grenzen der Festung Europas dicht. Dient dies etwa der Bekämpfung der eigentlichen Fluchtursachen?

Zu den letzteren hier einige Ausschnitte:

  • Mitte August 2015 schrieb Jakob Augstein im SPIEGEL, dass „die Rüstungsexporte […] in der ersten Jahreshälfte [2015] bereits annähernd den Gesamtwert des Vorjahres erreicht [haben], Spürpanzer nach Kuwait, Militärfahrzeuge nach Algerien, noch ein U-Boot für Israel – geht alles. Außerdem in der Kundenkartei: Ägypten, Syrien, Katar, Oman, Saudi-Arabien.“2 Ja, Syrien. „Kaum ein Kriegs- oder Krisengebiet ohne deutsche Ausrüstung“, stellt Augstein fest.
  • „Es kommt nicht darauf an, den Menschen der sogenannten Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu stehlen“, schreibt der Soziologe Jean Ziegler in seinem Buch „Das Imperium der Schande“3. Klaus Töpfer, unserer früherer Umweltminister, kritisiert seit mehr als einem Jahrzehnt die „ökologische Aggression“4 gegen die Ärmsten der Armen dieser Welt; das Rote Kreuz ging schon 2007 davon aus, dass zum Ende des Jahrzehnts, also 2010, 50 Millionen Umweltflüchtlinge in der Welt unterwegs sein werden5; dies unter anderem, weil die reichen Länder dieser Erde keinen Weg finden, wie wir schonend und nachhaltig mit Ressourcen vor Ort wirtschaften können, ohne die Natur wie wir sie kennen in relativ kurzer Zeit und weltweit unwiederbringlich zu zerstören. „Die Auslandsverschuldung der armen Länder ist zu einem Kontrollinstrument geworden, das gleiche gilt aber nicht für die ökologische Schuld“ der reichen Länder, sagt Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato sì“6.
  • Seit Jahren setzt die EU ihre ehemaligen Kolonien un­ter massiven Druck, endlich sog. Freihandelsabkommen zu unterzeichnen; man droht ihnen, dass sie ansonsten den Zugang zu unseren Märkten verlieren würden. Es geht um sog. EPAs, „Economic Partnership Agreements” (übrigens Vorläufer der momentan mit den USA und Kanada verhandelten Abkommen TTIP und CETA). Welch ein verlogener Begriff: „Partnerschaftsabkommen”! Es geht um nackte materielle Vorteile für die EU-Staaten – Verlierer sind abermals die Entwicklungsländer: EPAs beinhalten, dass die Länder Afrikas, der Karibik und im Pazifik ihre Importzölle für europäische Waren abschaffen. Diese Länder brauchen die Zölle jedoch – sie stellen einen bedeutenden Teil ihres Staatseinkommens dar, mit dem sie z.B. Maßnahmen im Bereich Gesundheitsfürsorge und Bildung finanzieren. Durch die Abkommen soll es den europäischen Konzernen außerdem erleichtert werden, ihre hochsubventionierten Agrarprodukte und Lebensmittelreste in Afrika zu verkaufen. Damit wird die Existenz zahlloser Kleinbäuerinnen und Kleinbauern vernichtet; wir zerstören regionale Wirtschaftszweige und entsenden die Ärmsten der Welt in eine Abhängigkeit von den Waren und der Preispolitik unserer Großkonzerne. Alle 5 Sekunden stirbt ein Kind, fast jedes zweite davon an den Folgen des Hungers, und das, obwohl die Landwirtschaft der Welt auf ihrem heutigen Niveau ohne Weiteres 12 Milliarden Menschen ernähren könnte.7

Und gleichzeitig weigert sich die Europäische Union, die katastrophalen Auswirkungen der von ihr erzwungenen Freihandelsabkommen auf die einheimische Wirtschaft der Drittweltländer zu kompensieren oder wenigstens abzumildern!

Das alles (und wohlgemerkt handelt es sich hierbei nur um Ausschnitte zur europäischen und deutschen Handelspolitik), das alles also sollen wir als eine Bekämpfung von Fluchtursachen verstehen? Es geht nicht: Diese Art von Handelspolitik beseitigt keine Fluchtursachen, sie ist wesentlicher Teil der Ursachen! Wir müssen uns damit befassen, warum Menschen flüchten müssen. Denn keiner geht gerne von daheim weg, ohne klare Perspektive und mit der sicheren Aussicht auf einen gefährlichen Weg, der die Flüchtenden in Tausenden von Fällen das Leben kostet.

Zur Wahrheit gehört, dass die von uns mehrheitlich gewählten Regierungsparteien in der EU, in Deutschland die Parteien der Großen Koalition, eine Politik mittragen, die Menschen in vielen Ländern in so große Verzweiflung stürzt, dass sie lieber ihr Leben auf der Flucht riskieren, als daheim überhaupt keine Perspektive mehr zu haben. Letztlich haben wir, nicht nur vor diesem Hintergrund, auch alle die Verantwortung, überall klar zu sagen, dass das Menschenrecht auf Asyl nicht – auch nicht nur ansatzweise – in Frage gestellt werden darf.

Seien wir keine „besorgten“ Bürger*innen. Entscheiden wir uns lieber dafür, informierte Bürger*innen zu sein – und vor allem: Bürger*innen mit Herz! Wir alle können uns direkt in der Hilfe für Flüchtlinge engagieren, wir alle können uns in NGOs, politisch, gesellschaftlich und sozial für eine Bekämpfung von Fluchtursachen engagieren. Auch hierbei gilt unser eindringlicher Appell: Sagen wir, so wie es München schon wiederholt getan hat, ganz laut und immer wieder: NEIN zu Rassismus, NEIN zu Herzlosigkeit und JA zu einer Verantwortung aus Nächstenliebe!

1 Informationen dazu finden sich beispielsweise unter http://ichhelfe.jetzt
2 Hier und im Folgenden Jakob Augstein: „Gewissenlos“, SPIEGEL Nr. 34 / 14.08.2015, S. 31.
3 Jean Ziegler: „Das Imperium der Schande“ (2005), C. Bertelsmann Verlag, München.
4 Zitiert nach Annette Groth/Theo Kneifel: „Europa plündert Afrika. Der EU-Freihandel und die EPAs – AttacBasisTexte 24“ (2007), VSA-Verlag.
5 Zitiert nach ebd.
6 Papst Franziskus: „Laudato sì“. Über die Sorge für das gemeinsame Haus“ (2015), u.A. beim kbw bibelwerk.
7 Siehe „We feed the World – Essen global”. Ein Film von Erwin Wagenhofer (2005).

Judith Amler ist aktiv bei Attac München. Der Beitrag ist dort zuerst als Faltblatt erschienen. Die Veröffentlichung hier geschieht mit Zustimmung der Autorin.

Attac ist ein globalisierungskritisches Netzwerk, das sich weltweit für ein Ende der neoliberalen Agenda einsetzt, in der Konzerninteressen über die Bedürfnisse von Mensch und Natur gestellt werden. Als globales Netzwerk hat Attac nicht nur Mit­glieder in Deutschland und Europa, sondern z.B. auch in Ländern Lateinamerikas und Afrikas. Attac setzt sich ein für eine lebendige Demokratie, die allen Menschen dient, und in diesem Zusammenhang kämpfen Attacies auch entschieden gegen jede Form der Diskriminierung von Minderheiten und vor allem gegen Rassismus!

Bildquelle: mightymightymatze / CC BY-NC 2.0
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